Unauffällig ist es, dieses Haus in Aschaffenburg ganz in der Nähe des Bahnhofs. Doch ist es das Elternhaus des weltbekannten Malers Ernst Ludwig Kirchner, einer der wichtigsten Vertreter des Expressionismus. Schon als kleiner Junge interessierte er sich für alles, was sich bewegte. Vielleicht inspirierten ihn die Züge, die in Sichtweite gegenüber vorbeifuhren. Kirchner erinnerte sich ein Leben lang daran. Noch als 50-Jähriger schrieb er für die Schweizer Zeitschrift „Das Werk“: „Ich bin am Bahnhof geboren. Das Erste, was ich im Leben sah, waren die fahrenden Lokomotiven und Züge. Sie zeichnete ich bereits, als ich drei Jahre alt war. Vielleicht kommt es daher, dass mich besonders die Beobachtung der Bewegung zum Schaffen anregt.“
Im Zweiten Weltkrieg wurde der Bahnhof zerstört, nicht jedoch das Kirchner-Haus. Wie durch ein Wunder hat es den Bombenhagel überlebt. Heute finden in dem Kleinod, das im Besitz der Stadt Aschaffenburg ist, jährlich drei Wechselausstellungen statt. Noch bis zum 19. Januar 2025 ist die Ausstellung „Das Tier in der Kunst des Expressionismus“ zu sehen.
Tiere als individuelle Wesen
Kunsthistorikerin Silvia Wolf-Möhn ist ehrenamtlich im Museum tätig. Sie zeigt den Besuchern Tier-Plastiken von August Gaul, Emy Roeder, Richard Scheibe und Otto Gentil. An den Wänden hängen Tierbilder von Kirchner selbst, Max Liebermann, Thomas Herbst, Max Slevogt und Emanuel Hegenbarth. Letzterer trat in die sogenannte Tiermalklasse unter Heinrich von Zügel an der Münchener Kunstakademie ab 1895/96 ein. Später wurde er selbst Professor der neu eingerichteten Tiermalklasse in Dresden. Auch von ihm ist ein Gemälde in der Ausstellung zu sehen.
Als autonome Wesen oder treue Begleiter des Menschen, als Nutztiere oder wilde Exoten – Tiere werden zum bedeutsamen Motiv bei der Suche nach dem Ursprünglichen in der Kunst. Die Künstlergruppe „Brücke“, mit Kirchner 1905 als Gründungsmitglied, versucht, Kraft, Instinkte und Emotionen der Tiere sichtbar zu machen. Zu sehen ist das in Kirchners Lithografie „Hundekopf“. Kirchner widmet sich hier der detaillierten Ausarbeitung. Er bemüht sich, das individuelle Wesen des Tieres als dem Menschen ergeben sichtbar zu machen. Dagegen versuchen die Kunstschaffenden der Gruppe „Der blaue Reiter“, allen voran Franz Marc, Tiere als dem Menschen ebenbürtige, vielleicht sogar überlegene Wesen darzustellen.
Gegen die Entfremdung von der Natur
„Das Bedürfnis nach Natur, das Streben nach Unverstelltheit und Unverfälschtheit, wie es die Brücke-Künstler in ihrem Programm zum Ausdruck brachten, muss vor dem Hintergrund der Industrialisierung, Verstädterung und der Kunstpolitik des Deutschen Kaiserreichs betrachtet werden“, erklärt Wolf-Möhn, unter anderem auch Vorstandsmitglied im Trägerverein des Museums. Und so befassen sich die Brücke-Künstler noch vor dem Tierbild mit dem Akt, im Atelier aber auch in der freien Natur.
Die Kunstschaffenden des Blauen Reiters setzen der Entfremdung von der Natur eine neue Innerlichkeit entgegen. Franz Marc, neben Wassily Kandinsky ein Gründungsmitglied der Gruppe, fragt sich, wie Tiere wohl die Welt sehen und erklärt diese schließlich zum zentralen Thema seiner Kunst. „August Macke, der für kurze Zeit im Kreis des Blauen Reiters mitwirkte und auf seinen Bildern die Menschen staunend vor der Natur sowie in Empathie gegenüber dem Tier in zoologischen Gärten malte, hatte sogar seine Malutensilien im Restaurant des Kölner Zoos deponiert“, ergänzt die Kunsthistorikerin.
Vertrautheit zwischen Mensch und Katze
Die Kunst des 19. Jahrhunderts begreift das Tier mehr und mehr als Einzelwesen und stellt es in seiner Natürlichkeit dar. Auch im Impressionismus gibt es eine zunehmende Beliebtheit von Tierbildern, vor allem im Bürgertum. Das führt zur Einrichtung von Tiermalklassen an wichtigen deutschen Kunstakademien, wie bereits oben erwähnt. Lehrer wie von Zügel oder Hegenbarth bilden ihre Schüler zu Spezialisten aus, die die Kunst der Tierdarstellung grandios meistern. Zugleich wollen sie aber auch den Wünschen ihrer privaten und öffentlichen Auftraggeber genügen.
In den Werken der Brücke-Künstler sind Tiere niemals nur Staffage, sondern immer auch ernst zu nehmende Kreaturen. Dabei erscheinen sie oft in Einheit mit dem Menschen. Es entstehen dynamische Reit- und Zirkusszenen ebenso wie fast intime Darstellungen des liebevollen Miteinanders von Mensch und Haustier, wie in Kirchners Bild „Liegende Fränzi mit Katze“, wo in ruhiger Vertrautheit das Mädchen und ihre Katze – jeweils nur in ihren Konturen angedeutet – beieinander liegen.
Kirchner bleibt sich treu
Nach Ende des Ersten Weltkrieges wenden sich die ehemaligen Brücke-Künstler verstärkt anderen Themen zu und widmen sich nur noch selten dem Tier. Nur Kirchner, der sich 1918 dauerhaft im schweizerischen Davos niederlässt, befasst sich zeitlebens immer wieder mit dessen Darstellung. Nutztiere, wie Ziegen und Kühe, gehören in der bäuerlich geprägten Umgebung nun zu seinem Alltag. Kirchner schafft wie besessen Gemälde, Aquarelle, Druckgrafiken und Skulpturen, die die Harmonie von Mensch und Tier in den Alpen thematisieren.
Die belgische Malerin Nele van de Velde, einzige weibliche Schülerin Kirchners, hörte den Meister oft sagen: „Nele, die Tiere sind menschlich, und die Menschen so tierisch.“ Eine besondere Rolle in Kirchners Darstellungen gehörten den Katzen. Spätestens in der Schweiz hält der Künstler selbst welche, erst Kater Boby und nach dessen Tod Schacky. Beide wurden in zahlreichen seiner Werke verewigt.
Auch Davos, wo Kirchner bis zu seinem Tod 1938 lebte, hat dem Aschaffenburger Künstler ein prachtvolles Museum gewidmet. „Die Zusammenarbeit und der Austausch mit den Museumsmitarbeitern in der Schweiz ist wunderbar“, lobt Aschaffenburgs Oberbürgermeister Jürgen Herzing.
Informationen: www.tourist-aschaffenburg.de
Sehenswertes: Schloss Johannisburg mit Gemäldegalerie; Römische Villa Pompejanum; Stiftsbasilika und Stiftsmuseum mit Werken von Lucas Cranach sowie das Christian Schad-Museum über einen außergewöhnlichen Künstler der Neuen Sachlichkeit
Essen und Trinken: Restaurant im Park Schönbusch, Kultrestaurant Brauerei Schlappeseppel, Jedermann am Stadttheater
Übernachten: Ibis Styles Hotel, Elisenstrasse 21, 63739 Aschaffenburg (Kaffee und Tee für Hotelgäste ganztägig kostenlos in der Lobby)
Sabine Ludwig
ist deutsche Journalistin und Reiseautorin. Sie hat mehrere Bücher veröffentlicht und war als Kriegsberichterstatterin in Afghanistan, Südsudan, Irak und Mali. In ihrer Freizeit widmet sie sich neben diversen Sportarten ihrem Blog sl4lifestyle.com und ihrem Hund Brad. - Foto: Nicola Mesken