Er gehört zu den berühmtesten Söhnen Aschaffenburg: Ernst Ludwig Kirchner. Der Maler wurde hier in der Nähe des Bahnhofes am 6. Mai 1880 geboren. Das Kirchner Museum in Davos in der Schweiz widmet dem gebürtigen Unterfranken noch bis zum 22. September 2024 die große Retrospektive „Zum Schein Architektur – Der unbekannte Kirchner“. Hier rückt die unentdeckte Seite des studierten Architekten in den Fokus und stellt anhand seiner Entwürfe und Skizzen aus der Studienzeit Kirchners architektonischen Blick heraus.
Auch widmet sich ein Ausstellungsraum der „Konkreten Kunst“, die auch in einem Gemälde Kirchners („Junkerboden“ von 1938) hervortritt, gegenübergestellt und verglichen mit einem Werk von Sophie Taeuber-Arp („Collage“ von 1928). Die gebürtige Davoserin (1889-1943) nahm eine zentrale Stellung im Zürcher Dadaismus und als Pionierin der konstruktiven Kunst ein. Die Ausstellung möchte diese unbekannte Seite des Malers in den Fokus rücken und anhand der Entwürfe und Skizzen seinen architektonischen Blick herausstellen. Ausgewählte Gemälde werden gezeigt, in denen sichtbar wird, wie sehr ihn zeitlebens das Architektenwissen in seinen Kompositionen begleitete.
Kreatives Talent
Kirchner malte bereits seit frühester Kindheit. Eines seiner ersten Bilder widmete sich Szenen aus dem Struwwelpeter. Seine Eltern förderten diese Begabung. Doch später stehen diese einem Studium der Malerei ablehnend gegenüber. „Mein Vater sammelte diese Kinderarbeiten mit großer Liebe, als ich aber später als Jugendlicher ernsthaft daran arbeitete, Künstler zu werden, wendete er sich davon ab. Er wollte um keinen Preis, dass ich Maler werde. Ich bin es trotzdem geworden und habe es nie bereut“, wird Kirchner später zitiert.
In der Hoffnung, ihren Sohn in einem bodenständigen und finanziell gesicherten Beruf zu wissen, versuchten Kirchners Eltern, sein kreatives Talent in gesellschaftlich akzeptierte Bahnen zu lenken. Der Sohn beugte sich dem elterlichen Wunsch und immatrikulierte sich für das Studium der Architektur. „Ging dann nach München, studierte dort wie in Dresden zum Schein Architektur, da meine Eltern gegen die Malerei waren“, resümierte er. Sein Studium schloss er 1905 ab. Als Architekt arbeitete er jedoch nie.
Züge als wiederholendes Motiv
„Kirchner hat schon als kleines Kind Zeichnungen von Zügen angefertigt, weil er direkt in Bahnhofsnähe gewohnt hat. Auch auf späteren Bildern tauchen immer mal wieder Züge auf“, sagt Sarah Keppel vom Kirchner Museum Davos. 1917 kam Kirchner in das Schweizer Städtchen, wo er den Rest seines Lebens verbrachte. Hier auf dem Waldfriedhof Wildboden wurde er 1938 auch begraben. Keppel erklärt die Merkmale Kirchners: „Zum einen gibt es die lebendige Farbigkeit seiner Bilder, zum anderen einen hohen Detailgrad sowie die spielerische Präsenz der menschlichen Figuren.“
Den Besucher fallen die vielen Flachdachbauten in der hochalpinen Stadt auf. Auch diese hat Kirchner in seinen Werken verewigt. „Seit den 1920er Jahren wurde hier dieser Stil des neuen Bauens umgesetzt“, sagt Keppel.
Im Werk „Die Bücke bei Wiesen“ von 1926 sieht man keine Züge. „Hier fokussiert sich der Maler auf die Konstruktion auch als Hommage an die Architekten“, betont sie. „Die Faszination, die von Kirchner ausgeht, muss jeder für sich selbst beantworten. Gerade die Zusammenstellung von konkreter Kunst und Kirchner finde ich sehr spannend“, ergänzt die Kunstvermittlerin.
Gründungsmitglied der „Brücke“
Kennengelernt hatten sie sich an der Hochschule in Dresden. 1905 gründete Kirchner gemeinsam mit seinen Kommilitonen Fritz Bleyl, Erich Heckel und Karl Schmidt-Rotluff die Künstlergemeinschaft „Brücke“. 1906 wird ihr Programm in einem Holzschnitt Kirchners veröffentlicht. Dieser fertigt nun auch die ersten plastischen Arbeiten und zahlreiche Druckgrafiken an. Das Experiment mit Technik und Farbe steht dabei für ihn im Vordergrund. In Berlin lernt er schließlich 1912 seine Lebensgefährtin, die Berliner Nachtclub-Tänzerin Erna Schilling kennen. Im Jahr darauf löst sich die „Brücke“ nach Differenzen über die von Kirchner verfasste Chronik auf.
Zu Beginn des Ersten Weltkrieges meldet sich Kirchner trotz voriger Ängste freiwillig zum Kriegsdienst. Er wird jedoch bald aufgrund seiner schlechten psychischen Verfassung entlassen und für dienstunfähig erklärt. Aufenthalte in verschiedenen Sanatorien in Deutschland und der Schweiz folgen. In Königstein, Taunus wird seine psychische Krise mit einer Maltherapie behandelt. Für ihn ist das ein Segen. Hier entsteht 1916 das Bild „Bahnhof Königstein“. „Zum Teil ist die Perspektive völlig verschoben. Er interessierte sich nicht für die Darstellung der Wirklichkeit, sondern dafür seine Wahrnehmung der Wirklichkeit zu malen“, erklärt Keppel.
Der Weg nach Davos
Seine Suche nach Heilung führt Kirchner 1917 erstmals nach Davos. Bereits ein Jahr später bezieht er das Bauernhaus „In den Lärchen“. 1923 wohnt Erna Schilling, mittlerweile seine Muse, gemeinsam mit ihm im Haus „Auf dem Wildboden“. Heiraten wird er seine Geliebte erst im Jahr 1937. Kirchner fertigt in dieser Zeit skulpturale Möbel und beginnt, das umliegende Alpenpanorama in farbenprächtigen Gemälden festzuhalten. Sein sogenannter Neuer Stil ist geprägt von einer abstrahierten Formensprache, konturierten Farbflächen und leuchtenden Kontrasten.
Der Künstler leidet unter der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland und der Diffamierung seiner als entartet ausgestellten Kunst. Er fürchtet einen Einmarsch der Wehrmacht in seine Wahlheimat Graubünden und beginnt, seine Gemälde zu übermalen und Skulpturen und Druckstöcke zu zerstören. Am 15. Juni 1938 erschießt sich der erneut von Krankheit gezeichnete Künstler unweit seines Hauses. „Die Faszination, die von Kirchner ausgeht, muss jeder für sich selbst beantworten. Mich sprechen seine Bilder sehr an und ich halte ihn für ein Genie“, sagt Keppel.
Kirchners Studienentwürfe
Waldhotel-Chefin Marietta Zürcher hat erst in Davos einen Bezug zu Kirchners Kunst bekommen. Das war 2001. Das Waldhotel als ehemaliges Waldsanatorium für Tuberkulose-Kranke wurde zwischen 2002 und 2006 renoviert. Zürcher bezeichnet es jetzt als gelungenes Licht und Luft-Hotel. Sie betrachtet Kirchners Studienentwürfe zu einem Grandhotel: „Ich empfinde Symmetrie als etwas Schönes. Kirchner bringt es in seinem Gesamtkunstwerk immer wieder zur Geltung.“
Wenn er Architekt geworden wäre, welche Räume hätte er wohl entworfen?“ Hotelkunst, unabhängig davon, von wem die Werke sind, müsse zuerst einmal ihr selbst gefallen. „Ich will nicht nur Übernachtungen anbieten, sondern auch ganzheitliche Erlebnisse.“ Die Frage, ob Kirchner doch noch abstrakt geworden wäre, bleibt offen.
Sabine Ludwig
ist deutsche Journalistin und Reiseautorin. Sie hat mehrere Bücher veröffentlicht und war als Kriegsberichterstatterin in Afghanistan, Südsudan, Irak und Mali. In ihrer Freizeit widmet sie sich neben diversen Sportarten ihrem Blog sl4lifestyle.com und ihrem Hund Brad. - Foto: Nicola Mesken