Lachskrise in Chile

Die Landschaft rund um Puerto Montt, dem selbst ernannten Tor zu Patagonien, erinnert an eine Mischung aus Sauerland und Norwegen. Riesige Waldgebiete, zahllose Hügel und Seen bestimmen Richtung Osten die Region Los Lagos, das chilenische Seengebiet, während die Pazifikküste ein wenig wie die norwegischen Fjordlandschaften anmutet. Nicht von ungefähr dominieren riesige Lachskäfige das Bild vor der Küste. Denn die Bedingungen für die Zucht von Meereslachsen sind hier ähnlich ideal wie in dem skandinavischen Königreich. Mit 600.000 Tonnen im Jahre 2007 schwang sich die chilenische Lachsindustrie zur zweitgrößten weltweit nach Norwegen auf und brachte der eher strukturschwachen Region des Los Lagos Arbeitsplätze und Wohlstand. Über viele Jahre konnte die Lachsindustrie einen Absatzrekord nach dem nächsten verkünden. Doch dann, Ende 2007, wendete sich das Blatt urplötzlich. Das gefährliche ISA Virus verbreitete sich in Windeseile und raffte große Teile des Fischbestandes dahin. Die Produktion sank unter 250.000 Tonnen, fast 80.000 Menschen verloren binnen weniger Monate ihre Arbeitsplätze in der chilenischen Boomregion um Puerto Montt.

„Schuld ist allein die Gier der Lachszüchter, die immer mehr Fische in die Käfige stopften und immer mehr Profit abgreifen wollten“, glaubt Tatiana Held, Mitglied des deutschen Vereins im benachbarten Puerto Varas.

Anders sieht es Jörg Bauer: „Die Norweger haben uns ihr Know-how vermittelt, jetzt haben sie unsere Gewässer mit einem Virus infiziert, damit wir sie nicht vom Markt verdrängen“, fährt der Sohn deutscher Einwanderer schwere Geschütze gegen die Skandinavier auf. Gleichzeitig räumt er aber auch ein, dass die Züchter hier selber viele Fehler gemacht haben: „Von Biosicherheit und Nachhaltigkeit hat in Chile niemand wirklich Ahnung“, kritisiert Bauer den Einsatz von Futtermittel und Chemikalien, um das Wachstum der Lachse zu beschleunigen. Dabei, so der 45jährige, der als Mitglied der deutschen Minderheit im dänischen Appenrade aufwuchs und in Hamburg zum Industriekaufmann ausgebildet wurde, seien die Bedingungen in nahezu jeglicher Hinsicht vergleichbar zu denen in Norwegen.

„Das chilenische Seengebiet bietet für das Laichen und die ersten sieben Monate des kurzen Fischlebens ideale Bedingungen. Danach werden die Lachse in großen Käfigen in den Buchten vor Puerto Montt und im Süden Chiles ausgesetzt“, erläutert Bauer, der seit mittlerweile gut vier Jahrzehnten in Puerto Montt beheimatet ist. Norwegische Experten hatten den Chilenen Anfang der 1980er Jahre alles Wissenswerte über die Lachszucht vermittelt. Mit gigantischem Erfolg. Denn binnen kürzester Zeit entwickelte sich das Lachszuchtprogramm zum wichtigsten Wirtschaftszweig der Region.

„Der Humboldtstrom bringt kaltes Wasser in die Buchten. Das ist schlecht für die Badegäste, aber gut für die Lachs- und Muschelzucht“, ergänzt Jörg Bauer, der seit drei Jahrzehnten eine eigene Fischereiflotte und Fischfabrik unter dem Namen Socia Servi Acuicola besitzt. 35 Festangestellte auf den Schiffen und 120 Mitarbeiter in der Fischfabrik stehen bei dem Deutschstämmigen in Lohn und Brot. Außerdem bietet Bauer einen Taucherservice an, der unter anderem die Lachskäfige vor der Küste repariert, und er betreibt gemeinsam mit seiner Frau Soledad Sangüesa das beliebte Fischrestaurant „Kiel“. Zu den Spezialitäten des Hauses gehören Seeigelzungen, Meeresschneckenauflauf und Curanto, einen Eintopf mit Meeresfrüchten, Fleisch und Kloßvarianten.

Das Speiselokal hatte Bauers Mutter 1978 eröffnet, nachdem die Familie in den Süden Chiles übergesiedelt war, wo Bauers Vater an einer deutschen Schule unterrichtete. Über Jahrzehnte führten die Bauers ein sorgenfreies Leben. Mit seinem Gespür für das Geschäft, hat Jörg Bauer über Jahre scheinbar alles richtig gemacht. Die Fischereiflotte und Fischfabrik wurden immer größer, das Restaurant boomte, das Geschäft mit dem Fisch und mit Muscheln florierte, bis die 2007 einsetzende Lachskrise auch das Familienunternehmen in Mark und Bein erschütterte. Parallel zur Ausbreitung des gefährlichen ISA-Virus musste die gesamte Region – und mit ihr die Familie Bauer – Umsatzeinbußen von bis zu 80 Prozent hinnehmen. Hinzu kam ein massiver Preisverfall.

„2007 konnten für ein Kilo Lachs auf den internationalen Märkten noch 16 US-Dollar erzielt werden, heute sind es gerade einmal sechs Dollar“, bilanziert Jörg Bauer ernüchtert. Die Lagerhäuser seien prall gefüllt, aber niemand kaufe mehr den Lachs aus Chile. Schuld seien auch, so der 45jährige weiter, die anhaltende Euroschwäche und die schlechten Weltwirtschaftslage.

„Schlimm ist, dass alles irgendwie zusammenhängt, denn die Muschelproduktion ist ebenfalls stark in Mitleidenschaft gezogen“, sieht Bauer auch in seinem anderen, lange Zeit lukrativen Geschäftsfeld mehr und mehr seine Felle davonschwimmen. Weniger Lachse würde dazu führen, dass die Muscheln kleiner ausfallen. Denn das benutzte Lachsfutter fördere das Algenwachstum, was wiederum das Muschelwachstum beschleunigen würde. Normalerweise produziert Bauers Unternehmen 120.000 Tonnen Miesmuscheln pro Monat. Derzeit sind es in einem guten Monat wohlwollend 45.000 Tonnen. Mehr findet auf dem Markt keinen Absatz. Aber dies ist nicht das einzige Problem.

„Der Staat kontrolliert die Fischzucht einfach zu wenig“, spart Bauer nicht mit herber Kritik an der chilenischen Regierung. So würden die Lachs-Käfige nach wie vor mit Chemikalien behandelt, die sich irgendwann im Salzwasser ablösen und die Unterwasserwelt nachhaltig belasten. Da würde es auch nichts nützen, dass er auf solche Methoden verzichte. Denn immer größere Teile seine Muschelproduktion muss Bauer vernichten lassen, da die Schalentiere zu stark mit Schadstoffen belastet sind.

„Die Gewässer im Süden Chiles sind heute stark verseucht. Es wird Jahre dauern, bis wir hier wieder vernünftig produzieren können“, ist sich Bauer sicher, dass die Produktion zwar wieder anläuft, aber nie wieder Rekordzahlen wie in 2007 erzielen wird. „Höchstens 50, 60 Prozent davon – alles andere wäre auch ökologisch nicht sinnvoll“, geht Bauer mit seinen Landsleuten hart ins Gericht. Gleichzeitig hofft der geschäftstüchtige Deutsche, dass sich die überfischten Gewässer in naher Zukunft soweit erholen, dass der einstigen Boomregion Chiles zumindest eine solide Überlebensbasis für die überwiegend von der Fisch- und Muschelzucht lebende Bevölkerung bleibt.