Zwergenaufstand im polnischen Breslau

Breslau
Immer im Mittelpunkt – der Marktplatz von Breslau. – Foto Katharina Büttel

Sommer an der Oder in Polens viertgrößter Stadt: barocke Bürgerhäuser, Kirchen, 100 Brücken und über 600 Zwerge werden mittlerweile gern auch von der jüngeren Generation entdeckt.
Kartaszena beugt sich hinunter zum alten Kopfsteinpflaster, schüttelt den Kopf, lächelt. „Sie schießen wie Pilze aus dem Boden. Hier einer in Ketten, dort einer mit einem Fahrrad mit der Bierflasche in der Hand, nicht zu übersehen der Reisende mit dem Köfferchen. Neben den über 630 000 Einwohnern bevölkern kleinste Stadtbewohner, rund 600 bronzene Zwerge, die Bürgersteige und Plätze unserer Stadt“, erzählt die charmante Reisebegleiterin in exzellentem Deutsch – im Hauptberuf Deutschlehrerin, aha daher!

Willkommen in Breslau – mit Herz begrüßt Zwerg Wroclovek Besucher aus aller Welt. – Foto Katharina Büttel

„Diese kleinen Kobolde verzaubern jeden, vor allem unsere Gäste aus nah und fern“. Erfunden hat sie die „Orangene Alternative“, eine Oppositionsbewegung aus Studenten in den frühen 80er Jahren des 20. Jahrhunderts. Ihr Credo: politischer Widerstand durch Kunst und Humor – ein Zwergenaufstand sozusagen. Seitdem sind die Zipfelmützenträger Breslaus Stadtsymbol.

Zwerge als Breslauer Wahrzeichen

Breslau
Auf der Westseite des Marktplatzes wohnten einst die wichtigsten Leute Breslaus. – Foto Katharina Büttel

Über 40 Jahre später ist die Kunst nicht mehr aus der niederschlesischen Stadt wegzudenken – 2016 trug sie stolz den Titel einer Europäischen Kulturhauptstadt, 2018 wurde sie zur besten europäischen Destination gekürt. Motto: Treffen wir uns in Wroclaw!

Im Krieg zerstört, erstrahlt das Rathaus im alten Glanz. – Foto Katharina Büttel

Die Oder durchquert Breslau – ein Zwerg bewacht am Ufer ihren Lauf – vier Nebenflüsse gesellen sich noch dazu; zwölf Inseln und 112 Brücken machen die Metropole zur kleinen Schwester Venedigs. Tausend Jahre auf dem Buckel, eine liebenswürdige alte Dame, die gleichwohl im Konzert mit anderen osteuropäischen Großstädten wie Prag oder Krakau nach erfolgreichem Lifting schwungvoll mithalten kann. Mehr und mehr wird sie auch Jüngeren attraktiv.

Profanbauten am Alstadtmarkt

Lebensfreude pur – Akkordeonspieler auf dem historischen Marktplatz. – Foto Katharina Büttel

Besuchern, die in Scharen von morgens bis abends den Altstadtmarkt (Rynek) umrunden, in kleinen Gruppen sich amüsieren, flanierend die Cafés und Bistros belagern, hoffend, ihren Sommerflirt zu treffen. Hingucker mitten auf dem Platz sind die Tuchhallen und das Rathaus, einer der bedeutendsten gotischen Profanbauten Mitteleuropas mit der astronomischen Uhr aus dem 16. Jahrhundert. Der 66 Meter hohe Rathausturm dient Nachtschwärmern zudem als verlässlicher Kompass. Man kann sagen, der Marktplatz lebt rund um die Uhr!

Denkmal Aleksander Fredro vor Bürgerhäusern auf dem Rynek, dem Marktplatz. – Foto Katharina Büttel

Hier verbindet sich Vergangenheit mit Modernität. Im Mittelalter herrschte in Breslau die polnischen Dynastie der Piasten, es folgten die böhmische und die habsburgische Krone, Mitte des 18. Jahrhunderts brachte Friedrich II. von Preußen mit seinen Schlesischen Kriegen die Stadt an sich. Kaiserin Maria Theresia klagte: „Du hast mir die schönste Perle aus meiner Krone genommen“.

Jarhunderthalle als Welterbe

Die Jahrhunderthalle von Max Berg – eines der wichtigsten Werke der Weltarchitektur des 20. Jahrhunderts. – Foto Katharina Büttel

Das deutsche Erbe ist noch vielerorts im Stadtbild erkennbar: unzählige Bürgerhäuser stammen aus der Gründerzeit und der Moderne. Um Untertreibung ging es 1913 nicht, als nach Plänen von Max Berg die „Jahrhunderthalle“ errichtet wurde. Mit 65 Metern Durchmesser hatte sie die größte Kuppel der Welt und bot schon damals 10.000 Zuschauern Platz – heute gehört der interessante Mehrzweckbau zum Unesco-Weltkulturerbe.

Breslau
Hereinspaziert über die ansehnliche Tumski Brücke zur Dominsel. – Foto Katharina Büttel

Nach vielen Jahren der Pracht und wirtschaftlicher Entwicklung lag die Hanse-Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg vollständig in Ruinen – physisch wie auch seelisch. Dazu kam die Katastrophe der Vertreibung der deutschen Bevölkerung 1945. Heute ist der einstige Glanz größtenteils wieder zurück. Der Rynek und andere historische Gebäude wurden originalgetreu rekonstruiert. Auch die Johannes-Kathedrale auf der Dominsel mit den charakteristischen schlanken Turmspitzen ist wieder ein Publikumsmagnet – zu erreichen über die Brücke Most Tumski, bekannt auch als die Brücke der Verliebten.

Pulsierendes Nachtleben

Kreuzkirche mit Nepomuk, dem „Brückenheiligen“ auf der Dominsel. – Foto Katharina Büttel

Ohnehin spielt sich das Leben in der warmen Jahreszeit den ganzen Tag lang, besonders beliebt in der Dämmerstunde, am Wasser ab: Uferwege, Cafés, Musikfestivals laden dann zu Genuss und Muße ein. Das ist auch die Stunde des Laternenanzünders: mit seiner langen Stange und dem schwarzen, weiten Umhang eilt er durch die Gassen, einen Pulk von fotosüchtigen Touristen mit sich schleppend.

Die Erde zu drehen – vergebliche Schwerstarbeit der Sisyphus-Zwerge. – Foto Katharina Büttel

Trotz der wechselhaften Geschichte – Breslau ist kein bewohntes Museum, im Gegenteil, eine quirlige Großstadt. Cafés öffnen allerorts – und sind schnell angesagt, in den Ortsteilen entstehen Kulturzentren für eine kreative Szene. Großflächige Street Art stopft die letzten Brachen.

Zwischen Fleischergasse und Genuss

Einst Fleischbank, heute erinnern Tierskulpturen an die Arbeit der Bauern. – Foto Katharina Büttel

Breslau entfaltet seinen Charme an vielen Ecken. Zum Beispiel in der mittelalterlichen Fleischergasse mit ihrem buckligen Kopfsteinpflaster. Ziege, Gans, Kaninchen und zwei Schweine erinnern in bronzener Würde an die alten, blutgetränkten Fleischbänke, heute als Gasse mit Galerien beliebt bei Bewohnern und Touristen.

Ein Muss in der Kulinarik sind die Schlesischen Knödeln. – Foto Katharina Büttel

Sowohl für die „Grundlage“ in Form von Knödeln und saftigem Schlesischen Himmelreich als auch für einen Absacker eignet sich auf dem Marktplatz die Brauerei „Spiz“ mit ihren einladenden Gewölbekellern und dem Blick auf die kupfernen Braukessel. Das berühmte Café Blickle in Warschau hat im Greifenhaus aus der Zeit des Manierismus seine Entsprechung. Überhaupt finden sich hier wie auch auf der Shoppingmeile ulica Swidnicka und im trendigen Künstlerviertel Nadodrze zahlreiche Bars und Restaurants mit landestypischer wie internationaler Küche.

Breslau
Immer im Mai wird gefeiert und der „’nackte Mann“ vor der Uni von den Studenten festlich gekleidet. – Foto Katharina Büttel

Rund 150 000 Studenten aus dem In- und Ausland tragen zur lebendigen Atmosphäre der Stadt bei, die im 20. Jahrhundert zehn Nobelpreisträger hervorbrachte, darunter Olga Tokarczuk in Literatur. Und dann sind da ja noch die glänzenden Pflastersteine, die die gesamte 1000-jährige Geschichte Breslaus erzählen. Und die Zwerge auf den Bürgersteigen, an den Hauswänden, denen die Herzen der Einheimischen und Besucher gehören.

Wissenswertes zu Breslau in Kurzform

Treffpunkt der Nachtschwärmer – das Rathaus mit der astronomischen Uhr. – Foto Katharina Büttel

Allgemeine Informationen: Polnisches Fremdenverkehrsamt, Telefon: 030-210092-0; info.de@polen.travel, www.polen.travel

Fremdenverkehrsamt Breslau, Rynek 14, Breslau, Telefon +48713443111, info@itwroclaw.pl

Überall ein Hingucker – Breslaus künstlerische Murals, Wandmalereien. – Foto Katharina Büttel

Anreise: Breslau liegt verkehrsgünstig an der A4, rund 160 Kilometer von der deutschen Grenze entfernt. Die DB bietet von Berlin nach Breslau täglich einen IC-Bus an.

Stadtführerin Kartaszena Sroka ist sehr zu empfehlen. Telefon-Nr. +48516129472

Unterkunft: Es gibt alle Hotel-Kategorien, z.B. nur 3 Minuten vom Rynek entfernt liegt das 4-Sterne-Art Hotel, Tel.: +48661120300; https://m.arthotel.pl

Kirchenmuffel aufgepasst – die protestantische Friedenskirche in Swidnica zeigt außen bescheidenes Fachwerk, aber Pracht im Innern. – Foto Katharina Büttel

Tipp für unterwegs: Etwa 50 Kilometer südwestlich von Breslau erreicht man über die Hauptstraße N35 die berühmte Friedenskirche von Schweidnitz (Swidnica) – von außen protestantisch schlicht, innen prachtvoll bis überwältigend.