Nordengland auf den Spuren der Industriekultur

Nordengland
Nicht nur landschaftlich hat Nordengland einiges zu bieten. – Foto Karsten-Thilo Raab

Für viele ist Nordengland lediglich eine Durchgangsstation auf dem Weg nach Schottland. Graue und triste, von rauchenden Fabrikschornsteinen dominierte Landschaften sind Attribute, die häufig fälschlicherweise mit der Region zwischen York und Newcastle, zwischen Chester und Carlisle verbunden werden. Tatsächlich jedoch besticht der englische Norden durch eine ungeahnte landschaftliche Vielfalt: malerische Castle, hohe Klippen und Dünen zieren weite Teile der Ostküste, grüne Hügel und Täler, Seen und einsame Moore das Hinterland.

Dennoch kann und will Nordengland seine industrielle Vergangenheit nicht verleugnen. Einst Schrittmacher der weltweiten Industrialisierung lassen traditionelle Industriemetropolen heute die Vergangenheit wieder lebendig werden. Museen und Ausstellungen, original wieder aufgebaute Dörfer mit Fabriken, Werften und alten Mienen vermitteln allerorten einen Einblick in das Leben im vergangenen Jahrhundert und veranschaulichen die mitunter krassen Gegensätze zur heutigen Wohl-standsgesellschaft.

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Im Freilichtmusum in Beamish wird die industrielle Vergangenheit lebendig. – Foto Karsten-Thilo Raab

So in Beamish, dem gleichnamigen Freilichtmuseum zwischen der großartigen Universitätsstadt Durham und Newcastle, das 1986 als britisches und 1987 als eu-ropäisches Museum des Jahres ausgezeichnet wurde. Auf dem riesigen Gelände einer stillgelegten Zeche fühlt man sich beim Gang durch die hervorragend erhaltene Bergarbeitersiedlung und einer Führung durch Mienenschächte automatisch in das Leben nebst den Arbeitsbedingungen im 19. und frühen 20. Jahrhundert zurückversetzt.

Liebevoll restaurierte Straßenbahnen und schnaufende Oldtimer rollen über das Kopfsteinpflaster in ein originalgetreu nachgebautes Dorf aus der Zeit um die Jahrhundertwende. Museumsmitarbeiter in zeitgenössischen Kostümen zeigen Handwerkskünste aus jenen Tagen, während Arztpraxen, Läden und ein Schule den ebenso interessanten wie kurzweiligen Ausflug in die Vergangenheit abrunden. Ein historischer Jahrmarkt und das 1820 errichtete Herrenhaus Pockerley Manor lassen den Besuch in Beamish zu einem unvergeßlichen Erlebnis werden.

Herzen von Nostalgikern schlagen in Beamish unweigerlich höher. – Foto Karsten-Thilo Raab

Im nahegelegenen Sunderland steht das National Centre of Glass, das vor zwei Jahren eröffnet wurde. In dem imposanten Bau mit einem begehbaren Glasdach wird die 1300-jährige Geschichte der noch immer florierenden Glasherstellung inte-ressant und mit interaktiven Angeboten für Kinder präsentiert.

Ein besonderer Blickfang ist zweifelsohne auch der „Angel of the North“, der sich unweit von Gateshead an der Kreuzung der A1 und A167 parallel zum Motorway M1 gen Himmel streckt. Die gigantische Skulptur mit einer Höhe von 20 Metern wurde 1998 von Anthony Gormley geschaffen. Der Koloss wurde aus knapp 200 Tonnen Stahl von Hartlepool Steel Fabrications Ltd. in Teeside gefertigt. Die weit geöffneten Flügel mit einer Spannweite von 54 Metern symbolisieren den energischen Aufbruch in das neue Jahrtausend, der vielerorts im Norden des Königreichs sichtbar ist.

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Famose Stahlkunst: der Angel of the North. – Foto Karsten-Thilo Raab

Neben ungeheuren Mengen an Kohle, die im Nordosten Englands über Jahrzehnte gefördert wurden, prägte vor allem auch die Schiffahrtsindustrie das Gesicht der Region über Jahrhunderte. In Hartlepool, wenige Kilometer südöstlich von Beamish, werden im Historic Quay, einer alten Werft, die zum Museum umfunktio-niert wurde, Erinnerungen an die große Zeit des britischen Empires wach. Das Ge-heimnis der einstigen Seemacht, der rauhe Alltag auf den Kriegsschiffen sowie das hektische Treiben in einem Hafen und einer Werft des 18. Jahrhunderts werden in historischen Gebäuden, einem im Trockendock konservierten Dreimaster – der HMS Trincomalee, dem ältesten schwimmfähigen Kriegsschiff der Welt aus dem Jahre 1817 – und in audiovisuellen Shows veranschaulicht.

Entscheidend vorangetrieben wurde die Entwicklung im England im frühen 19. Jahrhundert – und von hieraus in der gesamten Welt – durch zwei Erfindungen, die beide weltweit zu Schrittmachern der Industrialisierung avancieren sollten: die Dampfmaschine und die Eisenbahn. An letztere erinnert ein ungewöhnliches Kunstwerk, die Brick Train, der Backsteinzug, vor den Toren von Darlington. Zwischen Stockton und Darlington rollte nämlich in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts eine dampfbetriebene Lokomotive. Der Transport von Kohle wurde damit billi-ger, schneller und effizienter. Zudem wurden erstmals auch Personen befördert.

Ein besonderer Blickfang ist der Zug aus Ziegelsteinen vor den Toren von Darlington.

Damit eröffneten sich auch für die baumwollverarbeitende Industrie ganz neue Perspektiven. In Leeds beispielsweise entstanden riesige Fabriken, darunter mit Armley Mills die einst größte Textilfabrik der Welt. Dort wo früher Baumwolle gesponnen und Kleider genäht wurden, befindet sich heute ein erstklassiges Industriemuseum. Ungeschminkt dokumentiert Armley Mills den Wandel von der manuellen Verarbeitung der Rohwolle bis hin zur zunehmenden Automatisierung dank der dampf- und wasserbetriebenen Webstühle. Aber auch historische Lokomotiven, Druckmaschi-nen und ein Kino aus den 20er Jahren sind hier zu finden.

Nur einen Steinwurf entfernt befindet sich Bradford, das einstmals weltweit größte Zentrum der Textilindustrie. 1801 lebten hier gerade einmal 6.000 Menschen. Fünf Jahrzehnte später verarbeiten 104.000 Einwohner zwei Drittel der gesamten britischen Garnproduktion. Allerdings drohte die Stadt im eigenen Mief und Müll zu ersticken, die Arbeits- und Lebensbedingungen ließen die Lebenserwartungen auf kaum mehr als 30 Jahre steigen.

Durham mit seinem prachtvollen Castle gehört zu den lohnenden Zielen in Nordengland. – Foto Karsten-Thilo Raab

Für den Textilfabrikanten und Parlamentsabgeordneten sowie späteren Bürgermeister von Bradford, Sir Titus Salt, Grund genug, seine Fabrik nebst der Arbeiterunterkünfte ins Grüne zu verlegen. Mitte des 19. Jahrhunderts begann er mit der Realisierung seines Lebenswerkes: Er ließ vier Meilen vor den Toren Bradfords eine Modellsiedlung im neoklassizistischen Stil aus hellen Sandstein zwischen Gärten und Grünflächen errichten und taufte diese in Anlehnung an seinen Namen und die Lage am River Aire „Saltaire“.

Der Standort war ideal. Zum einen konnte der Wasserbedarf für die Produktion mühelos gedeckt werden, zum anderen waren die Transportwege kurz. Bereits 1853 wurde Salts Mill, eine sechsstöckige Textilfabrik in der mehr als 3.000 Beschäftigte an 1.200 Webstühlen arbeiteten, eröffnet. 1868 konnte schließlich die „New Mill“, eine weitere Fabrik auf dem Gelände zwischen dem River Aire und dem Schiffskanal von Leeds nach Liverpool seiner Bestimmung übergeben werden. Titus Salt hatte eine der gigantischsten Textilfabriken der Welt geschaffen. Äußerlich war das monumentale Bauwerk der Kirche Santa Maria Gloriosa in Venedig nachempfunden.

Mit Saltaire schuf Titus Salt einer Mustersiedlung sowie einen der modernsten Industriebetriebe der Welt.

20 weitere Jahre sollten ins Land gehen, ehe das Dorf mit seinen kleinen Cottages, Schulen, einem Krankenhaus, einer Kirche, einem Badehaus, einer Polizeiwache, einem Freizeitzentrum, einer Bücherei, einem Seniorenwohnheim und Geschäften fertiggestellt wurde. Das Gros der Straßen wurde nach Töchtern von Titus Salt benannt. Jede Arbeiterfamilie erhielt ein eigenes kleines Häuschen mit Garten. Die Türbeschläge deuteten für die Besucher schon von außen die Position der Arbeiter an. Die Häuser der Vorarbeiter und leitenden Angestellten verfügten sogar über Türme, von denen aus das ganze Dorf beobachtet und überwacht werden konnte.

Obwohl Titus Salt selber kein Antialkoholiker war, sorgte er dafür, dass in „seiner Stadt“ kein Pub errichtet wurde. Und dies ist bis zum heutigen Tage in den Mauern des ursprünglichen Dorfes so geblieben. Salts Hauptsorge lag darin begründet, dass der Alkohol der Arbeitskraft seiner Angestellten schaden könnte und Unfälle die Produktion stoppen könnten. Schon zu Lebzeiten war Titus Salt umstritten.

Der Pub-Name ist eine augenzwinkernde Hommage an der Antialkoholiker Titus Salt.  – Foto Karsten-Thilo Raab

Einerseits sorgte er – gemessen an der damaligen Zeit – für erstklassiges Lebensbedingungen, andererseits versuchte der profitgierige Geschäftsmann das Geld in den eigenen Reihen zu halten. Die Familien waren gezwungen in den Geschäften von Saltaire zu kaufen, mussten in der Kantine von Titus Salt Mittagessen, Schulgeld an ihn entrichten und für die Häuser Miete an ihn zahlen.

1876 verstarb Titus Salt im Alter von 73 Jahren. Seine Fußstapfen waren für seine Erben zu groß. Die Krise in der Textilindustrie tat ein Übriges. Die Fabrik schloss schließlich nach mehreren Eigentümerwechseln 1986 endgültig ihre Pforten. Heute befindet sich hier eine Galerie mit Werken des in Bradford geborenen David Hock-ney. Geblieben ist jedoch ein starkes Stück Industriegeschichte, daß in Saltaire auf Schritt und Tritt lebendig wird, zumal noch immer die Sagen und Mythen um Titus Salt nicht enden wollen und jährlich mehr als 750.000 Besucher in ihren Bann ziehen. Weitere Informationen zu Nordengland unter www.visitbritain.com.