Lange Zeit galt für viele der Nordosten Englands lediglich als eine Durchgangsstation auf dem Weg nach Schottland. Graue und triste, von rauchenden Fabrikschornsteinen dominierte Landschaften sind Attribute, die mit der Region um Newcastle-upon-Tyne und dem benachbarten Gateshead verbunden waren. Bis in die 1970er Jahre galt Newcastle-upon-Tyne als die Kohlehauptstadt der britischen Inseln. Der viel zitierte Satz “to carry coal to Newcastle”, etwa vergleichbar mit dem Spruch „Eulen nach Athen zu tragen“, zeugt von der Bedeutung des “schwarzen Golds” für den englischen Nordosten. Als in den 1970er Jahren das große Zechensterben einsetzte, drohten die Stadt und das Umfeld in Arbeitslosigkeit und sozialen Problemen zu ersticken, zumal auch viele Werften entlang des Tyne den Betrieb einstellten. Ein ähnliches Schicksal ereilte in der Folge auch die Stahlwerke in Gateshead und der Region Tyne and Wear.
Wer gedacht hätte, die Stadt Newcastle würde angesichts dieser wirtschaftlichen Katastrophe kapitulieren, sollte sich getäuscht sehen. Stattdessen wurden alle Kräfte mobilisiert und gebündelt. Hinzu kam, das Newcastle-upon-Tyne und Gateshead wie kein Zweiter von der Millennium Commission profitierten und sich ab 1993 über einen warmen Geldregen von rund zwölf Millionen Pfund aus der staatlichen Lotterie freuen durften. Und so haben sich die miteinander verwobenen Städte in den 1990er Jahren vor allem entlang des Tyne-Ufers neu erfunden und sich ein modernes, überaus attraktives Gesicht zugelegt. Die Hafenaktivitäten wurden Richtung Tyne-Mündung verlagert. Reedereien wandelten sich zu stimmungsvollen Restaurants, Speicher zu Kunsthallen, Kontore zu einladenden Kneipen.
Art on the Riverside
Garniert wurde das Ganze mit einer schier unglaublichen Fülle an Kunst im öffentlichen Raum. Überall, wo man geht und steht, begegnet man heute ansprechenden Kunstwerken. Allein im Rahmen des Projektes “Art on the Riverside” entstanden am Ufer des Tyne, aber auch im benachbarten Tyneside und Sunderland nicht weniger als 70 Kunstobjekte, die nicht nur durch ihre Quantität bestechen. Die vielen, vielen Hingucker geben sich mal modern, mal klassisch, mal provozierend, mal nachdenklich.
Markantester Blickfang ist zweifelsohne der Angel of the North. Die Skulptur, 1998 von Anthony Gormley geschaffen, ist 20 Meter hoch und hat eine Flügelspannweite von 54 Metern. Gefertigt wurden die Teile des gigantischen Engels aus rund 200 Tonnen Stahl von der Hartlepool Steel Fabrications Ltd in Teeside.
Hoch oben wacht Earl Grey
Während der Stahlkoloss, der sich zwischen der Autobahn M1 und der A167 auf einem Hügel erhebt, an die industrielle Vergangenheit der Region erinnert, darf sich der historische Stadtkern von Newcastle-upon-Tyne rühmen, die schönste Straße Großbritanniens sein eigen zu nennen. Aushängeschild der Grainger Town ist die von herrlichen georgianischen Häusern gesäumte, mehrfach ausgezeichnete Grey Street. Namenspatron war kein geringerer als Charles Earl Grey (1764-1845). Dem früheren Premierminister wurde am Kopf der Grey Street mit einer 41 Meter hohen Säule auch ein weithin sichtbares Denkmal gesetzt.
Earl Grey, der neben Fußballstar Alan Shearer, Musikikone Sting und Komiker Rowan Atkinson alias Mr. Bean, wohl bekannteste Sohn der Region, war übrigens auch Namensgeber des gleichnamigen Tees. Bei einem China-Aufenthalt soll sein Leibarzt einem angeschossenen Mandarin in einer Notoperation das Leben gerettet haben. Zum Dank übergab der Gerettete ihm eine Kiste mit einer Mischung aus Teeblättern. Wieder daheim, beauftragte Earl Grey den renommierten Londoner Teehändler Twinning’s die Zutaten zu analysieren und als neue Teemischung zu verkaufen.
Historische Festungsanlage
Doch zurück zu Newcastle-upon-Tyne: Die “neue Burg” oberhalb des River Tyne gab der Stadt ihren Namen. Heute sind von dem einst stolzen Kastell lediglich noch zwei Teile, die durch eine Eisenbahnbrücke von einander getrennt sind, erhalten. Das Castle Keep, ein trutziger Wehrturm mit drei Meter dicken Wänden, ist der besterhaltene Teil der Festung, die im Jahre 1080 von Robert Curthose, dem ältesten Sohn von Wilhelm dem Eroberer, an der Stelle des ehemaligen römischen Forts Pons Aelius errichtet wurde. Gut erhalten geblieben ist auch das Black Gate, das ehemalige Burgtor. Vom Castle führen genau 100 Stufen im Zickzack hinunter ans Ufer des Tyne.
Der Fluss spielte von jeher eine besondere Rolle in der Geschichte und im täglichen Leben der größten Stadt Nordenglands. Die Römer errichteten hier neben der gleichnamigen Siedlung mit der Pons Aelius eine erste Brücke. 1876 entstand die noch heute in Betrieb befindliche Swing Bridge nach Plänen von William G. Armstrong. Die parallel dazu verlaufende High Level Bridge ist das geistige Kind von Robert Stephenson und wurde 1849 von Queen Viktoria feierlich ihrer Bestimmung übergeben. Sie war die weltweit erste Brücke, auf der Schienen und eine Straße übereinander verliefen.
Brückenschläge der Superlative
Auch für einen weiteren Superlativ zeichnen sich die Brückenbauer verantwortlich: Mit einer Länge von 800 Metern avancierte die Tyne Bridge nach ihrer Fertigstellung im Jahre 1928 zur größten Brücke der Welt, bis ihr die berühmte Harbour Bridge in Sydney vier Jahre später den Rang ablief.
Am 17. September 2001 gelang dann ein neuerlicher, spektakulärer Brückenschlag: Die Millennium Bridge, die weltweit erste Kippbrücke, wurde als Fußgängerverbindung zwischen den neu gestalteten Uferzonen von Gateshead und Newcastle-upon-Tyne ihrer Bestimmung übergeben. Das architektonische Meisterwerk mit seinem geschwungenen Gang über den Tyne kann innerhalb von vier Minuten so gekippt werden, dass selbst riesige Schiffe mühelos unter ihr hindurch gleiten können.
Klangvoller Stahlkoloss
Ein weiteres architektonischen Highlights endlang der Uferzone ist fraglos das grandiose Sage. Die für stolze 70 Millionen britische Pfund von Stararchitekt Lord Norman Foster geschaffene Konzerthalle beeindruckt durch eine ungewöhnliche Stahl- und Glaskonstruktion, die auf den ersten Blick an einen gigantischen silbernen Wurm erinnert. Auch in punkto Akustik genügen die beiden Konzertsäle, von denen der größere Saal 2.500 Besuchern Platz bietet, höchsten Ansprüchen. Eine öffentliche Musikbibliothek, Veranstaltungsräume und ein Tonstudio komplettieren das Angebot.
In einer ehemaligen Kornmühle in unmittelbarer Nachbarschaft zur Millennium Bridge ist das Baltic Centre for Contemporary Art beheimatet. Mit wechselnden Ausstellungen versucht das Museum seit der feierlichen Eröffnung am 13. Juli 2002 bei freiem Eintritt einen Überblick über zeitgenössische Kunst zu präsentieren.
Kunst in der Keksfabrik
In einem viktorianischen Fabrikgebäude östlich des Stadtzentrums ist die Biscuit Factory untergebracht. Dort, wo lange Zeit Kekse produziert wurden, findet Gegenwartskunst heute eine neue Plattform. Das tolle daran: Alle Exponate können wie in einem Kunstkaufhaus bestaunt und erworben werden. Die Preise der Skulpturen und Bilder liegen zwischen 20 und 20.000 britischen Pfund.
Zu den ersten Adressen für Kunstfreunde zählt auch die Laing Art Gallery, die für ihre präraffaelitische Kunst bekannt ist und unter anderem Werke von Holman Hunt und Burne Jones beherbergt.
Übrigens, vieles von dem, was Newcastle-upon-Tyne zu einer der pulsierendsten Metropolen Großbritanniens hat werden lassen, hängt auch mit dem Nachtleben zusammen. Nicht nur in Insiderkreisen gilt die ehemalige Arbeiterstadt längst als die Partyhauptstadt des Vereinigten Königreichs – weit vor London. Weitere Informationen unter www.newcastlegateshead.com.
Karsten-Thilo Raab
berichtet seit mehr als drei Jahrzehnten für eine Vielzahl von Zeitungen und Magazinen über Reiseziele weltweit. Zudem hat er sich einen Namen als Autor von mehr als 120 Reise-, Wander- und Radführern sowie Bildbänden gemacht.