Es wird gelockt, gestoßen und geschubst. „Die hockt da schon seit drei Tagen in ihrer Ecke“, sagt – etwas empört – ein Vogelbeobachter, der sie mit dem Teleobjektiv im Visier hat. Die da, das sind die Küken der Trottellummen und die hocken schon seit Wochen in ihrer Ecke, watscheln vielleicht mal über den Sims und enttäuschen Hoffnungen Abend für Abend. Es ist Mitte Juni und es soll Lummensprung sein – Lummen sind genug da und Zuschauer auch. Aber nix da mit großer Flatter hoch oben auf windumtostem Helgoländer Fels, gesprungen wird nicht. Und falls doch, dann wenn man gerade wegschaut. Oder dann, wenn es dunkel ist. Aber sie tun es zu Tausenden.
Sprung ins Leben
„Das ist der Sprung ins Leben! Interessant zu beobachten. Aber ist es nicht vielleicht ein falscher Ansatz, allein deshalb hierher zu kommen?“, fragt sich Rebecca Störmer. Die Biologin leitet die Helgoländer Station des Vereins Jordsand. „…nur um die Lummen springen zu sehen. Das ist gewiss ein außergewöhnliches Naturschauspiel. Aber am Helgoländer Lummenfelsen brüten und leben viel mehr Vögel – Basstölpel, Eissturmvögel, Tordalke. Es gibt hier so viel zu sehen, die Vielfalt ist groß und einmalig in Deutschland.“
Farbe von dunklem Rost
Der Pfad führt an die Felsen, die See liegt still und gleichmütig in dunklem Grau vierzig Meter tiefer. Lange, ruhige Wellen laufen auf die Steine und der Wind trägt ein sanftes Hintergrundrauschen hinauf. Unterbrochen nur von den klagenden Schreien der Möwen. Die Felsen haben in der Abenddämmerung die Farbe von dunklem Rost. Eine angenehme Kühle weht hinauf, es riecht nach der See, nach würzigem Gras und es riecht – je näher man an die Kante tritt – scharf nach Guano.
Plastikmüll in Nestern verbaut
Der Sandstein der Helgoländer Felsen steht schief in der Nordsee, auf den schmalen Simsen drängen sich tausende um tausende Vögel der hohen See. Die tatsächlichen Stars an diesem Abend (und wohl am Vogelfelsen ohnehin) sind die Basstölpel, sie sitzen auf ihren Nestern, in denen sie auch Plastikmüll verbaut haben. Manche Nester stehen direkt am Klippenrandweg. Es sind hübsche Vögel; mit weißem Federkleid und gelblichem Kopf, wachsamen Augen hinter der schwarzen Maske. Man kann sie gut beobachten, zum Beispiel wie sie ihren Jungen Nahrung in den Schlund würgen, wie sie elegant und schwebend im Wind anfliegen, wie sie sich spreizen und bespielen. Ihnen schaut man gern ein paar Stunden zu.
Lebenslange Treue
Und dann die Lummen; unscheinbarer, unspektakulärer, Vögel für Geduldige, mit Schwarz-Weißem Federkleid, eher plump und groß wie eine Ente. Ab März, April treffen sie von der See wieder auf Helgoland ein und besiedeln die angestammten Brutplätze, in der Regel bleibt eine Lumme ihrem Geburtsort – und meist auch ihrem Partner – treu. Die Lummen hocken dicht gedrängt auf dem Sims – eine Fläche von zehn mal zehn Zentimetern reicht den Vögeln. „Es wird nur ein Ei bebrütet, das auf dem nackten Fels liegt“, erklärt Rebecca Störmer.
Ein riesengroßes Wimmelbild
Manch Trottellummen-Küken watschelt unentschlossen hin und her, vor und zurück, drängt sich aber immer wieder in die sichere Nische. Anstatt zu springen. In den Felsen herrscht ein flatterhaftes Treiben der anderen Vögel, ein Kommen und Fortfliegen. Es ist ein riesengroßes Wimmelbild. Und um darin den Überblick zu behalten, sollte man sich „seine“ Küken ausgucken und im Auge behalten. Ein normales Fernglas reicht dafür völlig aus und natürlich darf man gern durch das Spektiv blicken, das Rebecca Störmer und die Leute von Jordsand deshalb an Tagen wie diesen hier aufbauen. Ein paar wichtige Tipps gibt es dazu.
Sprünge in der Dämmerung
„Die Sprungzeit zieht sich durch den gesamten Juni. Dabei spielen aber auch Witterungsbedingungen eine Rolle: Ist es im Frühjahr beispielsweise während dem Start der Brutphase noch zu kalt oder während der Sprungzeit im Juni an vielen Tagen zu stürmisch, kann es zu Verschiebungen kommen. Grundsätzlich springen die Jungtiere dann in der Dämmerung und der beginnenden Nacht, dadurch sind sie vor ihren Feinden, den Großmöwen, relativ geschützt. Die besten Chancen auf gute Beobachtungen hat man an ruhigen, windstillen Tagen“, sagt Rebecca Störmer.
Gut 3.000 Brutpaare
An einem lauen, späten Frühsommerabend am Lummenfelsen. Es ist gegen 22 Uhr und nun sollte man den Lummenfelsen im Visier behalten: „Man wird in einer Nacht, in der Dutzende Tiere springen, mit Glück ein, zwei Kandidaten selbst sehen können, wie sie sich nach einigen Versuchen an die Felskante vorwagen und aus vierzig Metern Höhe ins Meer springen. Allerdings darf man nicht erwarten, gleichzeitig viele Tiere springen zu sehen – dazu ist es zu dieser Tageszeit zu dunkel und die Tiere sind zu klein“, berichtet Rebecca Störmer. Immerhin sind es eine ganze Menge, im Jahr 2016 waren gute 2800 Brutpaare auf Helgoland, im Jahr zuvor wurden rund 3380 Brutpaare gezählt.
Daunen und Fett als Aufprallschutz
Unten schwappt die See in mächtigen Wogen und darauf sitzen Seevögel; Möwen auf der Suche nach einem schnellen Happen und Lummeneltern auf der Suche nach ihren Jungen. „Sie rufen das Küken solange, bis es springt. Die Eltern und das Küken erkennen sich am Ruf. Durch diese individuelle Stimme können sich die Lummen auf dem Wasser auch wiederfinden“, sagt Rebecca Störmer. Daunen und Fett polstern den Aufprall ab.
Geduldsprobe vor dem Sprung
Es dämmert längst und lange. Wer stundenlang in die Felsen starrt, mag irgendwann alles Mögliche sehen. Aber junge Lummen, die sich ins Meer stürzen … dann endlich doch: Immer wieder wagte sich den Abend über ein Junges vor und nun steht es auf einem Vorsprung; und es fällt, hilflos mit den Flügelchen rudernd, in einem kurzen Bogen hinab. Und dann noch eins, und noch eins. „Sofort nach dem Sprung schwimmt die junge Lumme mit einem Elternvogel in die Überwinterungsgebiete – das kann die Deutsche Bucht sein oder, was häufiger der Fall ist, in die Gewässer vor der norwegischen Küste“, erklärt Rebecca Störmer.
Schlechte Flugeigenschaften
Begnadete Flieger sind sie gewiss nicht, dafür sind sie hervorragend an das Leben auf See angepasst: sie können sehr gut schwimmen und tauchen. Und sie fliegen nur, wenn es absolut notwendig ist. Mit ins Gepäck auf den Posten am Klippenrand gehört neben Proviant und Fernglas gewiss auch die 30seitige Broschüre von Jörg-Thomas Baumgarten „Die Brutvögel am Helgoländer Lummenfels“ – man kann es in der Station des Vereins Jordsand, unten an den Hummerbuden, erwerben. Darin steht auch, dass, verglichen mit anderen Vögeln, Lummen die schlechtesten körperlichen Voraussetzungen zum Fliegen wie zum Beispiel Flügelfläche im Verhältnis zum Körpergewicht haben – sie können es gerade eben so.
Menschliche Rettungskräfte
Rebecca Störmer ist längst unten am Fuß der Felsen und sammelt mit ihren Kollegen diejenigen ein, die es nicht bis ins Wasser geschafft haben, und übergeben sie ihren Eltern. „…das ist an manchen Abenden wie Akkord, das sind dann schon mal dutzende Tiere, die wir bei der Gelegenheit auch beringen.“ Himmel und Erde haben inzwischen die dasselbe Dunkelblau angenommen, unterbrochen von einem schmalen Streifen milchigem Orange der Sonne. Es ist Mittsommer und eine eigentümliche, seltsame Stimmung liegt über dem Meer. Die Lange Anna steht am Vorabend eines Orkans scharf wie ein Scherenschnitt vor der Nordsee. Auf der die jungen Lummen längst schon unterwegs sind.
Tipp: Bis zum 31. August bietet der Verein Jordsand Führungen am Lummenfelsen an. Diese finden täglich um 17 Uhr statt. Karten kosten für Erwachsene 8 Euro, für Kinder 5 Euro. Karten können in der Hummerbude von Jordsand erworben werden. Weitere Informationen unter www.jordsand.de und unter www.helgoland.de.
Mortimer
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