Abgeschnittene Ohren am Offa’s Dyke

Offa’s Dyke
Mehrmals wird bei einer Wanderung entlang des Offa’s Dyke die Grenze zwischen Wales und England überschritten. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Den beiden Wanderern fehlt offensichtlich nichts. Im Gegenteil, sie grüßen betont fröhlich. Trotzdem geht der Blick ihnen noch einmal nach. Vielleicht ist es Zufall, vielleicht hatten sie auch nur Glück. Oder das Ganze ist nur ein Ammenmärchen. Eines, das einem einen Schauer über den Rücken jagen kann. So oder so erzählt man sich gerne ein Stück aus dem Horrorkabinett längst vergangener Tage: „Wenn ein Waliser zu Zeiten von König Offa die Grenze überschritt, wurden ihm die Ohren abgeschnitten“, heißt es lapidar.

Offa’s Dyke
Der Offa’s Dyke begeistert durch weitläufige Landschaft abseits von größeren Städten. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Heute geht es entlang Offa’s Dyke Path glücklicherweise komplett friedlich und gewaltfrei zu. Der 285 Kilometer lange Fernwanderweg, der nicht von ungefähr zu den schönsten in Großbritannien zählt, verläuft von Chepstow im Süden bis nach Prestatyn im Norden von Wales. Über viele Jahrhunderte markierte der nach König Offa benannte Wall die Grenze zwischen England und Wales – und tut es in einigen Teilen noch heute.

Zwangsarbeit in Königs Namen

Wanderer am Hergest Ridge. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Dabei erweist sich der Offa’s Dyke quasi als die Frühform des kollektiven Engagements, als ein Stück gelebter Gemeinschaftsgeist: König Offa, der zwischen 757 und 796 das Reich Mercia (entspricht etwa den heutigen englischen Grafschaften Kent, Sussex, Wessex und East Anglia) regierte, verlangte nämlich von allen männlichen Untertanen, dass sie ein etwa anderthalb Meter langes Stück des Grabens aushoben und auf einen entsprechenden Länge den Wall aufschütteten.

Offa's Dyke
Eine historische Wegmarkierung am Hergest Ridge. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Und das mächtige Bollwerk nahm in einigen Teilen beachtliche Gestalt an. Bis zu acht Meter hoch soll der Grenzwall hier und da gewesen sein. Heute ist von all dem nicht mehr viel zu sehen. Zwischen Knighton und dem Marktstädtchen Montgomery wartet das wohl besterhalte Stück des Dykes darauf, entdeckt zu werden. Fern ab der Straße findet sich zwischen dem Spring Hill und dem Llanfair Hill ein gut vier Kilometer langer Bereich, der jährlich von Tausenden von Wanderern erlaufen und fraglos auch mit der Kamera auf Zelluloid gebannt oder digital eingefangen wird.

Das Bücherdorf im Nationalpark

Offa's Dyke
Das Bücherdorf Hay-on-Wye ist ein besonderes Kleinod. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Wer nicht den ganzen Weg ablaufen möchte oder kann, sollte sich auf keinen Fall den Abschnitt von Hay-on-Wye nach Welshpool entgehen lassen. In der Tat erweist sich das Bücherdorf als ebenso interessante wie belustigende Einstimmung auf den langen Marsch entlang des Offa’s Dyke. Die 1.300-Seelen-Gemeinde am nordöstlichen Rand des Brecon Beacon Nationalparks steht ganz im Zeichen gebrauchter Schmöker. 1977 ernannte der exzentrische Buchhändler Richard Booth die Kleinstadt zum unabhängigen Königreich. Gleichzeitig kürte er sich selber zum König von Hay-on-Wye, ernannte sein Pferd zum Premierminister und gab eine eigene, essbare Währung aus Reispapier heraus.

Offa's Dyke
Im Honesty Shop in Hay-on-Wye ist bezahlen Vertrauenssache. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Was zunächst wie ein gelungener Aprilscherz anmutete, entpuppte sich als genialer Marketing-Schachzug. Mit heute rund drei Dutzend Antiquariaten avanciert Hay-on-Wye, das in zehn Gehminuten bequem durchlaufen werden kann, zur international bekannten „Stadt der Bücher“. Mehr als eine Million Wälzer wandern jährlich über den Ladentisch oder werden im Honesty Bookshop erworben. Hier hinter verbirgt sich ein Kuriosum. Denn im Hof des normannischen Castles werden unter freiem Himmel Bücher auf Vertrauensbasis zum Kauf angeboten. Die Kunden können sich hier selbst in den Regalen bedienen und das Geld einfach in eine Art Sammelbüchse werfen.

Verlockende Bücherschnäppchen

In Hay-on-Wye findet sich so manches Schnäppchen für Leseratten. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Einziger Hasenfuß: So attraktiv das Angebot auch sein mag, der geneigte Wanderer hält sich in der Regel vornehm zurück, schließlich erleichtert ein Rucksack voller Bücher die Tagestour nicht unbedingt. Zumal es entlang des 21 Kilometer langen Weges nach Kington einige steile Passagen zu bewältigen gilt.

Der gesamte Weg entlang des einstigen Grenzwalls ist klar markiert und ausgeschildert. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Dafür wartet in Newchurch eine willkommene Überraschung: Vor der St. Mary’s Church sticht dem durstigen Wanderer eine großes Schild mit dem Wort „Drinks“ ins Auge. Erhältlich sind die Getränke kostenlos in der Kirche. Hier können sich die Wandersleute mit dem bereit gestellten Wasserkocher einen frischen Tee oder Kaffee zu bereiten und an Keksen laben. Als Dankeschön hofft die Gemeinde auf eine kleine Spende.

Die Wanderroute führt sowohl über Stock und Stein als auch über ruhige Nebenstraßen. – Foto: Karsten-Thilo Raab

So gestärkt geht es den Hergest Ridge hinauf. Sir Arthur Conan Doyle, Schöpfer der Sherlock Holmes Geschichten, ließ sich angeblich beim Gang über die 426 Meter hohe Ebene für seine Geschichte der „Hund von Baskerville“ inspirieren. Angst vor den mörderischen Gelüsten des berühmten Hundes, dessen Abenteuer im Roman ins Dartmoor verlegt wurden, muss allerdings niemand haben.

Tierische Begegnungen am Offa’s Dyke

Offa's Dyke
In einigen Abschnitten, wie hier am Hergest Ridge, laufen Pferde frei herum. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Der einzige Hund, der uns auf diesem Teilstück begegnet, ist schwarz-weiß gefleckt und kaum größer als ein Kaninchen. Als er uns sieht, wirft er sich sofort vor Freude jauchzend auf den Rücken und wartet darauf, gekrault zu werden. Ansonsten tummeln sich auf dem wild-romantischen Plateau neben wilden Pferden nur ungewöhnliche Schafe mit weißem Kopf und schwarzem Fell.

Offa's Dyke
Schattenspiele am herrlich grünen Llanfair Hill. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Kurz nachdem die unsichtbare Grenze nach England erstmals überschritten ist, lädt auf dem Hergest Ridge eine erste Bank zu einer kleinen Verschnaufpause ein. Und dies an einem weiteren historischen Flecken. Denn, wenn ein Engländer hier den Offa’s Dyke überschritt und aufgegriffen wurde, knüpften ihn die Waliser am nächsten Baum auf.

Hwyl i Gymru – Auf Wiedersehen in Wales!

Eine Landmarke: Der Uhrturm in Knighton. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Auch diese Zeiten sind glücklicherweise vorbei. Zudem sind Bäume am Hergest Ridge überaus rar. Auch Gill und Mark Atkinson fürchten sich offensichtlich nicht, obwohl sie Engländer sind. Das Paar aus Manchester, das jährlich zwei Fernwanderwege in Großbritannien absolviert, ist auf dem Weg von Chepstow nach Welshpol.

Eine ganz eigene Grenzerfahrung ist die Wanderung entlang des Offa’s Dyke. – Foto: Karsten-Thilo Raab

„Der Offa’s Dyke Path ist großartig“, schwärmen die beiden vor allem von der landschaftlichen Vielfalt. „Hinter jeder Biegung, hinter jeder Steigung wartet eine neue Überraschung“, zeigen sich die Atkinsons so begeistert, dass sie den Rest des 285 Kilometer langen Fernwanderweges im kommenden Herbst angehen wollen. Obwohl die Beine langsam schwer werden und bis Welshpool noch ein gutes Stück des Weges vor uns liegt, muss ich gestehen, dass der Gedanke überaus reizvoll ist. In diesem Sinne: „Hwyl i Gymru“ – „Auf Wiedersehen in Wales!“ Weitere Informationen unter www.nationaltrail.co.uk.

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Karsten-Thilo Raab

berichtet seit mehr als drei Jahrzehnten für eine Vielzahl von Zeitungen und Magazinen über Reiseziele weltweit. Zudem hat er sich einen Namen als Autor von mehr als 120 Reise-, Wander- und Radführern sowie Bildbänden gemacht.