Im Einklang mit der Natur im Tessin

Tessin
Zu den Karftorten im Tessin gehört das Felsplateau bei Arcegno. – Foto Karsten-Thilo Raab

Auf dem kahlen Felsplateau bei Arcegno im Tessin beugen sich ein paar Ginster-Büsche und die Zweige von Krüppelkiefern sanft im kontinuierlich wehenden Wind. Der Blick fällt auf Ascona und den in Dunst getauchten Lago Maggiore sowie die dahinter liegende Bergkette. Aus den Kopfhörern erklingt Entspannungsmusik. Ein halbes Dutzend Personen bewegt sich barfuß ganz individuell zum Sound der Musik. Einige geraten nahezu in Ekstase, andere lassen sich allenfalls zu einem dezenten Hüftwackeln hinreißen. Alex Dawson kniet auf einer pinkfarbenen Decke vor einem transportablen Mischpult und zaubert die unterschiedlichen Klänge auf die drahtlosen Kopfhörer der Entspannungsjünger.

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Michela di Savino genießt Tanz auf dem Felsplateau bei Arcegno. – Foto Karsten-Thilo Raab

„Der Kopfhörer hilft, die Außenwelt für einen Moment auszublenden und den Blick nach innen frei zu machen“, beteuert Michela di Savino, dass es ihr gleichermaßen darum geht, spirituelle Erfahrungen mit dem Entdecken der beeindruckenden Natur des Tessins und von Kraftorten mit Hilfe von Praktiken wie Yoga, Sound Healing („Klangbad“), Achtsamkeitsübungen, freiem Tanz und geführter Meditation erlebbar zu machen. Vor diesem Hintergrund bietet die Schweizerin mit italienischen Wurzeln an über 30 Kraftorten mit Wasserfällen, markanten Felsen, Höhlen und Seen inmitten der imposanten Natur des Tessins sogenannte Innerwalks an, zu denen auch Yoga und das Tanzerlebnis auf dem Felsplateau bei Arcegno gehören.

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Alex Dawson sorgt für die Entspannungsmusik unter freiem Himmel. – Foto Karsten-Thilo Raab

„Das Tessin hat eine große Vielfalt an Kraftorten. Es gibt allein über 200 Bergseen. Die Energie ist überall spürbar“, versichert auch Claudio Andretta. Der hagere Wanderführer ist spezialisiert auf Kraftorte im Tessin und macht sich auch als Autor zu diesem Thema nicht nur in der Schweiz einen Namen.

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Auch Meditation ist Teil des Innerwalk Projects im Tessin. – Foto Karsten-Thilo Raab

„Kraftorte sind bereits seit alter Zeiten bekannte, natürliche oder von Menschen geschaffene Orte mit sehr hoher, kosmischer und erdverbundener Energie“, führt der 1975 in Locarno geborene und heute im nahen Maggiatal lebende Guide weiter aus. Gleichzeitig verweist er darauf, dass der Monte Verità in Ascona wohl zu den bekanntesten Plätzen dieser Art gehört. Dies liegt zum einen daran, dass sich in diesem Bereich ein geologischer Bruch befindet, wo vor Jahrtausenden die afrikanische und europäische Kontinentalplatte aufeinander getroffen sind.

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Der Monte Verità war einst Treffpunkt von Künstlern und Menschen mit alternativen Lebensentwürfen. – Foto Karsten-Thilo Raab

Der „Berg der Wahrheit“ war zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein international bekannter Treffpunkt für Künstler, Schriftsteller sowie Anhänger unterschiedlicher alternativer Bewegungen, darunter Utopisten, Anarchisten und Freidenker. Diese waren zumeist auf der Suche nach dem Sinn des Lebens im direkten Kontakt mit der Natur. Um sie herum bildete sich eine Kolonie von Leuten, die gesellschaftliche Regeln zurückwiesen, Vegetarier waren und nackt im Park spazierten und tanzten.

Kenntnisreich fürt Claudio Andretta zu verschiedenen Kraftorten im Tessin. – Foto Karsten-Thilo Raab

Baron von der Heydt erwarb vor dem 2. Weltkrieg den 321 Meter hohen Hügel und ließ dort nach Plänen von Emil Fahrenkamp ein Luxushotel erbauen, das als eines der ersten Bauhaus-Gebäude in der Schweiz gilt. Neben dem Hotelkomplex befinden sich auf dem Monte Verità heute das Museum Casa Anatta sowie eine Teeplantage, die dank des Mikroklimas in dem 70.000 Quadratmeter großen Park besten Bedingungen vorfindet.

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Grandiose Blicke auf den Lago Maggiore eröffnen sich vom Balladrum. – Foto Karsten-Thilo Raab

Vom Monte Verità geht es auf gut ausgebauten Wanderwegen zum „Tal der Stille“, einer faszinierende Naturkathedrale und von dort weiter bis zur Spitze des Felsens Balladrum“mit seinen keltischen Wurzeln.

Durchaus mühsam ist der Aufstieg zum Balladrum. – Foto Karsten-Thilo Raab

„Kraftorte kann ein jeder selbst entdecken. Schon wenn man einen Ort findet, der besser ist als die Bedingungen bei der Arbeit kann dies ein ganz individueller Kraftort sein“, sieht Claudio Andretta nicht nur die wissenschaftliche Annäherung an das Thema. Gleichzeitig beteuert der Schweizer, dass man überall dort, wo man sich wohlfühlt, richtig sei. Augenzwinkernd schiebt er hinterher: „Die böse Schwiegermutter sollte unbedingt an einem guten Platz platziert werden, damit sie sich verbessert.“

Vom Balladrum lässt sich ein Panoramablick über den Süden des Tessins genießen. – Foto Karsten-Thilo Raab

Auf dem bisweilen sehr steilen, von Eichen und Kastanien gesäumten Weg hinauf zum 479 Meter hohen Balladrum fällt der Blick immer wieder auf den malerischen Lago Maggiore. Gesäumt wird die Route auf verschiedenen Ebenen auch von sogenannten Rutschsteinen. Große Felsbrocken, die nicht etwa, wie man vermuten könnte, eiszeitlich geformt sind, sondern von Frauen mit unerfülltem Kinderwunsch geprägt wurden. Bis ins 19. Jahrhundert sollen die Damen auf dem Hosenboden diese Steine immer wieder heruntergerutscht sein, um so, gemäß populärem Glauben, die eigene Fruchtbarkeit positiv zu beeinflussen.

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Kraftorte sind für jeden – wie hier oberhalb des Lago Maggiore – verschieden. – Foto Karsten-Thilo Raab

„Das Ritual wurde in vielen Teilen des Alpenraums praktiziert“, erläutert Claudio Andretta. Ungeklärt sei bis heute, ob die Frauen Säcke untergelegt haben oder auf dem Hosenboden gerutscht sind und ob sie eventuell sogar mit ihrem Partner direkt vor Ort den Liebesakt vollzogen haben. Die ob ihres hohen Eisengehalts teilweise rötlich gefärbten Rutschsteine jedenfalls geben dieses Geheimnis nicht preis.

Der Tanz in freier Natur setzt für einige besondere Energien frei. – Foto Karsten-Thilo Raab

„In längst vergangenen Tagen gab es an Kraftorten Steinkreise wie im englischen Stonehenge. Viele dieser magischen Plätze waren Versammlungs- oder Kultorte“, weiß Claudio Andretta das über den Balladrum dereinst ein alter Pilgerweg verlief. Heute kommen nur wenige hierher. Dabei lohnt der Aufstieg auch für alle, die nicht auf der Suche nach Kraftorten sind. Denn die absolute Stille hier oben und der Blick auf Ascona sowie über den Lago Maggiore bis ins nahe Italien entschädigen für die Mühen des Aufstiegs und setzen positive Energie frei. Und dies unabhängig davon, ob man an die Wirkung von Kraftorten im Tessin oder anderswo glaubt.

Ascona besticht durch eine Reihe markanten Gebäude. – Foto Karsten-Thilo Raab

Informationen: www.ticino.ch/kraftorte; www.ascona-locarno.com

Lage: Das Tessin macht den größten Teil der italienischen Schweiz aus. Es liegt auf der Alpensüdseite und ist weitgehend von Italien umgeben. Von Zürich aus sind es knapp 200 Kilometer bis Locarno bzw. Ascona.

Überaus charmant gibt sich die Uferpromenade von Ascona. – Foto Karsten-Thilo Raab

Anreise: Swiss fliegt von zahlreichen deutschen und österreichischen Flughäfen ab 135 Euro direkt bis Zürich. Von dort geht es in rund anderthalb Stunden bequem mit der Schweizer Bundesbahn bis Locarno.

Innerwalk Project: Telefon 0041-79-1552040, www.innerwalkproject.ch

Der Moving Mountain ist ein Cocktail mit Apfel, Zitrone, Ingwer und Honig, der im Eden Roc serviert wird. – Foto Karsten-Thilo Raab

Claudio Andretta, Telefon 0041-78-8593683, centrocuore@yahoo.com; www.geo-vita.ch

Essen & Trinken: La Curt Bandida, Piazza Giuseppe Motta 35, 6612 Ascona, Telefon 0041-(0)91-7912828, www.lacurtbandida.ch

Das Belvedere in Locarno gehört zu den ersten Adressen im Tessin. – Foto Karsten-Thilo Raab

Restaurant im Hotel Eden Roc, Via Albarelle 16, 6612 Ascona, Telefon 0041-(0)91-7857171, www.edenroc.ch

Übernachten: Hotel Belvedere Locarno, Via ai Monti della Trinità, 6600 Locarno, Schweiz, Telefon 0041-(0)91-7510363, www.belvedere-locarno.com