Fabelhaftes Lüttich des Georges Simenon

Simenon
Lüttich steht ganz im Zeichen seines berühmten Sohnes Georges Simenon. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Da sitzt er scheinbar lässig und entspannt auf einer Parkbank auf dem Place du Commissaire Maigret vor dem Rathaus seiner Geburtsstadt Lüttich. Den charakteristischen Hut trägt er auf dem Kopf; seine kaum weniger markante Pfeife hält er in der linken Hand, den rechten Arm hat er ausgestreckt auf der Rückenlehne des öffentlichen Sitzmöbels ausgebreitet. Die Bronze funkelt ein wenig in der Sonne. Vor allem die Oberschenkel und Hände sind blank gescheuert und zeugen zugleich von der Popularität, die Georges Simenon bis heute erfährt. Denn fast jeder, der das Konterfei des berühmten Schriftstellers auf den Digitalchip seines Smartphones oder seiner Kamera gebannt hat, will den Schöpfer der Kommissar Maigret Abenteuer wenigstens einmal berühren oder sich kurz für ein Selfie neben ihm niederlassen. Wer weiß, vielleicht springt ja etwas von seiner schriftstellerischen Genialität über?

Unabhängig davon hätte die Stadt Liège, wie Lüttich auf Französisch heißt, das Denkmal ihres berühmtesten Sohnes wohl kaum platzieren können. Denn direkt gegenüber fällt der Blick auf das eher unscheinbare Haus mit der Nummer 24 in der Rue Léopold, wo Georges Simenon am 13. Februar 1903 in der 2. Etage in einer, wie er selber beschreibt, „Wohnung ohne Gas und Wasser“ das Licht der Welt erblickte. Seine Mutter Henriette ließ die Geburt allerdings aus Aberglauben auf den 12. Februar vordatieren.

Begegnungen mit Maigret

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Das Simenon-Denkmal am Place du Commissaire Maigret. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Auch das Rathaus selber, im Volksmund „La Violette“ (das Veilchen) genannt, steht in engem Bezug zu Georges Simenon. An der Fassade prangert eine steinerne Gedenktafel für die Helden des Krieges. Unter anderem ist hier ein gewisser „Arnold Maigret“ gelistet. Jener Arnold Maigret war der Fahrer des damaligen Polizeichefs von Lüttich. Dass Simenon den Mann gekannt hat, ist unumstritten. Ob er den Namen seines berühmtesten Romanhelden, der ihn und seine Erben so unendlich reich gemacht hat, tatsächlich in Anlehnung an Arnold Maigret gewählt hat, dürfte aber für immer ein Geheimnis bleiben.

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Das Lütticher Rathaus war Inspirationsquelle für den berühmten Schriftsteller. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Fest steht jedoch, dass der junge Simenon im Alter von gerade einmal 16 Lenzen als angehender Lokalreporter für die Tageszeitung „Gazette de Liége“ jeden Nachmittag zur Polizeizentrale am Place du Marché stiefelte, um sich dort – vermutlich auch von Arnold Maigret – über die neuesten Verbrechen und Straftaten des Tages berichten zu lassen.

Hommage an die Geburtsstadt

Eher unscheinbar wirkt Simenons-Geburtshaus an der Rue Léopold. – Foto: Karsten-Thilo Raab

So oder so scheint der am 4. September 1989 verstorbene Vielschreiber bis heute an nahezu jeder Ecke der 195.000-Seele-Gemeinde am Zusammenfluss von Ourthe und Maas präsent zu sein. Nur einen Steinwurf von seinem Geburtshaus liegt die Pont des Arches. Die Brücke über die Maas stand Pate bei der Namensgebung seines ersten Romans, „Au Pont des Arches“, den er unter dem Pseudonym „Georges Sim“ 1920 veröffentlichte. In seinem Erstlingswerk befasst er sich auf humorvolle Art mit Lütticher Sitten und Gebräuchen.

Zahlreiche prachtvolle Häuser zieren das Lütticher Zentrum. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Ohne Frage war Georges Simenon ein manischer Schreiber, der hineinkroch in die Seelen seiner Protagonisten und der versuchte, all das zwischen zwei Buchdeckeln zum Ausdruck zu bringen, was er ein Stück vom wirklichen Leben nannte. Bekannt war Simenon aber auch aufgrund seiner prahlerischen Vielweiberei – angeblich hatte er mit 10.000 Frauen ein sexuelles Verhältnis. Seine vermeintlich berühmteste Liebschaft war Josephine Baker, über die er einmal schrieb, sie besitze „den einzigen Popo, der lacht“.

Lütticher Umzugsmarathon

Die Maas durchzieht Lüttich. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Sein herzkranker Vater starb früh, seine Mutter Henriette war fortan auf seine finanzielle Unterstützung angewiesen. Fast rastlos wechselten die Simenons in den folgenden Jahren mehr als 30 Mal ihre Wohnung, zogen kreuz und quer durch Lüttich um. Vor allem im Stadtteil Outremeuse finden sich daher bis heute zahllose Spuren des jungen Georges. Und doch wird hier kein aufgesetzter „Hier-hat-Simenon-einmal-gewohnt-Kult“ gepflegt. Einzige Ausnahmen bilden die Simenon-Büste am Place du Congrès, eine nach ihm benannte Straße und die moderne Jugendherberge, die ebenfalls den Namen des Autors mit der positiven kriminellen Energie trägt. Ansonsten gemahnt das hier und da schmuddelige Kleine-Leute-Viertel an die übrig gebliebene Kulisse in Simenons Krimiwelt. Ein perfekter Rahmen für dessen Roman-Settings, in denen nicht selten durchschnittliche Menschen durch banale Ereignisse zu Mördern werden.

Saint Pholien war Schauplatz eines vermeintlichen Selbstmords und ist Schauplatz in einem Simenon Roman. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Überhaupt besticht Outremeuse durch ein Wirrwarr an gemütlichen und einladenden Gängen und Passagen, die teilweise wie private Wohnhöfe wirken. Wandkappelen, Nischen mit kleinen Statuen der Jungfrau Maria, zieren die Wohnhäuser aus dem 17. und 18. Jahrhundert. In einem der Hinterhöfe liegt „La Caque“, die Heringstonne, jener winzig kleine Versammlungsort, an dem sich Georges Simenon regelmäßig mit seinen trinkenden und rauchenden Künstlerfreunden traf. Darunter auch der Maler Jean Joseph Kleine, der sich am 2. März 1922 mit einer Schlinge um den Hals an der Türklinke der benachbarten Saint-Pholien-Kirche erhängt haben soll. Simenon, der immer Zweifel am Freitod von Kleine hegte, verarbeitete dieses traurige Ereignis in seinem Roman „Der Erhängte von Saint Pholien“.

Outremeuse als Inspirationsquelle

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In Sichtweite von Saint Pholien findet sich die markante Buchhandlung in der Simenon einen Schwerpunkt bildet. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Beim Gang durch Outremeuse, vorbei an Simenons Wohnhäusern, Schulen und den Kirchen, die er besuchte, wird unweigerlich deutlich, dass Lüttich Simenons Fluch, aber auch der Segen seines Erfolges war. Durchs sein ganzes Werk hindurch sind Landschaften, Persönlichkeiten und ein Ambiente zu finden, das in Teilen noch immer typisch für Lüttich ist. Dazu gehören die Wohnhäuser entlang der Montagne de Bueren, jener 373 Treppenstufen, die hinauf zur Zitadelle führen.

Urige Gassen durchziehen den Stadtteil Outremeuse. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Dazu gehören aber insbesondere auch die schon legendären Flohmärkte in Outremeuse und am Ufer der Maas. Vor allem „La Batte“, der längste Flohmarkt Europas, der immer sonntags stattfindet. Ein gigantischer Trödelmarkt, den Simenon einmal wie folgt beschrieb: „Am frühen Morgen bietet sich in einer blau- und goldfarbigen Symphonie das schönste Spektakel der Welt: Überall, soweit man sehen kann, breitet sich der Markt aus: links der Gemüsemarkt, rechts der Obstmarkt; Tausende Weidenkörbe zeichnen richtige Straßen, Sackgässchen, Kreuzungen; Tausende kurzbeinige Klatschweiber haben die Taschen ihrer dreischichtigen Röcke voller Kleingeld“.

Verschmelzung echter und fiktiver Charakter

Ein ungewöhnliches Haustür-Ensemble in Outremeuse. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Und irgendwie scheint beim Besuch von „La Batte“ die Zeit still zu stehen. Man fühlt sich inmitten der antiken Schätze unweigerlich in das Lüttich Simenons zurückversetzt. Eine Stadt, die Simenon nie losgelassen hat. Von den Bildern, den Geräuschen, den Gerüchen und der Atmosphäre der aufstrebenden Industriestadt Lüttich zehrte er später bei der Schilderung seiner Romanschauplätze. Wenn er in seinen Romanen über Concarneau schrieb, meinte er Lüttich. Und die Rechtsanwälte, Kaufmänner, Witwen, Versicherungsangestellten und anderen Protagonisten, deren Katastrophen in Los Angeles, Amsterdam oder Paris angesiedelt sind, waren alle Lütticher wie Simenon, der am 10. Dezember 1922 am Bahnhof Guillemine allein in den Nachtzug nach Paris stieg und nur wenige Male in seine Geburtsstadt zurückkehrte.

Wissenswertes in Kurzform

Modernes Wahrzeichen hoch über der Maas: Die 3,20 Meter hohe Figurs des Plongeur, des Tauchers. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Informationen: www.visitwallonia.de und www.visitezliege.be/de

Anreise:  Von Köln sowie von Dortmund, Essen, Düsseldorf, Duisburg und Aachen bietet sich die bequeme wie umweltschonende Anreise mit dem Thalys an. Tickets für die einfache Fahrt sind ab 16 Euro erhältlich.

Weite Teile der Lütticher Innenstadt sind aktuell nicht mit dem Auto befahrbar. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Wichtiger Hinweis: Bis mindestens 2024/2025 sind weite Teile der Lütticher Innenstadt wegen eines Großbauprojekts für den Autoverkehr gesperrt. Hier wird auf einer Länge von 16 Kilometern ein neues innerstädtische Trambahnprojekt realisiert, nachdem sich die Stadt Anfang der 1980er Jahre von ihrem Straßenbahnnetz verabschiedet hatte.

Noch mehr Georges Simenon

Simenon
Bis heute begeistern die Bücher von georges Simenon ein internationales Publikum. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Wissenswertes: Georges Simenon gilt als der meist-übersetzte und -gelesene Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Er schrieb mehr als 400 Romane. Bis heute sind weltweit mehr als 450 Millionen Exemplare seiner Bücher verkauft worden. 55 seiner Werke wurden verfilmt. Mit der Figur des Pariser Kommissars Maigret stieg der belgische Vielschreiber schon zu Lebzeiten in den Olymp der Krimiautoren auf. Auch wenn Simenon seiner Geburtsstadt Lüttich bereits in jungen Jahren den Rücken kehrte, lässt er die Erinnerung in Werken wie Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien, Maigret im Gai-Moulin, Zum Roten Esel, Die Verbrechen meiner Freunde, Stammbaum oder Das ungesühnte Verbrechen wieder aufleben.

Simenon
Eine App begelitet den spannenden Rundgang auf den Spuren von Georges Simenon. – Foto: Karsten-Thilo raab

Simenon-Rundgang: Anlässlich seines 120. Geburtstags wurde in Lüttich ein neukonzipierter, digitaler Simenon-Rundgang freigeschaltet. Die kostenfreie, deutschsprachige App „Parcours Simenon“ führt auf einem knapp 3,4 Kilometer langen Rundkurs zu 17 Stationen.

Simenon ins Bild gerückt

Simenon
Im Museum Grand Curtius ist bis August eine Ausstellung mit Fotografien von georges Simenon zu sehen. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Fotoausstellung: Bis zum 27. August 2023 zeigt das Museum Grand Curtius (Féronstrée 136, 4000 Liège, Belgien, Telefon 0032-4- 221 68 17, www.grandcurtius.be) unter dem Titel „Simenon, images du monde en crise“ („Simenon – Bilder einer Welt in der Krise“) eine Sonderausstellung mit Fotografien von Georges Simenon. Die Aufnahmen dokumentieren seine zahlreichen Reisen zwischen 1930 und 1935 durch die ganze Welt und illustrieren universelle Themen wie Frauen, Kinder, Elend, Isolation, Qualen und Randvölker. Mit der Ausstellung wollen die Macher den persönlichen Blick von Simenon auf die damalige Welt zeigen – und dies völlig losgelöst von seiner schriftstellerischen Tätigkeit.

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John Simenon hat entscheidend an den Comic-Adaptationen der Romane seines Vaters mitgewirkt. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Comic-Ausstellung: In der Fonds Patrimoniaux (Ilot St-Georges. Accès via la rue St-Georges (dalle), 4000 Liège, https://lesmuseesdeliege.be) wird bei freiem Eintritt die Ausstellung „Simenon. Du roman dur à la bande dessinée“ gezeigt. Simenons Sohn John hat mit den Szenaristen Jean-Luc Fromental und José-Louis Bocquet einen biografischen Comic über seinen Vater sowie und eine Serie von acht Adaptionen seiner Krimis initiiert. Gezeigt wird eine Auswahl von Originalzeichnungen, Skizzen und Recherchematerial.

Lüttich gant genussvoll

Die Brasserie Toussaint in Outremeuse besticht durch ihren ureigenen Charme. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Essen & Trinken: Brasserie Toussaint, Rue Ernest de Bavière 1, 4000 Liège, Belgien, Telefon 0032-4-349 09 20, www.brasserietoussaint.net. Die Brasserie direkt gegenüber der Kirche Saint Pholien in Outremeuse bietet eine kleine Karte mit wallonischen Spezialitäten wie den Boulets à la liègoise, den deftigen Buletten nach Lütticher Art.

Ein kulinarisches Muss: Die Boulets à la liègoise – Buletten nach Lütticher Art. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Le Restaurant du Vieux Liège, Quai de la Goffe n 41, B-4000 Lüttich, Telefon 0032-(0)4-222 22 46. Das urgemütliche Restaurant am Ufer der Maas gilt als eine der ersten Adressen in Lüttich und bietet klassische belgische Gerichte mit Pfiff.

Sich entspannt betten…

Durchaus eine Empfehlung wert: Das Yust Hotel in Lüttich. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Übernachten: Yust Hotel, Esplanade Simone Veil 2, 4000 Liège, Belgien, Telefon 0032-42 95 57 50, www.yust.com/liege. Übernachtungen in dem modernen Hotel unweit des Bahnhofs Lüttich-Guillemins beginnen bei 58 Euro pro Nacht.

Bier wird im Yust in ungewöhnlichen Gläsern serviert. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Hôtel Hors-Château Liège, Rue Hors Château 62, B-4000 Lüttich, Telefon 0032-(0)4-250 60 68, www.hors-chateau.be. Das charmante Drei-Sterne-Haus bietet in einem denkmalgeschützten historischen Bau im modernen Design Zimmer ab 64 Euro an.


Die Recherchereise wurde von Thalys und Belgien-Tourismus-Wallonie unterstützt.