„I hob Zeit„, heißt es in der Bilderbuchlandschaft des Chiemsee-Alpenlandes. Ob beim Yoga auf dem Wasser, auf der unbewohnten Herreninsel oder auf einem der neuen Themenwege im Alpenhochtal Samerberg – Entschleunigung ist garantiert!
Yoga auf einem Ponton-Boot auf dem „Bayerischen Meer“? Auf Polstersitzen statt auf der Matte? Die Neugier überwiegt die Skepsis! Yogalehrerin Angelika Bischoff begrüßt die kleine Gruppe an Bord des Bootes in Gstadt am Chiemsee. Die warmen Strahlen der Morgensonne glitzern auf der Wasseroberfläche. Um halb acht Uhr am Sonntagmorgen ist es auf dem See noch ruhig. Weder Ausflugsdampfer noch Motorbootfahrer sind um diese Zeit unterwegs, keiner, der störende Wellen verursachen und die Yoga-Session zum Wackeln bringen könnte.
Gemächlich tuckert das E-Boot zur Mitte des Sees, wo das Yoga mit einer kurzen Meditation beginnt. Ein sanfter Windhauch, der über das Gesicht streichelt, das Plätschern des Wassers gegen das Boot und das leichte Schaukeln auf den Wellen verstärken das meditative Erlebnis. Die Füße stehen in Hüftbreite fest auf dem Bootsboden, der Rücken ist gestreckt, Fußgelenke, Knie und Becken sind gut aufeinander ausgerichtet.
Armstrecker und Schulteröffnung, Wirbelsäule drehen, Bein- und Hüftstretch sowie Vorwärtsbeuge lassen sich auf den Polstersitzen gut ausführen. Auch die wenigen Übungen im Stehen werden nicht zum Balance-Akt auf dem sanft schaukelnden Boot. „Auf dem Wasser ist man unabhängiger, mehr im Flow und mehr im Sein. Da ist nicht so viel Ablenkung“, so Angelika Bischoff.
Bei der Meditation und den Übungen auf dem See erfahren die Teilnehmer Tiefenentspannung, Momente des Glücks und inneren Friedens – ein Zustand, der auch als Flow-Erlebnis beschrieben wird. Im Einklang mit der Natur wird die Yoga-Session auf dem Boot zu etwas Besonderem. Körper, Geist und Seele werden vereint mit den Kräften der Elemente Wasser, Wind und Sonne. Dazu der Blick auf das Alpenpanorama auf der einen und die Weite des Sees auf der anderen Seite. Schöner kann kein Tag beginnen!
Dieser Meinung muss auch König Ludwig II. gewesen sein, der in den 1870er Jahren die Chiemseeinsel Herrenwörth (heute Herreninsel) erwarb, um sich darauf ein Schloss nach dem Vorbild von Versailles errichten zu lassen.
Er fand, es sei „notwendig, sich Paradiese zu schaffen, poetische Zufluchtsorte, wo man auf einige Zeit die schauderhafte Zeit, in der wir leben, vergessen kann“, sagte er. Schloss Herrenchiemsee, das weit prunkvoller als Versailles hätte werden sollen und dessen Spiegelsaal tatsächlich größer ist als der des berühmten Vorbilds, blieb in weiten Teilen unvollendet.
Der „Kini“, wie der Bayernkönig im Volksmund genannt wird, hat „koane Zeit mehr ghabt“, um die Abgeschiedenheit und Ruhe auf seiner „Zeitinsel“, der Traumwelt inmitten des Sees, zu genießen. Nur zehn Tage soll er nach Fertigstellung seiner Privatgemächer auf dem Schloss verbracht haben, bevor er 1886 mit gerade mal 40 Jahren im Starnberger See auf rätselhafte Weise ertrank.
Dass einmal Ausflugsschiffe Besucherströme zur Herreninsel bringen würden, war nicht vorgesehen. Und schon gar nicht, dass sie Schloss Herrenchiemsee je von Innen sähen. Der Prachtbau sollte für die Öffentlichkeit tabu bleiben und nach dem Ableben des Bayernkönigs unverzüglich zerstört werden. So war es sein Wunsch. Doch der „Kini“ war pleite. Sein Schuldenberg belief sich auf über 5,2 Millionen Goldmark. Um die leeren Kassen zu füllen, wurde Herrenchiemsee wenige Wochen nach dem Tod des Königs für Besucher geöffnet. Damals wie heute ist das Schloss einer der Hotspots im Chiemsee-Alpenland.
Wer nach dem Schiffsanleger allerdings nicht mit den Ausflüglern Richtung Schloss marschiert, sondern durch den Wald, erfährt die Abgeschiedenheit und einsame Weitläufigkeit der unbewohnten Insel, die den König vor 150 Jahren so faszinierte.
Heraufkommen und runterkommen heißt es 25 Kilometer weiter südwestlich im kleinen Alpenhochtal Samerberg, wo blühende Wiesen, sattgrüne Weiden und schattige Wälder für eine Bilderbuchlandschaft sorgen.
„Do bin i dahoam“, verkündet die Kuh auf der Schautafel am Samerberger Landwirtschaftsweg und lässt Spaziergänger und Wanderer wissen, dass sie auf den Höfen und Almen ein schönes Leben hat. Anders als ihre Artgenossinnen in den Hochleistungsmilchbetrieben darf die Kuh hier noch Kuh sein.
Das demonstriert Kuhmutter Hella auf der gegenüberliegenden Weide, als sie ihr vor wenigen Minuten geborenes Kälbchen trocken leckt und durch schubsen mit dem Kopf zum Aufstehen animiert. Das Kleine wird ihr nicht weggenommen und darf bei ihr auf dem Estermannhof in dem kleinen Dörfchen Grainbach im Alpenhochtal Samerberg aufwachsen.
„Unsere Kühe sind Familienmitglieder“ sagt Bäuerin Roswitha Estermann. Auf dem Hof, einem Milchviehbetrieb mit 30 Kühen und eigener Alm, bieten die Estermanns Ferien auf dem Bauernhof an. „An den Fragen, die unsere Gäste an uns stellen, haben wir in den letzten Jahren gemerkt, dass das Grundwissen, das unsere Generation noch hatte, komplett verloren gegangen ist. Viele wissen nicht, dass eine Kuh zweimal am Tag gemolken werden muss und zwar an 365 Tagen im Jahr. Manch einer wundert sich, dass wir nicht mit Hand melken, sondern Melkmaschinen nutzen. Auch die Verarbeitung der Milch und wie heute Kühe gehalten werden ist vielen nicht bekannt“.
Um Aufklärung zu schaffen, ergriff Roswitha Estermann im Sommer 2018 die Initiative zur Schaffung zweier landwirtschaftlicher Themenwege auf dem Samerberg. In Zusammenarbeit mit vielen Unterstützern entstand innerhalb eines Jahres die Tal- und Almrunde mit 28 liebevoll gestalteten Informationstafeln zur Alm- und Landwirtschaft. Die Talwirtschaft wird auf einem 7,3 Kilometer langen Rundweg beleuchtet, über die schwierige Arbeit auf der Alm informiert die Almrunde, die von Grainbach auf 12 Kilometern bergauf über Forststraßen, Wiesen und Steige zu den Almen hinaufführt.
Unterwegs erfahren Wanderer auf Infotafeln, woher die Milch kommt und wie sie verarbeitet wird, was den Kühen am besten schmeckt, worauf man beim Wandern auf der Alm achten sollte, was eine Wiese zur Streuwiese macht und vieles mehr. Auf einem kleinen Schild zeigt eine Kuh die Wegführung an – sich zu verlaufen ist praktisch unmöglich.
Im 20 Autominuten von Grainbach entfernten Bad Feilnbach erklärt Agnes Pfeiffenthaler in ihrem außergewöhnlichen Alchemilla-Hofladen, welche Köstlichkeiten auf den Almwiesen wachsen. Im Frühjahr und Sommer sammelt sie im Jenbachtal und am Spitzstein Kräuter. Wer Interesse hat, darf sie begleiten und die Kräuter hinterher unter fachlicher Anleitung zu Lebensmitteln, Tees oder Salben verarbeiten.
In den Regalen des urigen Hofladens stehen Produkte aus der Region: Eingemachtes und Eingewecktes, Aufstriche, Gelees und Marmeladen, ausgefallene Essigspezialitäten wie Bärlauch- und Brombeeressig, Blüten- und Wildkräutersalz, aromatische Öle, aber auch Chilisoßen, Seifen und Cremes, jede Menge Geschenkartikel und Handarbeiten von Frauen aus der Region sowie Exemplare von Agnes Pfeiffenthalers Buch „Pikante Geheimnisse: Feine Rezepte & kleine G’schichten im Wandel der Jahreszeiten“.
Informationen: www.chiemsee-alpenland.de.
„Süßer“ Tipp: Eine Reise durch die Welt der Schokolade gewährt die Confiserie Dengel in Rott am Inn während einer betriebsbesichtigung.
Übernachten: Gästehaus Heistracher, Gstadt a. Chiemsee, DZ pro Person und Nacht ab 46 €; Gasthof Alpenrose, Samerberg, DZ ab 80 €
Cornelia Lohs
Die Journalistin und Reisebuchautorin lebt und schreibt in ihrer Heimatstadt Heidelberg, wenn sie nicht gerade irgendwo in der Welt unterwegs ist. Und das ist sie an über 100 Tagen im Jahr. Besonders angetan haben es ihr die nordischen Länder, Irland, Nord- und Lateinamerika.