Estland: Unbekanntes zwischen Küste + Hinterland

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Estland von der schönen Seite: Die Orthodoxe Kirche in Haapsalu:. – Foto Ivar Leidus

In Estland gibt es sie noch: die kleinen, beschaulichen Orte aus der Zeit der Hanse, die einst mondänen Heilbäder, deren Flair neu erwacht ist. An der nahezu unendlichen Küste Estlands verzaubern die Seebäder Haapsalu und Pärnu mit ihren malerischen Holz-Villen und der Jugendstil-Architektur. Hier kann man vortrefflich jener Zeit nachspüren, als sich auf den Seepromenaden vom deutschen Hochadel bis zur russischen Zarenfamilie die Prominenz vergangener Jahrhunderte erholte. In Haapsalu, dem „Venedig des Nordens“, hat sich Tschaikowsky zur Oper „Woiwode“ inspirieren lassen und Ilon Wikland zu den Illustrationen in den Kinderbüchern von Astrid Lindgren. Noch heute fühlen sich Kinder an diesem Ort in die Idylle von „Bullerbü“ oder Lönneberga“ versetzt.

Eine andere berühmte Frau aus Haapsalu ist die „weiße Dame“. Einheimische und Touristen sind ihr immer wieder auf den Spuren. Die Gesuchte war einst die Geliebte eines Geistlichen am Bischofssitz. Weil Frauen der Zutritt verboten war, habe er sie in der weißen Tracht der Chorsänger eingeschmuggelt, geht die Sage. Doch die Frau wurde entdeckt und bei lebendigem Leib in der Kapelle eingemauert. Seitdem geistert sie durch das Gemäuer, auf der Suche nach ihrem Geliebten.

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Erinnert an die glanzvollen Tage als Seebad: Der alt-ehrwürdige Kursaal in Haapsalu. – Foto Ivar Leidus

An einem anderen Ort trifft man garantiert auf Menschen, die man lange nicht gesehen hat. Denn dafür ist Pärnu, die „Sommerhauptstadt“ des Landes, bekannt. Sie gilt als Sehnsuchtsort der Esten mit den wohl schönsten Stränden aus ganz feinem Sand. Obwohl Pärnu mit zahlreichen Restaurants, Bars und einem bunten Kulturprogramm viel Abwechslung bietet, ist es keine Party-Meile. Eher ein Fluchtpunkt für Verliebte. Sie bezeugen ihre Zuneigung auf der zwei Kilometer langen Hafenmole. Gelingt es ihnen, über die glitschigen und manchmal von Wasser überspülten Steine bis ans äußerste Ende zu gehen und sich dort zu küssen, wird ihre Liebe ewig bestehen.

Ein Zeugnis großer Vaterliebe hingegen ist die Villa Ammende. Einst hat sie der reiche deutsche Industrielle Hermann Ammende eigens für die Hochzeit seiner geliebten Tochter Ellen errichten lassen. Heute ist die Villa ein prachtvolles Jugendstil-Hotel, in dem man sich niveauvoll erholen kann.

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Herrlich breit ist so mancher Strand in Estland so wie dieser oft fast menschenleere Strand in Pärnu. – Foto Marcin Szala

Vielfältig erholen kann man sich auch in Kuressaare, der Inselhauptstadt von Saaremaa. Das Tempo ist hier ein wenig geruhsamer als auf dem Festland, die Tage gefühlt ein wenig länger, und der Natur scheint man ein wenig näher zu sein. Auch hier sind historische Holz-Villen die Kulisse für unbeschwerte Urlaubstage. Die Besucher schlendern zum ehemaligen Bischofssitz, der einzigen noch vollständig erhaltenen Burg aus dem Mittelalter im gesamten Baltikum. Auf dem Rückweg kehrt man in einem der zahlreichen Cafés ein und genießt den Blick ins historische Stadtzentrum mit seinen barocken und klassizistischen Bauten. Oder besichtigt im Rathaus das mit 43 Quadratmeter größte Leinen-Deckengemälde Estlands.

Wer in Kuressaare Urlaub macht, kommt leicht mit einem Lächeln weiter. Denn es wird garantiert erwidert. Weil sie hier alle „kena“ sind – nett. Man muss sich nur darauf einlassen, diese Entdeckungen zu machen, bei einem Konzert, einer Ausstellung oder in einem der sieben modernen Spas. Irgendwo ist es immer „kena“. Im nächsten Jahr feiert Kuressaare sein 175-jähriges Jubiläum als Kurort. Eine Stadt, die schon so lange Erholung bietet, muss gesund sein. Und das Festjahr wird bestimmt „kena“.

Stummer Zeuge aus längst vergangenen Tagen: Die gut erhaltenes Arensburg in Kuressaare. – Foto Vonsoeckchen

Auch in der Hansestadt Viljandi wird 2015 gefeiert. Die Stadt ist als kulturelles Zentrum vieler Festivals und Veranstaltungen das Ziel von Gästen aus aller Welt. Dann erwachen die altehrwürdigen Gassen mit ihrem Kopfsteinpflaster und die historischen Häuser zu neuem Leben, wenn fremde Sprachen erklingen, gelacht, gesungen und gefeiert wird – beim Tanz-Festival, dem Mountainbike- Marathon, der Handarbeitsmesse oder den Theatertagen. Das Internationale Folk Music Festival von Viljandi ist das größte Musikfestival in Estland, mit mehr als hundert Konzerten in Theatern, Kirchen und auf vielen Plätzen. Und die „Mulgi Ralli“ ein ausgefallener Motocross-Wettbewerb, bei dem Männer, Motoren und Morast die Hauptrollen spielen. Viljandi ist Beleg dafür, wie Historie und Moderne in Estland eine progressive Allianz eingehen.

Wer es beschaulicher mag, muss nur über die malerische Hängebrücke in den Schlossbergen hinauf zur Burgruine der alten Festungsanlage gehen. Wenn die frühen Herbstnebel wallen oder der erste Schnee die Mauerkronen bedeckt, ist dies der romantischste Platz in Viljandi. Viele Kriege in den vorherigen Jahrhunderten hatten der einst imposanten Steinburg des Deutschen Ordens zugesetzt, bis ihre Grundfeste im Nordischen Krieg von 1700 endgültig erschüttert wurden. Umso mehr wirkt die Ruine heute mystisch.

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Markanter Blickfang in Tartu: Das prächtige Rathaus. – Foto Ivar Leidus

Noch älter ist die Studentenstadt Tartu, achtzig Kilometer östlich von Viljandi. Sie wurde bereits 1030 urkundlich erwähnt und ist damit die älteste Stadt des Baltikums. Zugleich ist sie auch die jüngste Stadt Estlands. Denn von den knapp 100.000 Einwohnern sind mehr als 20.000 Studenten. Der Springbrunnen mit der Plastik der küssenden Studenten vor dem Rathaus ist daher Wahrzeichen und Symbol zugleich.

Junge Menschen bestimmen das Stadtbild. Im Pirogov-Park gleich hinter dem Rathaus oder auf dem gleichnamigen Platz am Domberg sitzen sie bei schönem Wetter mit dem Laptop auf den Knien und arbeiten. Weil es in Estland überall freien Internet-Zugang gibt, ist die Wiese oder die Parkbank, das Café oder die Aussichtsterrasse immer auch Kommunikationsort. Da ein großer Teil der Hochschüler aus anderen Ländern zum Studieren nach Tartu kommt, hört man auf den Straßen so viele Sprachen wie sonst nirgendwo in Estland.

Schlicht und doch stdtbildprägend: Das Rathaus in Viljandi. – Foto MaSii

In den Clubs der Stadt ist es jedoch wie in allen Städten der Welt, in denen sich junges Publikum trifft: die Musik ist international, die Themen und Getränke sind es auch. Wobei Besucher der Stadt sich eine Besichtigung im Bier-Museum nicht entgehen lassen sollten. Denn Tartu blickt auf eine tausendjährige Biertradition zurück und estnisches Bier wird nach deutschem Reinheitsgebot gebraut.

Unterhaltsam ist auch ein Besuch in Supilinn, Tartus kleinstem Stadtteil. Dort, im „Suppenviertel“, tragen die Straßen mit den historischen Holzhäusern Namen von Lebensmitteln wie „Erbse“ oder „Möhre“. Jedes Jahr gibt es ein „Suppenfest“ in Supilinn. Es ist eines von 4000 Festen, die den Jahreslauf in Tartu bestimmen. Bei den meisten Veranstaltungen haben auch die Studenten ihre

Hände mit im Spiel. Mal sind sie Gaukler beim mittelalterlichen Markttreiben, dann stehen sie beim Studentenfestival auf der Theaterbühne oder messen sich inmitten von 6.000 Athleten aus der ganzen Welt beim Ski-Marathon über 63 Kilometer, dem ältesten estnischen Langlauf-Wettbewerb. Esten, die dabei einen herausragenden Platz belegen, bezeichnen dies als „normaalne.“ Das ist dann kein Ausdruck vornehmer Zurückhaltung. Denn was in Deutschland „normal“ ist, ist in Estland nicht „normaalne“. Auch wenn es gleich klingt, es ist doch nicht das Gleiche. Denn „normaalne“ ist für die Esten der Ausdruck für etwas besonderes, herausragendes, wunderbares. Wer die malerischen Kleinstädte mit ihren vielseitigen Freizeitangeboten besucht hat, wird schnell verstehen, warum auch sie „normaalne“ sind!  Weitere Informationen unter www.visitestonia.com/de.