Wiedenbrücker Alltagsmenschen – Kunst im Vorbeigehen

Alltagsmenschen
An 27 Standorten in Wiedenbrück wissen die Alltagsmenschen zu begeistern. – Foto Karsten-Thilo Raab

Eigentlich stehen sie nur so rum. Sie verziehen keine Miene, sagen kein Wort und machen nichts. Und doch sorgen die Alltagsmenschen in Wiedenbrück immer wieder für kollektive Entzückung. Die meisten von ihnen scheinen einen Hang zum Adipösen zu haben; besitzen deutlich mehr Körperauswuchtungen als das Gros der Bewunderer. Dafür sind sie im Schnitt ein wenig größer als Otto-Normal-Verbraucher.

Die Alltagsmenschen sind keine Super-Size-Modells, sondern dienen an mehr als zwei Dutzend Stellen in der von prachtvollen Fachwerkhäusern durchzogenen Innenstadt von Wiedenbrück als ungewöhnliche Blickfänge. Kaum einer, der ohne ein Lächeln im Gesicht an ihnen vorbeihuscht; kaum einer, der nicht das Handy für einen Schnappschuss oder ein Selfie mit den Kunstfiguren zückt.

Alltagsmenschen
Ein Horrido der Schützenbrüder- und Schwestern auf dem Widenbrücker Markt. – Foto Karsten-Thilo Raab

An insgesamt 27 Standorten in Stadtkern sowie rund um den Emssee tummeln sich die 90 übergroßen und bis zu zwei Zentner schweren Beton-Figuren, die die Wittener Bildhauerin Christel Lechner gemeinsam mit ihrer Tochter Laura geschaffen hat.

Alltagsmenschen
Ein Pärchen genießt eine Ruhepause vor dem Ratskeller. – Foto Karsten-Thilo Raab

Auf der Lange Straße liefern sich zwei beleibte Köche, die oft von ihren eigenen Kreationen genascht haben müssen, ein Kochduell mit Löffel, weißer Mütze und Schürze. Wenige Meter Luftlinie entfernt wird eine Frau mit einem Knochen und einer Wurst in der Hand von einem stattlichen Bernhardiner angeschmachtet, während ein Fotograf an der nächsten Ecke eine Kleingruppe vor einem Fachwerkensemble auf den Digitalchip seiner Kamera zu bannen scheint.

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Der „Beobachter“ hat am Mühlenwall in Wiedenbrück alles im Blick. – Foto Karsten-Thilo Raab

Im Schatten der Aegidiuskirche schwingt eine Reihe von Männern und Frauen das Tanzbein zu imaginärer Musik. Einen Steinwurf entfernt lehnt sich ein Mann in der Marienstraße entspannt zurück an einen Baum, als warte er auf jemanden und genieße dabei das Himmelsschauspiel. Und auf dem nahen Marktplatz haben sich Schützenbrüder und -schwestern für ein Erinnerungsfoto aufgestellt. Derweil lässt sich ein Pärchen vor dem Ratskeller einen Kaffee, ein Eis und ein Bierchen schmecken.

Nonne vor der Marienkirche. – Foto Karsten-Thilo Raab

Etwas abseits des Fußgängerzonenbereichs bevölkern vier Nonnen und ein Mönch das Wiesenstück vor der Marienkirche und in der liebevoll angelegten Grünanlage am Emssee steigt auf einer Wiese mit einem festlich gedeckten Tisch „Helgas Kaffeeklatsch“. Von der Terrasse des Seecafés blicken vier Herren im feinen Anzug auf das künstlich angelegte Gewässer. Sehr prominent stolzieren drei Frauen mit hoch geschockten Röcken über die Emsinsel – scheinbar auf der Suche nach einem Liegeplatz für das geplante Badevergnügen.

Beschwingt geht es beim „Tanz in den Morgen“ an der Aegidiuskirche zu. – Foto Karsten-Thilo Raab

Ohne Frage, wer derzeit durch die 21.000-Seelen-Gemeinde, die seit 1970 Teil des ostwestfälischen Rheda-Wiedenbrücks ist, stiefelt, hat kaum Augen für die allgegenwärtige Fachwerkpracht. Die Alltagsmenschen laufen den schmucken Häuser spürbar den Rang ab. Da kauert ein „Wiedenbrücker Original“ nur mit Unterhemd, kurzer Hose, weißen Socken und Schuhen bekleidet an einem Pflanzkübel in der Kirchstraße, während das „Schwein Eberhard“ in der Wichernstraße durch das Fenster eines Metzgers lugt. Vielleicht, um herauszufinden, was aus seinen Artgenossen geworden ist.

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Das „Wiedenbrücker Original“ bedient einige Klischees. – Foto Karsten-Thilo Raab

Am Klingelbrink beobachtet ein Mann mit Hut das Treiben in der Einkaufsmeile. Fast möchte man ihm zurufen: „So wie du uns siehst, sehen wir dich!“

Die Strandläuferinnen tummeln sich auf der Emsinsel. – Foto Karsten-Thilo Raab

Ohne Frage sind die famosen Alltagsmenschen eine Liebeserklärung an das Alltägliche. Irgendwie halten sie jedem Betrachter ein wenig den Spiegel vor. Sie sind nicht perfekt, aber überaus liebenswert. Sie sind schlicht und doch kunstvoll. Auf jeden Fall aber sind die Alltagsmenschen als Kunst, die im Vorbeigehen genossen werden kann, große Freudenspender.

Alltagsmenschen
Helgas Kaffeeklatsch ist ein Hingucker am Emssee. – Foto Karsten-Thilo Raab

Dabei sind die Alltagsmenschen eben dort zu finden, wo ein Teil des Alltags stattfindet. Gleichzeitig bilden die prächtigen Betonskulpturen einen herrlichen Kontrast zum grassierenden Schönheits- und Schlankheitswahn. Und ein wenig wünscht man sich, dass die Zufrieden- und Gelassenheit, die Lechners-Kunstwerke ausstrahlen, auf die nicht enden wollende Heerschar der Betrachter abfärbt.

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Die „Frau mit Hund“ an der Lange Straße. – Foto Karsten-Thilo Raab

Informationen: www.christel-lechner.de/wiedenbrueck-ausstellung-2021 oder unter www.rheda-wiedenbrueck.de

Wissenswertes: Die Alltagsmenschen sind in Wiedenbrück bis 19. September 2021 zu sehen. Die Skulpturen sind rund um die Uhr frei zugänglich.

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„Herren“ auf der Terasse am Emssee. – Foto Karsten-Thilo Raab

Alltagsmenschen-Ausstellungen: Auch in anderen Städten finden sich die von Christel Lechner geschaffenen Alltagsmenschen. So u.a. aktuell in Wenningstedt auf Sylt, im niedersächsischen Celle, in Eschborn im Taunus oder dem schweizerischen Montreux. Weitere Informationen unter www.christel-lechner.de/ausstellungen-news