Ungeheuerliche Monstermania um Nessie

Nessie
Fast echt: Das Nessie-Model in Drumnadrochit am Ufer des Loch Ness. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Um kaum ein anderes Wesen ranken sich wohl mehr Geschichten und Mythen als um das sagenumwobene Monster vom Loch Ness im schottischen Hochland. Über Nessies Aussehen streiten sich die Geister ebenso wie über dessen Existenz, auch wenn das Loch Ness Centre im Touristenzentrum Drumnadrochit in einem künstlichen Teich direkt am Ufer des rund 38 Kilometer langen und bis zu 300 Meter tiefen Sees ein lebensgroßes Modell des geliebten Ungeheuers zeigt.

Schon im 6. Jahrhundert will der irische Missionar St. Columba im Great Glen, der großen Schlucht, die vor circa zwei Millionen Jahren aufbrach und die Highlands von Nordosten nach Südwesten durchschneidet, jene Kreatur mit echsenähnlichem Kopf, einem langen Schlangenhals und zwei Höckern gesichtet haben. Mutig wie der Kirchenmann war, hat er das Monster mit seinem Kreuz – so die Erzählung – zurück ins Wasser getrieben.

Nessie
Drumnadrochit ist komplett im Nessie-Fieber. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Seine eigentliche Popularität erlangte Nessie jedoch erst als 1933 ein gewisser Hugh Gray ein, selbstverständlich unscharfes Foto des Monsters schoss, und die Echtheit des Bildes von einer Fotofirma bestätigt wurde. Wenige Wochen zuvor will ein Mr. Spicer bei der Fahrt entlang der damals neu gebauten Uferstraße, der heutigen A82, einen schwarzgrauen Fleischberg mit über zehn Meter Länge, riesigem Hals und kleinem Kopf im See gesehen haben.

Und in dem Maße, wie sich die Zahl der Augenzeugenberichte mehrte, lösten die mysteriösen Vorfälle eine wahre Monstermania aus. 1934 stellte das schottische Parlament Nessie sogar unter gesetzlichen Schutz. Seither geben mehr als 7.000, meist illustre Zeitgenossen vor, das Ungetier, das von dem britischen Zoologen Sir Peter Scott auf den wissenschaftlichen Namen Nessiteras rhombopterix getauft wurde, zu Gesicht bekommen zu haben.

Nessie
In Drumnadrochit informieren gleich zwei konkurrierende Museen über die Geschichte Nessies. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Und die Liste der Augenzeugen ziert beileibe nicht nur Namen von Pub-Besuchern, denen nachgesagt werden könnte, sie hätten ein Pint zu viel gehabt, sondern auch die von Parlamentsangehörigen, Rechtsanwälten und Geistigen.

Immer häufiger und in immer kürzeren Abständen tauchten Fotos des Monsters auf. Erklärungsversuche dieses Phänomens reichen von einer Laune der Natur in Form eines außergewöhnlichen Zusammenspiels von Wind und Wellen bis hin zu der Vorstellung eines schwimmenden Baumstamms oder von zwei umgekippten Booten mit einem Tier darauf.

In und um Drumnadrochit gibt es Nessie zum Mitnehmen zu kaufen. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Um sicher zu gehen, dass keine Fotomontagen vorliegen, wurde viele der Fotos des Monsters den Labors der NASA und des britischen Verteidigungsministeriums übergeben. Beim Gros der Aufnahmen – so die Ansicht der Experten – scheinen Fälschungen ausgeschlossen.

Als Konsequenz nahmen auch wissenschaftliche Forscherteams ihre Untersuchungen auf. In den 1960er Jahren wurde das Loch Investigation Bureau ins Leben gerufen und mit einer systematischen Untersuchung des Sees begonnen. Mit Echolot und Unterwasserkameras, mit U-Booten und Sonargeräten sowie zahlreichen anderen technischen Hilfsmitteln machten sich die Wissenschaftler auf die Suche nach dem Unbekannten – bislang jedoch vergebens.

Auch kuriose Bauten finden sich in Drumnadrochit. – Foto Karsten-Thilo Raab

Die irische Guinness-Brauerei setzte sogar ein Kopfgeld in Höhe von 500.000 britischen Pfund auf den Fang des Monsters aus. Seither besitzt der Loch Ness eine magische Anziehungskraft auf Touristen aller Herren Länder. Und fast alljährlich hebt sich in den Sommermonaten nach einem exakten Zeugnis aller am Fremdenverkehr gut verdienender Bewohner des Great Glens die sagenumwobene Mischung aus Walfisch und Dinosaurier aus den Fluten, um neue Werbewellen aus den großen Nüstern zu blasen und dann ebenso schnell wieder in den Tiefen des Loch Ness zu verschwinden.

Die Theorie besagt, dass die Kreatur vor Tausenden von Jahren, als das Landniveau stieg, im Loch Ness eingeschlossen wurde. Es ist jedoch völlig unklar, wie das Ungetüm in dem berühmtesten See Großbritanniens, der einst mit dem Meer verbunden war, genug Nahrung zum Überleben finden konnte.

Auch vom Boot aus lässt sich Ausschau nach Nessie halten. – Foto Karsten-Thilo Raab

Das riesige Gewässer, dessen Profil durch steil abfallende Ufer und zwei flache Becken gekennzeichnet ist, enthält kaum Plankton, ist extrem dunkel und friert nie zu. Bei niedrigen Wassertemperaturen von ganzjährig konstant fünf bis sechs Grad Celsius und hohem Sauerstoffgehalt beheimatet Loch Ness knapp 30 Fischarten von der Forelle über den Aal bis hin zum Stichling und Hecht.

Loch Ness gehört als Teil des Kaledonischen Kanals zusammen mit Loch Linnhe, Loch Lochy und Loch Oich zu der 97 Kilometer langen Verbindung zwischen Nordsee und Atlantik, die Anfang des 19. Jahrhunderts nach Plänen des berühmten Architekten Thomas Telford hergestellt wurde. Es wäre also denkbar, dass sich Nessie je nach Lust und Laune mittels dieser Wasserstraße in das offene Meer verflüchtigt. Allerdings müsste das Monster dann verschiedene Staustufen überwinden.

Blick auf das Loch Ness von Fort Augustus. – Foto Karsten-Thilo Raab

Während die Schotten also stets eine große Welle machen, wenn Nessie angeblich mal wieder für einen Augenblick auftaucht, sorgen die Gezeiten in der Nordsee offenbar für den Wellengang am Loch Ness. Und dies, obwohl der See gar nicht mit dem Meer direkt verbunden ist. Wissenschaftler David Pugh vom National Oceanography Centre im englischen Liverpool will nachgewiesen haben, dass der Tidenhub der Nordsee für die Wasserbewegungen des Binnensees verantwortlich sei. Die Last des Meeres lasse den Boden Schottlands im Takt von Ebbe und Flut wippen – und damit auch den Seegrund von Loch Ness, erläuterte David Pugh in einem wissenschaftlichen Aufsatz im Fachmagazin Journal Of Geophysical Research.

Um zu diesen Erkenntnissen zu gelangen, wurden die Aufzeichnungen von Drucksensoren, die auf dem Boden des Loch Ness aufgestellt sind, ausgewertet. Demnach ändert sich der Wasserstand des Sees im Rhythmus der Nordsee-Gezeiten um jeweils anderthalb Millimeter. Mit Einsetzen der Flut, würde, so Pugh weiter, das Meer die Last auf den Boden erhöhen und die Pegel am Ostufer des Loch Ness ansteigen lassen. Mit Einsetzen der Ebbe ließe die Bodenlast dann wieder nach, der Boden würde sich wieder leicht anheben und das Wasser schwappe zurück und ließe so die Pegel an der Westseite des Sees wieder ansteigen.

Malerisch am Ufer des Loch Ness gelegen: Die Ruine von Urquart Castle. – Foto Karsten-Thilo Raab

Ein Phänomen, das von Pugh als „Ocean Loading“ tituliert wurde. Derweil spotten Skeptiker, die Wasserbewegung des Loch Ness würde in Wahrheit von Nessie ausgelöst. Nämlich immer dann, wenn das Monster Freudensprünge vollführe, weil es einmal mehr nicht entdeckt wurde, während Wissenschaftler den See mit allerlei technischen Hilfsmittel immer und immer wieder in Augenschein nehmen, um das Rätsel um das Seeungeheuer endlich zu lösen…

Ach ja, noch etwas Interessantes zu dem Fabelwesen: Obschon bislang der Beweis für die Existenz von Nessie ausblieb, darf sich das Seeungeheuer rühmen, der „berühmteste Schotte aller Zeiten“ zu sein. Dies zumindest ist das Resultat einer landesweiten Abstimmung im Jahre 2006 mit mehr als 2.000 Teilnehmern. Eine Wahl, die gleichzeitig für viel Missmut sorgte. Vor allem die Kulturbeflissenen konnten und können es nicht nachvollziehen, warum ausgerechnet Nationaldichter Robert Burns, der Schöpfer der berühmten Hymne „Auld lang syne“, lediglich Platz 2 hinter Nessie bekleidet. Was vielleicht daran liegt, dass Burns bereits 1796 in Dumfries verstarb, während sich Nessie laut Bekunden aller am Tourismus gut verdienender Schotten, noch immer zumindest ab und an blicken lässt.

Auch ohne Monstersichtung ist die Bootsfahrt über das Loch Ness ein Erlebnis. – Foto Karsten-Thilo Raab

Dies mag auch erklären, warum Schauspiellegende Sean Connery nur auf Rang 3 landete und die bis heute verehrten Freiheitskämpfer William Wallace und Robert de Bruce die Plätze vier und fünf einnahmen. Erstaunlich ist auch, dass kein Politiker den Sprung unter die Top 5 schaffte. Auf jeden Fall aber könnten die (schottischen) Parteisoldaten von Nessie lernen: Richtig bekannt und berühmt wird man offensichtlich nicht durch große Medienpräsenz und regelmäßige öffentliche Auftritte, sondern nur dann, wenn man sich äußerst rar macht und nur ab und an blicken lässt… Weitere Informationen unter www.visitbritain.com/de und unter  www.lochness.com