Unbekanntes Berlin: Das Bayerische Viertel

Bayerische Viertel
Das Bayerische Viertel zeigt abseits der üblichen Pfade eine spannende Seite von Berlin. – Foto: Christian Wolter

Berlin ist eine Reise wert. Ob Brandenburger Tor, Reichstag oder der Mauerpark, in der deutschen Hauptstadt ist die Geschichte nah. Doch auch abseits der Touristenmagnete bietet die Stadt unzählige einzigartige Ziele. Eines der entdeckenswerten Kieze ist das Gebiet um den Bayerischen Platz in Schöneberg.

Der Berliner U-Bahnhof Bayerischer Platz ist der Kreuzungspunkt der U7 und der U9. Kommt man mit der U-Bahn an und steigt die Treppen ins Freie empor, so findet sich in der Ebene direkt unter dem Bahnhofsgebäude ein erstes Highlight: eine Dauerausstellung von Plakaten zur Quartiersgeschichte. Historische Aufnahmen nehmen den Betrachter mit zum Bayerischen Platz und in die umliegende Strassen der Vor- und Nachkkriegeszeit. Portraits zeigen Persönlichkeiten, die im Bayerischen Viertel lebten, darunter viele jüdische Intellektuelle.

Verheerende Kriegsschäden

Bayerische Viertel
Eingangstor zum Kiez: Die U-Bahnstation Bayrischer Platz mit dem Cafe Haberland. – Foto: Christian Wolter

Beim Luftangriff auf Berlin am 3. Februar 1945 explodierten auf dem Bayerischen Platz neun Bomben. Drei der „Volltreffer“ machten den den U-Bahnhof dem Erdboden gleich und brachten die Tunneldecke zum Einsturz, während zwei Züge dort hielten. 63 Tote lagen in den Trümmern. Nachdem der Schutt des U-Bahnhofs weggeräumt war, stand hier bis zum Ende der 1950er Jahre nur ein Kiosk; es folgte ein gläserner Pavillionbau im Stil der Zeit. 1967 wurde der Pavillion abgetragen und 1971 durch das Gebäude ersetzt, das den U-Bahnhof Bayerischer Platz die folgenden Jahrzehntelang prägte.

Zur Überraschung der Anwohner wurde im Frühjahr 2013 der U-Bahnhof Bayerischer Platz abermals  abgerissen. Die Älteren erinnerte die Situation nun frappierend an den Zustand des U-Bahnzugangs der Nachkriegszeit. Aber seit dem 17.September 2014 ist der Bayerische Platz nun um eine Attraktion reicher: tritt man aus dem U-Bahnschacht steht man vor einem modernen schmucken U-Bahnhof mit gläsernem Penthauscafe und Dachterrasse. „Zeithistorisches Portal Cafe Haberland“ nennt sich die Lokalität. Integriert ist ein Informationszentrum zur Quartiersgeschichte. So etwas findet sich in Berlin kein zweites Mal.

Berliner Kulturgeschichte

Die Ausstellung zur Quartiersgeschichte im U-Bahnhof. – Foto: Egon Burtscher

Nach längerer Schließung wird hier seit Dezember 2019 Schwäbische Küche angeboten. So gibt es Maultaschen und Spätzle, Zwiebelrostbraten und Schnitzel, aber auch viele frische Salate, vegetarische und vegane Gerichte zudem hausgemachte Flammkuchen in verschiedenen Variationen. Bei schönem Wetter kann der Besucher des Restaurants und Cafe Haberland auf der Terrasse auf dem U-Bahnhofsdach sitzen und das Alltagstreiben auf demPlatz unter ihm studieren. Kulinarisch erwähneswert übrigens auch das Brutzelstübchen, das bereits im alten Bahnhof an der Nordseite integriert war und sich nun vorn an der Westseite des Bahnhofsgebäudes findet. Es gilt Kennern als eine der Topcurrywurstbuden abseits der Touristenströme bei Curry 36 oder Konopke.

Das Ausstellungs- und Informationsangebot in den Räumen des dank der vielen Fenster hellen Dachrestaurants lädt dazu ein, in die Historie dieses mit reicher Kulturtradition gesegneten Quartier Berlins einzutauchen. 60 Plätze gibt es innen, weitere 50 auf der Terrasse. Regelmäßige Vorträge, Lesungen und Konzerte ergänzen das Programm.

Kurzweilige Reise in die Vergangenheit

Im Cafe Haberland werden Kultur, Geschichte und Genuss miteinander verknüpft. – Foto Egon Burtscher

An Medieninseln im Cafe Haberland sind Filme zur Historie des Viertels abrufbar, an Hörstationen ist die Vergangenheit der Umgebung akustisch nacherlebbar. Die Wahl besteht zwischen Deutsch und Englisch, das Filmangebot steht zudem in Gebärdensprache zur Verfügung. Bei Kaffee und Kuchen kann in den ausliegenden Broschüren und Heften zu Themen wie jüdisches Leben oder Baugeschichte geschmöckert werden. Auch die Wände sind mit Bildern und Texten bereichert. Ein Verzehrzwang besteht nicht. Ein riesiger Straßenplan, der in transparentem orange und weinrot auf dem Fenster des Cafes mit Blick in die Innnsbruckerstraße aufgemalt ist, erleichtert einen Spaziergang durch die Umgebung zu planen. Ergänzt wird das Angebot zur Stadtgeschichte zwei Stockwerke tiefer durch die zahlreichen Schautafeln, die sich bereits seit vielen Jahren im Zwischendeck der U-Bahnstation finden.

In den Straßen rund um den Bayerischen Platz waren im vergangenen Jahrhundert selten viele bedeutende Wissenschaftler, Künstler und Intellektuelle zu Hause, vor allem das liberal-jüdische Bürgertum fühlte sich im Bayerischen Viertel wohl. Bereits seit 1993 erinnern 80 an Straßenlaternenmasten im Bayerischen Viertel befestigte Schilder mit Gesetzes- und Verordnungstexten aus dem 3.Reich an die Entrechtung der jüdischen Bevölkerung in Deutschland.

Quartier der Künstler und Intellektuellen

Offener Geheimtipp unter Wurstliebhabern: Das Brutzelstübchen am U-Bahnhof Bayrischer Platz. – Foto: Egon Burtscher

Im Bayerischen Viertel lebten und arbeiteten unter anderem: der dem evangelischen Pfarrhaus entstammende Lyriker, Schriftsteller und Arzt Gottfried Benn , der Politiker Eduard Bernstein, der Politiker Rudolf Breitscheid, der Physiker Albert Einstein, die Fotografin Giselle Freund, der Psychoanalytiker Erich Fromm, der Maler Karl Hofer, der Dichter Arno Holz, der Theaterkritiker und Autor Alfred Kerr, der Journalist und Schriftsteller Egon Erwin Kisch, der Schachweltmeister, Mathematiker und Philosoph Emanuel Lasker, der Schriftsteller Kurt Pinthus, der Theaterintendant und Regisseur Erwin Piscator, der Literaturkritiker Marcel-Reich Ranicki, die Sängerin Claire Walddoff, der Regisseur und Drehbuchautor Billy Wilder, der Dramatiker und Schriftsteller Carl Zuckmayer. Auch die Journalistin und Autorin Inge Deutschkron wohnt hier.

Gestaltet wurde das Viertel nach den damals modernsten stadtplanerischern Erkenntnissen vom Direktor der Berlinischen Bodengesellschaft, Georg Haberland. Zwischen 1998 und 1908 erwarb er das bisher als Ackerland benutzte Gebiet und verkaufte die erschlossenen Parzellen als Bauland weiter. Auch die Benennung der Straßen nach Bayerischen Städten geht auf Haberlands Idee zurück. Die beauftragten Architekten bauten im süddeutschen Renaissancestil, die sogenannte „Alt-Nürnberger Bauweise“. Die Haberlandstraße erhielt ihren Namen 1906 zu Ehren Salomon Haberland, dem Vater von Georg Haberland. Da die Nazis alle jüdischen Straßenbezeichnungen verboten, wurde die Haberlandstraße 1938 in Nördlingerstraße und Treuchtlingerstraße geteilt. Erst 1996 erfolgte die Rückbenennung der Nördlingerstraße auf ihren Gründungsnamen.

Eleganz aus der Kaiserzeit

In der Bozenerstrasse 20 befand sich die Wohnung von Gottried Benn. – Foto: Christian Wolter

Zur Eröffnung des Glaspavillion-Cafes am 19.September 2014 waren auch zwei Urenkel Salomon Haberlands aus Stockholm angereist, Ralf Hermanns, 81, und dessen Schwester Renate Gynnerstedt, 84. „Hier treffen sich die U-Bahn-Linien, hier sollen sich auch Menschen aller Religionen treffen…es soll nicht nur um jüdisches Leben gehen im neuen Café Haberland“, sagte Ralf Hermanns in seiner Rede. Vor allem in den Nächten vom 1. auf den 2. März und vom 22. zum 23. November 1943 legten alliierte Fliegerbomben das Bayerische Viertel zu rund 75 Prozent in Schutt und Asche. Dennoch ist das Gesicht einiger Straßenzüge mit den eleganten Gebäuden aus der Kaiserzeit fast ohne Zerstörung erhalten geblieben.

Zu den Straßenzügen, die fast ohne Zerstörung über den Krieg gekommen sind gehört beispielsweise die Bozenerstraße, wo der in Hausnummer 20 der nach Meinung vieler Kritiker bedeutendste Lyriker des vergangen Jahrhunderts, Gottfried Benn lebte, der einstige Geliebte von Else Lasker-Schüler, „die größte Lyrikerin die Deutschland je hatte“ (Benn). In der Eckkneipe Robbengatter, damals Dramburg, entstanden Abends beim Bier viele seiner schönsten Gedichte. Bücher kaufte Benn, wie auch Albert Einstein im noch existierenden „Buchladen Bayerischen Platz“ in der Grunewaldstraße, gegründet 1919 von Benedict Lachmann. So lässt sich bei einem Bummel durch die Straßen mit ihren alten Bäumen, kleinen Geschäften, Restaurants und Cafes rund um den Bayerischen Platz, noch heute die weltoffene, großbürgerliche Atmosphäre der Vorkriegszeit atmen. Weitere Informationen unter www.quartierbayerischerplatz.de.