Ein wenig unscheinbar duckt sich der Eingang zwischen einem Dessous-Geschäft und einem leerstehenden Ladenlokal in der Tsar Asen Straße in der bulgarischen Hauptstadt Sofia. Kein Schild, keine Klingel deutet daraufhin, dass sich in einer kleinen Wohnung im zweiten Stock die Tür zu einer Zeitreise in die sozialistische Vergangenheit Bulgariens öffnet. Erst seit dem Frühjahr 2019 befindet sich hier ein kleines, privates Museum zum Kommunismus in der Balkanrepublik. Das Red Flat präsentiert dabei eine typische Arbeiterwohnung aus jener Tagen.
„Das kommunistische Zeitalter wird in Bulgarien weitgehend totgeschwiegen“, unterstreicht Museumsgründer Valeri Gyurov, dass in seiner Heimat der Geschichtsunterricht in der Schule im Jahre 1945 endet. Auch im sehenswerten Nationalmuseum in Sofia etwa endet die Ausstellung zur Geschichte des Landes nach dem Zweiten Weltkrieg. Die sozialistische Ära spielt hier keine Rolle. Genau dies wollen Valeri Gyurov und seine Mitstreiter ändern.
„Obwohl der Kommunismus in den Staaten Osteuropas ab Ende der 1980er Jahre mehr und mehr verschwunden ist, haben gut viereinhalb Jahrzehnte deutliche Spuren in unserer Kultur und Denkweise hinterlassen“, will der gelernte Architekt das Seine dazu beitragen, mit Hilfe des Red Flats auch nachfolgenden Generationen einen Einblick in das Lebensgefühl während des Kalten Kriegs im Ostblock zu vermitteln.
Die „rote Wohnung“ wirkt tatsächlich ein wenig aus der Zeit gefallen. Sie ist ein kleine Fundgrube von Alltagsgegenständen aus der letzten Dekade des Kommunismus in Bulgarien. Erzählt wird die Geschichte der fiktiven Familie Petrovi, basierend auf realen Personen und deren Erfahrungsberichten. Die einzelnen Zimmer sind voll mit Möbeln, Dekoartikeln und Alltagsobjekten aus jenen Tagen. Auch persönliche Gegenstände wie Fotoalben oder Kleidung fehlen nicht. Und das Besondere: Anfassen ist ausdrücklich erlaubt.
„Es gibt keine Grenze zwischen Besucher und Objekt“, verweist Valeri, der sein Studium im baden-württembergischen Stuttgart absolvierte und fließend Deutsch spricht, auf die Tatsache, dass im Red Flat jeder alles berühren und ausprobieren darf.
„Die Gäste soll sich hier fühlen, als seien sie bei Oma und Opa zu Besuch“, betont der sympathische junge Bulgare das Eigenverständnis des kleinen Museums. Entsprechend können die Besucher in ihrem eigenen Tempo die einzelnen Räumlichkeiten Stück für Stück erkunden. Ein englischsprachiger Audioguide erläutert dabei an 46 Stationen die Besonderheiten der damaligen Lebensart.
Die Aufnahmen spiegeln den Alltag, die Sogen, Nöte und Freuden des Ehepaars Elena und Plamen Petrovi und deren Sohn Boyan wider. Dabei müssen Frau und Kind gemäß der fiktiven Geschichte derzeit ohne den Herrn des Hauses auskommen. Denn Plamen versucht, den Lebensunterhalt im fernen Libyen zu verdienen.
Das komplett möblierte Red Flat besteht aus einem kleinen Flur mit Garderobe, einem Esszimmer und einem Wohnzimmer, in dem auch das Bett von Elena steht. Um etwas Privatsphäre zu genießen, kann sie einen Vorhang zwischen den beiden Räumen zuziehen. Im Wohnzimmer finden sich grüne Sessel mit gelbem Fell, ein kleiner Tisch mit einem Kaffeeservice, ein Fernseher, ein Radio und eine Schrankwand. Letztere ist eine wahre Fundgrube. Hier lagern Ausweispapiere, Verdienstmedaillen, Bücher, eine Schreibmaschine und vieles mehr.
Im Kinderzimmer lassen sich nicht nur ein Bonanza-Rad und diverse Spielzeuge in Augenschein nehmen. Hier wartet ein gefüllter Kleiderschrank auf die Inspektion. Wer mag, kann einmal in die Klamotten der 1980er Jahre schlüpfen und diese besondere Erfahrung auch mit einem Selfie festhalten.
In der kleinen Küche laufen in einem Fernseher – ebenso wie in dem TV-Gerät im Wohnzimmer – Archivaufnahmen des nationalen Fernsehsenders in einer Dauerschleife. Da ist mal der „sozialistische Bruder“ Erich Honecker zu hören und zu sehen, mal mit Todor Zhivkov der einstige Staatschef und Erste Sekretär der Bulgarischen Kommunistischen Partei.
Wer mag, kann auch auf dem Plattenspieler bulgarische Musik der 1980er Jahre abspielen. Ungewöhnliche Unterhaltung bietet zudem das Telefon. Wer den Hörer abnimmt, kann – wie es in den 1980er Jahren bei bulgarischen Kindern üblich war – einigen Märchen am sprechenden Knochen lauschen. Noch rustikaler ist es, auf der kleinen Toilette einen Blick in die Tageszeitung von damals zu werfen.
Die Küchenschränke sind selbstverständlich komplett bestückt mit Geschirr, Töpfen und Kochutensilien, aber auch mit (abgelaufenen) Konserven und Vorräten für den Winter. Obschon im Red Flat alles angefasst und ausprobiert werden kann, empfiehlt es sich, unbedingt auf eine Kostprobe zu verzichten. Dies gilt auch für das mehr als 40 Jahre alte Pleven-Bier im Kühlschrank und die nicht minder alten BT-Zigaretten.
„Ich glaube, anschaulicher lässt sich der Übergang zu Demokratie und Marktwirtschaft in Bulgarien nicht vermitteln“, betont Valeri nicht ohne Stolz. Gleichzeitig verrät der Architekt, noch weitere Projekte in der Pipeline zu haben. Denn er hat im Laufe der Jahre rund 5.000 Plakate aus der kommunistischen Zeit zusammengetragen. Auch diese möchte er der geneigten Öffentlichkeit in einer (Dauer-) Ausstellung zugänglich machen. Allerdings mangelt es aktuell noch an geeigneten Räumlichkeiten. Vielleicht wird ja bald in dem unscheinbaren Haus an der Tsar Asen Straße noch ein anderes Apartment frei…
Allgemeine Informationen: www.bulgariatravel.org/de/
Red Flat: 12 Tsar Asen Straße, Bulgarien, Sofia, info@redflatsofia.com, https://redflatsofia.com. Tickets sind in der Querstraße (24 Ivan Denkoglu) im Geschäft „Gifted“ erhältlich. Öffnungszeiten: täglich 10 bis 18 Uhr
Eintritt: 18 Bulgarische Lew (BGN). Dies entspricht 9 Euro.
Essen & Trinken: Wer den Hauch des Kommunismus auch beim Essen verspüren möchte, dem sei der Besuch des Raketa ((Boulevard Yanko Sakazov 17, 1527 Sofia Center, Sofia, Bulgarien, Tel. 00359-2444-6111, http://raketarakiabar.bg) empfohlen. Das populäre Restaurant am Rande des Saimow Parks ist vollgestopft mit Devotionalien aus der Ära zwischen 1945 und 1990.
Tipp: Kostenlose Stadtrundgänge bietet Free Sofia Tour zu verschiedenen Themen in Englisch an. Startpunkt ist täglich um 11 Uhr am Justizpalast. Um Spenden wird am Ende der Tour gebeten. Informationen unter Tel. 00359-988-920461, info@freesofiatour.com, www.freesofiatour.com
Karsten-Thilo Raab
berichtet seit mehr als drei Jahrzehnten für eine Vielzahl von Zeitungen und Magazinen über Reiseziele weltweit. Zudem hat er sich einen Namen als Autor von mehr als 120 Reise-, Wander- und Radführern sowie Bildbänden gemacht.