Ruhrgebiet für eine Hand voll Euro

 Das Ruhrgebiet gilt seit jeher als Schmelztiegel der Kulturen. Als einer der größten Ballungsräume Europas verfügt die Region zugleich über eine der dichtesten Kulturlandschaften des Kontinents. Auch in punkto Freizeitgestaltung wartet der Kohlenpott mit einer ungeahnten Vielfalt auf.  Rauchende Schlote sind modernen Einkaufszentren und Freizeitparks gewichen, kulturelle und sportliche Großereignisse lassen das Ruhrgebiet zu einer der wichtigsten gesellschaftlichen Drehscheiben in Deutschland und Europa avancieren. Der kulturelle Hunger eines Ruhrgebiets-Bewohners oder Besuchers muss nicht notwendigerweise proportional zum Inhalt seiner Geldbörse stehen. Denn überall im Kohlenpott warten zahlreiche Attraktionen und Ausflugsziele darauf, für eine Hand voll Euro oder gar kostenlos entdeckt zu werden.

Darunter großartige Zeugnisse der Industriekultur wie das Schiffshebewerk Henrichenburg in Waltrop. 1899 wurde das Technikwunder von Kaiser Wilhelm II. offiziell in Betrieb genommen. Schiffe mit einem Gewicht von bis zu 750 Tonnen konnten mit Hilfe des Schiffshebewerkes einen Höhenunterschied von 14 Metern meistern. 1970 hatte die Anlage ausgedient, als ein neueres, effizienteres Hebewerk eingeweiht wurde. In einer Dauerausstellung ist alles Wissenswerte über das technische Meisterwerk und im Museumshafen am Oberwasser viel Interessantes über die Binnenschifffahrt zu erfahren.

Kaum minder spannend gestaltet sich ein Besuch der Zeche Zollern II./IV. in Dortmund. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stand das 1968 stillgelegte Bergwerk im Ruf, die modernste Anlage weltweit zu sein. Besonders beeindruckend sind die Jugendstilfassade der Maschinenhalle und die Backsteingotik der Lohnhalle sowie die Waschkaue.

Und das Westfälische Industriemuseum auf der Zeche Nachtigall in Witten informiert über die Entwicklung des Bergbaus im Ruhrtal. Höhepunkt des Besuches ist ein Gang durch den Nachtigallstollen, wo Museumsgäste – ausgerüstet mit Fahrmantel, Helm und Lampe – zu einem echten Steinkohleflöz vorstoßen. Derweil ist das Straßenindustriemuseum in Ennepetal mit seinen Industriedenkmälern und den in Bronze gegossenen Informationstafeln nicht nur Tag und Nacht geöffnet, sondern auch jederzeit kostenlos zu besichtigen. Historische Maschinen Ennepetaler Betriebe, die von den handwerklichen Anfängen der Metallverarbeitung bis zur Umstellung von mechanischen auf vollautomatische, elektronische Fertigungsabläufe in Gebrauch waren, sind an über 30 Standorten im Stadtgebiet installiert.

Ungleich kurioser mutet das Giraffen-Museum in Dortmund an. Am Wickeder Hellweg tummeln sich mehr als 9.000 Giraffen in unterschiedlichsten Größen und Formen. Sogar Langhälse aus Bananenblättern und Baumrinde sind hier anzutreffen. Nur wenige Kilometer Luftlinie entfernt wartet ein weiteres Kuriosum darauf, entdeckt zu werden: Das Roy-Black-Archiv-Museum. In Gedenken an den 1991 verstorbenen deutschen Schlagersänger und Schauspieler, der mit bürgerlichem Namen Gerhard Höllerich hieß, unterhält die Familie Tiemann in der einst von dem Showstar privat genutzten Wohnung im Dortmunder Stadtteil Aplerbeck eine kleine, aber feine Sammlung. Auf 110 Quadratmetern umfasst der Fundus Fotos, Zeitungsberichte, Tonträger, Kleidungsstücke und viel Wissenswertes um den Barden.

Eher ungewöhnliche Themen greifen auch das Büromuseum in der 10. Etage des Mülheimer Rathausturms, das Uhrenmuseum in Neukirchen-Vluyn oder das Bochumer Telefon-Museum auf. In Letzterem kann ein Blick auf 130 Jahre elektrische Nachrichtenübermittlung im Ruhrgebiet geworfen werden. Das Herzstück der Ausstellung bildet eine funktionsfähige Vermittlungsstelle mit Apparaten der Baujahre 1922 bis 1955.

Geheimnisvoll anmutende Gerätschaften, Waagen, Mörser und Reibschalen wecken im Dortmunder Apotheken-Museum die Neugier. Beim Besuch bleibt aber nicht alles nur graue Theorie. Die Gäste dürfen selber Hand anlegen. Sie können ausprobieren, wie eine Zäpfchenmaschine verschraubt und Pillen gedreht werden. Sie lernen, wie mit schweren Mörsern verschiedene Ausgangsstoffe in mühevoller Handarbeit zu einem Pulver zerkleinert wurden.

Unterdessen lässt das Niederrheinische Karneval-Museum in Duisburg die fünfte Jahreszeit mit mehr als 4.000 Exponaten ganzjährig lebendig werden. Gezeigt werden Karnevalsorden, Kostüme, Narrenzepter sowie eine stattliche Bildersammlung zum Karneval am Niederrhein. In der Nachbarschaft Essen sind im Markt- und Schaustellermuseum Karusselle, Karusselltiere und Jahrmarkts-Spielautomaten, aber auch Moritatentafeln, Marktkarren, Transportmaschinen und Gerätschaften von Märkten und Kirmessen bis hin zu Wanderkinoausrüstungen und Schaustellerwohnwagen neben Urkunden, Zeitungsausschnitten, Plakaten und Flugblättern zu sehen. Auch Drehorgeln, Rückenklaviere und Walzenorgeln fehlen nicht.

Eisenbahnnostalgiker und Liebhaber historischer Züge kommen im Eisenbahnmuseum Bochum-Dahlhausen voll auf ihre Kosten. Auf dem ehemaligen Betriebsgelände der Reichsbahn sind nicht weniger als 200 historische Fahrzeuge ausgestellt. Daneben können ein Ringlokschuppen mit Drehscheibe, aber auch Güterwagons und Personenwagen in Augenschein genommen werden. Als besonderes Bonbon locken zwischen April und November Fahrten mit dem nostalgischen Dampfzug oder dem Schienenbus, die als einzige historische Bahn in Deutschland fahrplanmäßig an Wochenenden zwischen dem Museum und Hagen verkehrt.

Auf einem ehemaligen Bauernhof in Sonsbeck ist heute das größte Traktorenmuseum Deutschlands untergebracht. Die stolze Sammlung umfasst mehr als 200 Landmaschinen von Kleingeräten bis zu Mähdreschern sowie 230 Traktoren bekannter Marken wie Fendt oder Lanz, deren Ältester Baujahr 1924 ist. In dem knapp vier Hektar großen Park werden auch Traktoren- und Geschicklichkeitsfahren angeboten.

Lohnenswert ist auch ein Abstecher nach Mülheim an der Ruhr. Im über 100 Jahre alten Wasserturm Styrum erschließt sich dem Betrachter Wissenswertes über das „nasse Element”. Auf 14 Ebenen und in 21 Themenbereichen erlebt der Besucher im so genannten Aquarius Wassermuseum die Vielfältigkeit des Wassers mit Hilfe multimedialer Technik auf spielerische Weise. So kann versuchsweise die Wasserversorgung einer ganzen Region gesteuert werden. Und noch etwas sollten sich Besucher in Mülheim nicht entgehen lassen: Die Camera Obscura. Der alte Broicher Wasserturm im MüGa-Park beherbergt seit 1992 die größte begehbare Camera Obscura der Welt. Mittels einer in der Kuppel angebrachten Spiegeloptik wird das 360 Grad Panorama der Stadt auf einem Projektionstisch gestochen scharf abgebildet. Auf den drei weiteren Ebenen im Turm ist die herausragende Ausstellung zur Vorgeschichte des Films aus der Sammlung „S” des Wuppertalers KH.W. Steckelings zu bestaunen.

Als bedeutendstes Museum ostkirchlicher Kunst auβerhalb der orthodoxen Länder bietet das Ikonenmuseum in Recklinghausen über 1.000 reich verzierte Exponate. Neben Ikonen sind auch kunstvolle Stickereien, russische und griechische Metall- und Holzarbeiten sowie Holzschnitzereien zu sehen. Selbst wer dem Glauben dieser Kirchen nicht angehört, wird beim Anblick der reich verzierten Meisterstücke Bewunderung empfinden.

Als „jüngstes Kind” der große Dortmunder Museums-Familie öffnete im Jahre 2006 das Brauerei-Museum in der Maschinenhalle der ehemaligen Hansa-Brauerei seine Pforten. Die Ausstellung ist der Brautradition in der Westfalenmetropole gewidmet, die phasenweise den größten europäischen Ausstoß verzeichnen konnte. Neben einem Streifzug durch die Geschichte der Dortmunder Brauereien fehlt natürlich auch der Einblick in die eigentlichen Herstellungsprozesse des Bieres und hier insbesondere der industriellen Technik nicht.

In Wetter an der Ruhr wurde unterdessen mit dem Henriette-Davidis-Museum Deutschlands berühmtester Köchin des 19. Jahrhunderts ein Denkmal gesetzt. Im Mittelpunkt der Ausstellung steht das Leben und Wirken von Henriette Davidis (1801-1876), die mit ihrer Arbeit entscheidend mithalf, das Frauenbild in Deutschland zu verändern. Neben Küchenutensilien und Einrichtungsgegenständen aus dem 19. Jahrhundert verfügt das Museum über nicht weniger als 7.000 hauswirtschaftliche Bücher.

Eine Besonderheit hat auch die Stadt Bottrop aufzuweisen. Den meisten ist die Ruhrgebietsmetropole eher aufgrund des Movie Parks Germany und der größten Skihalle in Deutschland ein Begriff. Dabei verfügt Bottrop noch über eine weithin sichtbare Landmarke: Als „Krönung” der Halde Emscherblick ragt die Stahlkonstruktion des Tetraeders gut 50 Meter in den Himmel. Spaziergänger können nicht nur über ein umfangreiches Wegesystem und in Serpentinen die Halde erklimmen, sondern sogar selbst in den Tetraeder hinaufsteigen. Diese begehbare Stahlkonstruktion, das Werk des Architekten Wolfgang Christ, verfügt über drei Aussichtsplattformen, wobei die oberste auf 38 Metern Höhe liegt. Der schweißtreibende Aufstieg fordert ein wenig Fitness. Auch eine kleine Portion Mut und Schwindelfreiheit sind gefragt. Die grandiose Aussicht über das gesamte Ruhrgebiet ist aber die satte Belohnung! Denn nicht nur von hier oben gilt: Im Ruhrgebiet gibt es einiges zu entdecken – und dies für eine Hand voll Euro!

Allgemeine Informationen: www.ruhrgebietstourismus.de.

Lage: Natürlich begrenzt wird das Ruhrgebiet durch die Flüsse Ruhr im Süden, Rhein im Westen und Lippe im Norden. Die östliche Ausdehnung des Ruhrgebiets reicht bis an die Linie Hagen-Hamm. Im Südosten grenzt es an das Sauerland, im Südwesten an das Bergische Land, im Westen reicht das Ruhrgebiet bis weit in die Region Niederrhein hinein und im Norden bis in das Münsterland. Die West-Ost-Ausdehnung von Sonsbeck bis Hamm beträgt 116 km, die Nord-Süd-Ausdehnung von Haltern am See bis Breckerfeld 67 km. Die Grenzen des Ruhrgebiets entsprechen im Wesentlichen dem Verwaltungsgebiet des Regionalverbands Ruhr (RVR). Dem RVR gehören die kreisfreien Städte Bochum, Bottrop, Dortmund, Duisburg, Essen, Gelsenkirchen, Hagen, Hamm, Herne, Mülheim an der Ruhr und Oberhausen sowie die Kreise Recklinghausen, Unna, Wesel und der Ennepe-Ruhr-Kreis an.

Literatur: Ulrike Katrin Peters, Karsten-Thilo Raab: Ruhrgebiet für eine Hand voll Euro, Westflügel Verlag,  ISBN 978-3-939408-01-7, bestellen

{google_map}Ruhrgebiet{/google_map}

Karsten-Thilo Raab

berichtet seit mehr als drei Jahrzehnten für eine Vielzahl von Zeitungen und Magazinen über Reiseziele weltweit. Zudem hat er sich einen Namen als Autor von mehr als 120 Reise-, Wander- und Radführern sowie Bildbänden gemacht.