Die Idee ist faszinierend und angsteinflößend zugleich: Paris vom Fahrradsattel aus zu entdecken, hat durchaus seinen Reiz, wäre da nicht das riesige, unkalkulierbare Verkehrsaufkommen in der Millionenmetropole an der Seine. Immerhin hatte Oberbürgermeisterin Anne Hidalgo nach ihrer Wiederwahl im Jahr 2020 offiziell die Verkehrswende für die französische Hauptstadt eingeläutet und fast flächendeckend Tempo 30 durchgesetzt. Allerdings, auch das gehört zur Wahrheit, interpretiert so mancher Auto- oder Motorradfahrer die innerstädtische Geschwindigkeitsbegrenzung eher als launige Empfehlung und ist entsprechend sportlich unterwegs.
Spätestens ab dem Jahr 2023, so der Wille von Paris „Erster Bürgerin“, sollen auf den Straßen der vier zentralen Arrondissement, wie die namenlosen Stadtbezirke in Paris offiziell heißen, nur noch Fußgänger, Radfahrer, Lieferwagen, Busse, Taxis sowie Anwohner verkehren dürfen. Soweit zur Theorie. Doch bis dahin dürfte noch viel Wasser die Seine hinunterfließen.
Gleichwohl lassen sich die Schönheit und Besonderheiten von Paris schon jetzt vom Fahrradsattel aus erkunden. Von der Nordseite des Centre Georges Pompidou geht es zunächst ein kurze Stück über die kleine Rue Rambuteau. Doch bereits beim Abbiegen in die viel befahrene Rue Beaubourg wird deutlich, wie weit Paris noch von Hidalgos Vision entfernt ist. Stoßstange an Stoßstange schiebt sich die Blechlawine südlich Richtung Hôtel de Ville, dem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Stil der Neorenaissance errichteten Rathaus von Paris, dem Amtssitz von Hidalgo. Die Radfahrer dürfen sich hier eine separate Spuren mit Bussen und Taxis teilen, für deren Fahrer Worte wie Vorsicht oder Rücksicht unbekannt zu sein scheinen.
„Es hat sich einiges getan, doch Paris ist noch immer meilenweit von einer fahrradfreundlichen Stadt entfernt“, macht Laurent Guignon auf dem bereits seit 1982 autofreien Platz vor dem Hôtel de Ville seinem Unmut über das Tempo der Umbaumaßnahmen Luft. Gleichzeitig atmet nicht nur der 50-jährige, auf ökologische Themen spezialisierte Guide erleichtert auf, die wohl schwierigste Passage der gut dreistündigen Stadtrundfahrt unbeschadet gemeistert zu haben.
„Allein 6.500 Menschen im Großraum Paris sterben jährlich an Krankheiten, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der Luftverschmutzung stehen“, unterstreicht Guignon die Notwendigkeit einer schnellen Verkehrswende für die französische Hauptstadt. Gleichzeitig verweist er auf Hidalgos lobenswerte Initiative. Schließlich will die Oberbürgermeisterin insgesamt 1.400 Kilometer Radwege in der Seine-Metropole anlegen lassen und hat dafür nicht weniger als 150 Millionen Euro im städtischen Haushalt eingestellt.
Auf der Rue de Rivoli, die den Place de la Concorde vorbei am Louvre und dem Hôtel de Ville mit dem Place de la Bastille verbindet, hat die Zukunft bereits begonnen. Ein Radweg, der mit Kantsteinen von der Straße getrennt ist, verläuft in beide Richtung. Und schon ist vom Fahrstress keine Spur mehr.
Entspannt geht es über die Rue de Birague zum Place des Vosges. Der prachtvolle, quadratische Platz mit Park im Stadtteil Marais ist der älteste und wohl auch königlichste Platz der französischen Hauptstadt. Angelegt wurde dieser von Louis Métezeaua auf Geheiß von König Heinrich IV. in den Jahren 1605 bis 1612. Die 36 Stadtpalais in dem 140 mal 140 Meter großen Karree sind (nahezu) baugleich. Die dreigeschossigen Häuser bestechen durch ihre Backsteinfassaden und die Arkaden im Erdgeschoss.
Nächste Station ist der nahegelegene Place de la Bastille. Der heute von einer geschäftigen Straße und der neuen Oper gesäumte Platz beheimatete dereinst eine befestige Stadttorburg, die Bastille, die später als Staatsgefängnis genutzt wurde. Obschon dieses Fleckchen mit dem „ Sturm auf die Bastille“ am 14. Juli 1789, der als Beginn der Französischen Revolution gilt, Eingang in die Geschichtsbücher fand, ist hier heute von der historischen Bedeutung nicht mehr viel zu spüren. Lediglich ein paar metallene Punkte auf dem Boden markieren, von den Passanten fast unbemerkt, den Grundriss der legendären Bastille.
In der Mitte des Platzes erhebt sich die 52 Meter hohe Julisäule. Die im Jahre 1840 errichtete „Colonne de Juillet“, soll an die dreitägige Julirevolution von 1830 erinnern, die zum Sturz von König Karl X. und zur Einsetzung des „Bürgerkönigs“ Ludwig Philipp führte. In die Kupfersäule sind in Gold die Namen der 504 Opfer des Aufstands eingraviert. Ganz oben auf der Säule thront eine knapp sechs Meter große Blattgold-Figur, die den „Geist der Freiheit“ darstellt und die „gerissene Kette der Tyrannei“ in die Höhe hält.
Weiter geht es über die Rue de Charenton zur Avenue Daumesnil, wo mit dem Viaduc des Arts eine Besonderheit wartet. Der heutige „Viadukt der Künste“ war einst Teil der Bahnlinie zum früheren Kopfbahnhof Gare de la Bastille. Nach dessen Abriss blieb ein 1.300 Meter langes Teilstück mit knapp 70 Bögen und zwei Metallbrücken erhalten.
„Die Gewölbebögen wurden zu rund 50 Ladenlokalen umgebaut, die Schienen rausgerissen und die einstige Bahntrasse auf dem Viadukt in eine bepflanzte Promenade mit Parkcharakter umgewandelt“, schwärmt Guignon von der Pionierleistung des Landschaftsarchitekten Philippe Mathieux und Jacques Vergely. Eine Blaupause dieser städtebaulichen Besonderheit sei der im Jahre 2014 eröffnete High Line Park in New York.
An den Viaduc des Arts schließt sich ein knapp 4,5 Kilometer lange Wander- und Radweg, der Coulée verte René-Dumont, an. Im Stadtbezirk Picpus geht es dann kreuz und quer über ruhige Nebenstraßen, wo in der Rue Edouard Robert mit der Boutique sans argent ein Kuriosum zu finden ist. Denn in diesem (Second-Hand-) Laden ist alles kostenfrei. Jeder kann einfach mitnehmen, was er mag oder gebrauchen kann.
Weiter geht es über den Boulevards des Maréchaux zur Pont National, wo der Blick auf die Seine fällt. „Leider“, so Guignon, „ist der weltberühmte Fluss alles andere als ein Vorzeigegewässer.“ Die Wasserqualität ließe nach wie vor zu wünschen übrig, Baden sei nicht erlaubt und Fische aus der Seine dürften weder verzehrt noch verkauft werden, berichtet der bekennende Umweltschützer.
Am gegenüberliegenden Seine-Ufer erhebt sich die Nationalbibliothek. Die nach ihrem Initiator benannte „Bibliothèque nationale François Mitterrand“ besteht aus vier baugleichen, jeweils 79 Meter hohen l-förmigen Türmen, die aufgeschlagene Bücher symbolisieren.
„Zwischen den Gebäudeteilen wurde ein zwölf Hektar großer Kiefernwald angelegt, was eigentlich großartig ist“, so Guignon, der im gleichen Atemzug auf die Tatsache verweist, dass die Treppen zu dem fast sechs Hektar großen Areal aus seltenem Holz aus dem brasilianischen Regenwald gefertigt worden seien. „Damit wird das Anpflanzen der Kiefern ad absurdum geführt“, ärgert sich der passionierte Naturfreund.
Vorbei am Bahnhof Gare d’Austerlitz wird nun der Endspurt an der Seine entlang zur Flussinsel Île de la Cité mit der markanten Kathedrale Notre-Dame eingeläutet, ehe es vorbei am Justizpalast zurück zum Ausgangspunkt im Schatten des Centre Georges Pompidou geht. Was eigentlich schade ist, schließlich war der kleine Tross nach der anfänglichen Skepsis doch so richtig in Tritt gekommen. Aber es gibt ja noch mehr, was in Paris vom Fahrradsattel aus entdeckt werden kann…
Allgemeine Informationen: www.parisinfo.com
Anreise: Von Deutschland aus ist Paris entspannt und umweltfreundlich mit dem Thalys erreichbar. Der Schnellzug verbindet Köln, Düsseldorf, Duisburg, Essen und Dortmund sowie Aachen mehrmals täglich mit der französischen Kapitale. Tickets sind ab 51 Euro erhältlich.
Fahrradverleih: In Paris finden sich überall im Stadtgebiet verteilt rund 1.400 Verleihstationen mit mehr als 30.000 Rädern, die über eine App gemietet und an verschiedenen Stellen im Stadtgebiet wieder abgestellt werden können. 24-Stunden-Tickets kosten 5 Euro. Informationen unter www.velib-metropole.fr.
Fahrradtour: Paris Bike Tour, 3 rue de Brantôme, 75003 Paris, Telefon 0033-1-42742214, www.parisbiketour.net. Unweit vom Centre Georges Pompidou gelegen, bietet das kleine Unternehmen geführte Touren durch Paris ab 33 Euro pro Person an. Leihräder stehen ab 18 Euro pro Tag zur Verfügung.
Ecolo Tour Paris: Laurent Guignon bietet zu Fuß und mit dem Rad individuelle Stadtführungen unter ökologischen Aspekten an. Telefon 0033-68-2602877, lo.guignon@free.fr
Essen & Trinken: Restaurant Douze, 2 Passage Emma Calvé, 75012 Paris, Telefon 0033-1-45312400, www.douze.paris. Wechselnde regionale und ökologische Produkte stehen auf der kleinen Speisekarte des Nachbarschaftsprojekts.
Creatures, 25 Rue de la Chau. d’Antin, 75009 Paris, www.creatures-paris.com. Dinner mit Aussicht auf den Eiffelturm, die Oper, und Sacre Coeur bietet das Restaurant auf dem Dach der berühmten Galeries Lafayette. Serviert werden vornehmliche vegetarische Gerichte und mediterrane Küche.
Les Bariolés de Maud, 8 Rue Saint-Bernard, 75011 Paris, www.lesbariolesdemaud.fr. Bekannt für eines der besten und kreativsten Brunch-Angebote der Stadt.
Übernachten: Hôtel de la Porte Dorée, 273 Avenue Daumesnil, 75012 Paris, www.hoteldelaportedoree.com. Direkt an der gleichnamigen Metro-Station gelegenes Drei-Sterne-Haus.
Eden Lodge Paris, 175 Rue de Charonne, 75011 Paris, www.edenlodgeparis.net. Modernes und stylishes Ökohotel.
Karsten-Thilo Raab
berichtet seit mehr als drei Jahrzehnten für eine Vielzahl von Zeitungen und Magazinen über Reiseziele weltweit. Zudem hat er sich einen Namen als Autor von mehr als 120 Reise-, Wander- und Radführern sowie Bildbänden gemacht.