Normalerweise ist es ein ruhiges, unaufgeregtes Dorf, dieses Oberammergau im Ammertal, eingefasst von sanften Bergketten. Jetzt aber, wie alle zehn Jahre, herrscht Ausnahmezustand. Die weltberühmten Passionsspiele, die auf ein Gelübde der Gemeinde nach einer Pestepidemie im 30-jährigen Krieg zurück gehen, locken seit 400 Jahren ein halbes Jahr lang Hunderttausende Besucher aus aller Welt in die 5.000-Seelen-Gemeinde bei Garmisch-Partenkirchen. Nach der Schockstarre in 2020 ist Energie, Spannung und Leidenschaft der Bürger zurückgekehrt, die Faszination ist ungebrochen.
Auffallend viele Männer, junge und alte, laufen mit langen Haaren und Bärten durch die Gassen. Jeder, der mitspielt, verpflichtet sich nach altem Haar- und Barterlass, ab Aschermittwoch des Passionsvorjahres nicht mehr zum Friseur zu gehen. Mit der Haarpracht wächst der Zusammenhalt im kleinen Bergdorf.
Der Wahnsinn nimmt jetzt seinen Lauf – die letzten fünf Tage im Leben Jesu werden endlich erzählt! Die Technik sitzt, die Bühnenbilder geschnitzt und gezimmert, die Proben der Darsteller, Musiker und Chöre beendet, mehr als .1500 Kostüme geschneidert und angepasst. Von Mitte Mai bis Anfang Oktober werden sie auf der Bühne stehen und in sage und schreibe 103 Aufführungen ihr Bestes geben. Regie führt Christian Stückl. Ein Heimspiel für den 60-jährigen, denn er ist, wie alle anderen auch, gebürtiger Oberammergauer. Sein Hauptberuf: Intendant des Münchner Volkstheaters.
Nach drei Passionen hat Stückl noch einmal die Aufgabe übernommen, das halbe Dorf zu dirigieren, fit zu machen für die fünfstündige Aufführung vor 4.500 Zuschauern. Allein auf der imposanten Open-Air-Bühne stehen rund 2.100 einheimische Laiendarsteller, Sänger und Musiker. „Die 20 tragenden Rollen sind gleichberechtigt doppelt besetzt, also muss ich mit 40 Darstellern intensiv arbeiten, dazu kommen noch knapp 100 andere Sprechrollen – und die vielen Kinder“, lacht Stückl. Die meisten von ihnen führen seit letztem Februar ein Doppelleben: tagsüber sind sie Bauern, Bäuerinnen, Holzschnitzer oder Touristiker, abends schlüpfen sie in ihre Kostüme und Rollen.
Viele haben Familien, die bereits bei früheren Spielen dabei waren. Einige lernen wir kennen: Anton Preisinger, Besitzer des ortsältesten Gasthauses „Zur Alten Post“ etwa, der den römischen Statthalter Pontius Pilatus spielt. Früher war er der Priester Archelaus, dann Judas und wieder zehn Jahre später der Hohe Priester Kaiphas, der geistliche Gegenspieler von Jesus. „Unsere Familie ist spielfreudig. Der Großvater gab 1950 und 1960 den Christus, mein Vater fand den Pilatus genauso großartig wie ich heuer; und mein Sohn Anton spielt den Johannes. Oder Christian Stückls Eltern: Vater Peter stand über die Jahrzehnte in verschiedenen Rollen auf der Bühne, dieses Mal gibt der fast 80-jährige den geifernden Hohenpriester Annas, seine Frau Roswitha eine glühende Jesus-Verehrerin.
Den Frederik Mayet sodann, der im Wechsel mit Rochus Rückel Jesus verkörpert. „Ich fühle mich sehr geehrt, ein zweites Mal diese Figur zu gestalten“, betont der 40-jährige Mayet, im echten Leben Stückls Pressesprecher in München. Auch dieses Mal fragt er sich, wie man Jesus darstellt. Die aktuelle Kriegssituation hat das Stück brisanter gemacht, verändert aber nicht das Spiel. Die Texte sind aktueller denn je: „Es herrscht eine Zeit der Angst in Israel, Kriegsgeschrei erfüllt das Land, Armut und Krankheit raffen Euch dahin und ihr hungert und dürstet nach Gerechtigkeit“.
„Wir wollen mit Lust, Kraft und Freude spielen, dann entsteht ein magischer Moment, der hoffentlich auf‘s Publikum überspringt“. Welche sind die schwierigsten Szenen? „Die Händler laut und aggressiv aus dem Tempel zu vertreiben, ist keine Herausforderung“, betont Rochus, der als Jesus sein Debüt gibt. “Stehe ich aber schweigend vor Herodes und muss das länger aushalten, ist das schwer durchzustehen“. – „Allerdings spielt es sich leichter in Kostüm und Kulisse “, weiß Frederik aus Erfahrung.
Da ist Judas alias Cengiz Görür. Als erster Muslim ist er dabei, und hat gleich eine der begehrtesten Partien bekommen. „Sie ist emotionsgeladen, man muss Wut, Power, Hass rüberbringen, ich habe enormen Respekt vor der großen Rolle“, erzählt Cengiz bei einem Kaffee. „Christian sprach mich in einer Eisdiele an und lud mich zum Vorsprechen ein. „Die Religion ist kein Problem, Du wirst eine Rolle in der Passion bekommen, da werden Dir die Ohren schlackern. Die Judasrolle bekommt einfach der Beste, der ihn auf der Bühne darstellen kann, sagte er zu mir“. Dem künftigen Schauspielstudenten liege die Art zu spielen, die kraftvolle Sprache, der besondere Charakter des Judas.
Aber auch Frauenrollen prägen die Spiele, zumal Maria und Magdalena. Bei Maria entschied sich Spielleiter Stückl für die 37-jährige Flugbegleiterin Eva Reiser. Sie war schon 2010 als Magdalena dabei, Gefährtin und engste Vertraute Jesu. „Maria finde ich spannend, weil sie weiß, dass sie Jesus loslassen muss, damit er seinen Weg gehen kann. Und sie weiß, dass er nicht gut enden wird. Das zu begleiten ist schwer und herausfordernd“, sagt die junge Frau.
Geschäftig geht es backstage zu. Beim Tobias Haseidl schließlich, mit dem wir die Galerie der wackeren Oberammergauer beschließen, begann es mit der poppig-roten Riesenviper. Geschnitzt hat sie der Holzbildhauer aus Polyurethan, als „eherne Schlange“, dann in das passende „Lebende Bild“ eingebaut. Gerade zaubert er aus Bauschaum das Rote Meer mit springenden Wellen – in roter Farbe, fantastisch! Auf die Löwen für „Daniel in der Löwengrube“ genauso wie auf die Schlange vom „Paradiesbaum“ ist Haseidl ganz besonders stolz. Die zwölf „Lebenden Bilder“ zeigen Bibelszenen in expressiven Farben und Formen. Entworfen hat sie Chef-Bühnenbildner Stefan Hageneier, der bereits das dritte Mal für die Bühnenästhetik verantwortlich ist.
Im Jahr 2010, als die Welt noch halbwegs friedlich schien, sah man auf der Bühne knalligbunte, satte Farben. Diesmal zeigt er die Tempelanlage in einem hellgrauen Ton, hüllt die Darsteller in Sand- und Erdtöne, die 60 Chormitglieder in strenges Schwarz-Weiß. Als Kontrast zu dem Puristischen vertraut er auf kräftige, hellgrelle Expressivität bei den „Lebenden Bildern“. Mit ihnen will der Bühnenbildner erstmals eine durchgehende Geschichte erzählen, die von der Vertreibung, Versklavung und Flucht der Israeliten handelt. – Das letzte Wort hat Magdalena: “Halleluja! Er ist erstanden!“, der Vorhang fällt, das Publikum schweigt…
Allgemeine Informationen: www.ammergauer-alpen.de
Passionsspiele: Aufführungen stehen noch bis zum 2. Oktober 2022 täglich außer montags und mittwochs auf dem Programm. Wegen des Besucherantrags bietet das Dorf Pakete an: Eine Eintrittskarte plus eine Übernachtung ab 264 Euro pro Person inklusive Abendessen oder eine Eintrittskarte plus zwei Übernachtungen ab 364 Euro pro Personen plus Abendessen. Einzeltickets sind von 30 Euro bis 180 Euro unter www.passionsspiele-oberammergau.de oder unter Buchungshotline 08822/8359330 erhältlich.
Tipp: Oberammergau ist nicht nur für die Passion bekannt, auch die „Lüftlmalerei“, die Fresken an vielen Hauswänden, sind weltberühmt. Und die Holz- und Herrgottsschnitzer gibt es seit Jahrhunderten.
Katharina Büttel
lebt und arbeitet als freie Reisejournalistin in Berlin. Über 30 Jahre reist sie für ihre Reportagen und Fotos um die Welt – seit vielen Jahren veröffentlicht sie auch im Mortimer-Reisemagazin.