Heinrich Bölls Irland: Ein verrückter Maler

Irland von der schönsten Seite: Achill Island ist ein landschaftlicher Traum im Westen der Grünen Insel.

„Mayo, God help us“, sagten die Iren in jenen 1950er-Jahren als der deutsche Schriftsteller Heinrich Böll mit seiner Familie unter beschwerlichen Umständen quer durch Irland reiste und sein Ziel angab. Dort „irgendwo im Westen“ hatten die Bölls ein Haus gemietet. Und wann immer der Name fiel – Mayo – wurde er beantwortet durch einen Augenaufschlag und das Murmeln des irischen Gegenübers. Von einem Fahrtkartenkontrolleur, vom Bahnhofsvorsteher, einem Verkäufer von Comic-Heftchen und zuletzt von einem Kutscher verriet dieses „Mayo – God help us“ etwas, das die Familie „ein wenig bang“ werden ließ.

Doch es sollte anders kommen. Mayo geriet zur zweiten Seelenheimat des Schriftstellers, der sich die zeitweilige Auswanderung aus dem vom Nachkrieg gezeichneten Köln durch erste Erfolge leisten konnte. Und Mayo wurde zum Schlüssel für den Erfolgsroman „Irisches Tagebuch“. Er hat Millionen Menschen beeinflusst und begeisterte sie für Irland. Und er hat die über einen schmalen Sund zugängliche Halbinsel Achill Island geehrt. Bis heute.

Auch herrlich gelegene Strände finden sich in diesem Teil von Irland.

Szenenwechsel: Die beiden älteren Ladies Mary Lavelle-Burke und Sheila McHugh, beide Mitglieder der Achill Boell-Association, plaudern auf Gälisch bei einem familiären Festmenü in Bervie‘s Guesthouse in Keel, genau dort, wo die Familie Böll nach einer Woche Reise ankam und ihr gemietetes Cottage bezog. Erst kürzlich hat der deutsche Botschafter Matthias Höpfner mit dem Stiftungskomitee eine Erinnerungsplakette an der Pforte des alten und liebevoll restaurierten Bervie-Cottage für den deutschen Nobelpreisträger enthüllt.

Ob der landschaftlichen Pracht von Achill Island fiel es Heinrich Böll nicht schwer, sich hier wohl zu fühlen.

Keel liegt vor einer sichelförmigen weißen Bay, die von mächtigen zerklüfteten Felsen eingefasst ist. Wenn sich zuweilen ein doppelter Regenbogen über der Bucht aufspannt und die Sonne über das Wasser gleißt, wirkt der Anblick geradezu magisch. Vier Monate blieben die Bölls in Keel, und der Schriftsteller verfasste die ersten irischen Erzählungen, die bald in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlicht wurden. Darin versammelte sich eine irische Gesellschaft, von der die Welt noch nicht viel erfahren hatte.

Da gab es den durstigen Seamus, der meist über den Berg Slieve Mór in den Nachbarort pilgerte, weil er nach dem Pubgesetz dort als Fremder galt und somit länger trinken durfte. Oder da war Padraic, der nach dem fünften Bier wissen wollte, ob Böll nicht alle Iren für halb verrückt hält. Da waren die Moorbauern und Torfstecher und die junge Ehefrau des Dorfarztes, die bange Nächte durchlitt, wenn ihr Mann bei Noteinsätzen auf dem waghalsig am Rand hoher Klippen über die Insel geschlängelten Altantic Drive unterwegs war.

Ein Stück Bilderbuch-Irland am Sand-Kies-Strand.

Diese wilde, schroffe und dennoch anmutige Landschaft zu durchfahren, ist auch heute noch ein kleines Abenteuer und ein sensationelles Erlebnis. „Jahrmillionen alt ist diese Wut“, schrieb Böll über die Gewalt des Atlantiks, der in Achill allgegenwärtig ist. Auch Keel mag sich seit der Zeit des „Irischen Tagebuches“ nur wenig verändert haben. „Nicht wirklich“, sagt Mary, „nur geht man mittags nicht mehr ins Pub, man hat uns das Rauchen abgewöhnt und die Macht der Kirche ist etwas gebrochen.“

Noch immer bildet Bervie‘s das Herzstück des Dorfes, ansonsten gibt es noch einen Mini-Einkaufsladen, ein einziges Pub und das Beehive Café mit Sonnenterrasse, wo die Johannisbeeren eines üppigen Red Currant Crumble auch den nimmersatten frechen Spatzen gefallen. Um die Hausecken trotten ein paar Schafe, in einem Vorgarten wächst zeitlos der „Wild Rhubarb“, ein unbezähmbares stacheliges Rhabarbergewächs, „eine Pest“ wie Elizabeth, die Hausherrin des Bervie‘s mit Augenaufschlag ruft, als müsse sie ab und an doch dieses „Mayo, God help us“ zitieren, damit die alte Welt des Inselkosmos wieder aufscheint.

Blühende Landschaften gab es in diesem Teil von Mayo auch zu Zeiten von Heinrich Böll.

Denn da gibt es auch das Deserted Village. Ein verlassenes, zerfallendes Dorf, das aus der schweren Zeit der irischen Emigration im Gedächtnis der Insel eingegraben ist. Es zu besichtigen, wird zu einem elegischen Spaziergang durch die Moorheide auf die baumlosen Hänge des Slieve Mór. Neben dem zweiten Inselberg Minaun und dem dritten Croaghaun ist auch er, wie Böll es formuliert hat, „wild und wie für den Hexensabbat geschaffen, mit Moor und Heide bedeckt“.

Im „Irischen Tagebuch“ heißt dieses Kapitel „Das Gebein einer menschlichen Siedlung“. Und der Autor malt es in Gedanken aus. Mit Tupfern von grauen Drei- und Vierecken am grünlich-grauen Berghang, aus braunen Tupfern für den Torf und roten Tupfern für den Pullover eines Mädchens, das mit einer Kiepe auf dem Rücken den alten Dorfweg heran kommt. „Würde jemand das zu malen versuchen (…) man würde ihn für einen ganz außerordentlich verrückten Maler halten: so abstrakt ist also die Wirklichkeit.“

Ein bisschen scheint auf Achill Island die zeit still zu stehen.

Szenenwechsel zurück zu Mary und Sheila vom Boell Committee, die heute auch die Geschicke jenes Cottages lenken, das sich die Familie Böll nach einiger Zeit im Inselnest Dugort vor einer wahrhaft goldenen Bay kauften. Heute vergibt es die Boell Association an Stipendiaten der Literatur und Kunst, damit sie sich eine kleine Inspirationsphase gönnen können. Das Cottage ist rührend mit Andenken, Fotos und Faksimiles des Schriftstellers versehen, ist aber der Öffentlichkeit nicht zugänglich.

Buchtipp: Der ultimative Reiseführer für die Grüne Insel

Viel umfangreicher und geballter findet sich wohl kaum (Reise-) Wissen über die Grüne Insel als in dem brandneu erschienenen Reiseführer Inselspuren – Entdeckungstouren durch Irland und Nordirland von Karsten-Thilo Raab: „Ein Fremder ist ein Freund, dem man bisher noch nicht begegnet ist“, lehrt der irische Volksmund. Tatsächlich ist dies kein bloßes Lippenbekenntnis. Wer über die Grüne Insel reist, wer durch die herrlichen Nationalparks, durch die ausgedehnten Moorlandschaften wandert, wer auf den Spuren der Kelten versucht, das reiche kulturelle Erbe der Insel, das von weit mehr als 9.000 Jahren der Besiedlung zeugt, kennen zu lernen oder einfach bei einem Pint in einem der urgemütlichen Pubs Entspannung sucht, wird schnell feststellen, dass dies keine leeren Worte sind. InselspurenIm Gegenteil, die Iren sind für ihre Aufgeschlossenheit und ihre Kontaktfreudigkeit bekannt. Die dünn besiedelte Insel im Westen Europas hat aber noch andere Pfunde, mit denen sie wuchern kann: eine schier nie enden wollende Zahl an Mythen und Legenden.

Hinzu kommen ebenso abwechslungsreiche wie grandiose Landschaften, die in mehr als 40 verschiedene Schattierungen von Grün getaucht sind, und ein Klima, das ganz wesentlich von den Ausläufern des warmen Golfstroms geprägt wird. Die zahlreichen Berge, Heidelandschaften, Seen, Flüsse, einsame Buchten und wildromantischen Küstenabschnitte sind ein Paradies für Naturliebhaber. Wanderer, Radfahrer und Reiter kommen hier ebenso auf ihre Kosten wie Freizeitkapitäne, Angler und Wassersportler. Daneben bieten pulsierende Metropolen und Städte wie Dublin, Belfast, Galway, Londonderry und Cork, aber auch verträumte Orte und Örtchen wie Kilkenny, Kinsale oder Dingle einen stimmungsvollen, nicht minder faszinierenden Kontrast. Und überall heißt es: „Ceád Míle Fáilte“ – Tausend Mal willkommen!

Erhältlich ist der 388 Seiten starke Reiseführer Inselspuren – Entdeckungstouren durch Irland und Nordirland (ISBN 978-3-939408-90-1) von Karsten-Thilo Raab ab sofort für 19,99 Euro im Buchhandel oder versandkostenfrei beim Westflügel Verlag.

 

G. Schröder

ist seit Kindestagen mit dem Reisevirus infiziert und bringt sich seit Jahr und Tag mit großem Engagement als gute Seele hinter den Kulissen in das Mortimer Reisemagazin ein.