Irland in Zeiten des Aufbruchs und Nora in Zeiten der Selbstbestimmung

Nora Webster„Der Unterschied zwischen dem richtigen Wort und dem beinahe richtigen ist derselbe Unterschied wie zwischen dem Blitz und einem Glühwürmchen“ sagte eins Mark Twain. Wenn diese Regel auch bei einem Roman, bei einem Frauencharakter gilt, dann ist Colm Tóibín ein echter Blitz gelungen. Seine störrische, eigensinnige Heldin in Nora Webster muss sich in dem gleichnamigen Roman in einer Zeit beweisen und emanzipieren, in dem ihr Heimatland Irland sich im Aufbruch befindet.

Als ihr Mann und Vater ihrer vier Kinder viel zu früh verstirbt, muss Nora nicht nur über den Verlust der Liebe ihres Lebens hinwegkommen. Im provinziellen Irland der Sechzigerjahre muss sie zudem versuchen, ein selbst bestimmtes Leben als Frau und Mutter zu führen. Sie verfällt in einen Schockzustand, sucht sich einen Job, und färbt sich die Haare um jünger auszusehen. Damit ist der Skandal in der Kleinstadt, in der jeder jeden kennt und sie auf Schritt und Tritt beobachtet wird, vorprogrammiert.

Nora, katholisch und gleichzeitig unkonventionell, sucht mit grimmiger Intelligenz neue Wege für sich und ihre Kinder. Vor allem aber wächst sie über ihre Rolle als Mutter und Witwe langsam hinaus. Colm Tóibín gelingt das Porträt einer Frau, die sich allen widrigen Umständen zum Trotz die Echtheit ihrer Gefühle bewahrt und so schließlich Unabhängigkeit erlangt. Ein literarisches Meisterwerk! Kein Wunder, dass Tóibín in seiner irischen Heimat zu den wichtigsten Autoren der Gegenwart zählt.

Erhältlich ist Nora Webster (ISBN 978-3423146296) von Colm Tóibín für 12,90 Euro im Buchhandel oder direkt beim dtv Verlag.