Fünf Millionen Schritte über den Appalachian Trail

Appalachian Trail
Stolz recken die Schweizer Andreas Zimmermann und Ursula Wanner die Arme hoch nachdem sind den kompletten Appalachian Trail erfolgreich bezwungen haben.

Die Schweizer Andreas Zimmermann und Ursula Wanner haben die 2.167 Meilen des Appalachian Trails, des längsten durchgehend markierten Wanderweges der Welt, in 178 Tagen zu Fuß gemeistert: Gut 3.500 Kilometer auf Schusters Rappen durch 14 US-Bundesstaaten. Ein Abenteuer, das schon viele zuvor probiert haben, an dem aber nicht wenig verzweifelten. Nicht so die beiden Eidgenossen, die das Erlebte während des halbjährige Gewaltmarsches in dem 228 Seiten starken Buch Der Appalachian Trail (ISBN 978-3-347-22154-3), das im Tredition Verlag erschienen ist, zusammengetragen haben. Das Mortimer Reisemagazin sprach mit Andreas Zimmermann über die Motivation, Hintergründe, Höhen- und Tiefpunkte dieses Outdoor-Abenteuers:

Gleich die ersten Tage durch Georgia wurden ob des bescheidenen Wetters zu einem ersten Stresstest.

Mortimer: „Was war die Motivation, den Appalachian Trail unter die Füße zu nehmen?“
Zimmermann: „Wir schreiben das Jahr 1988. Ich war mit meinem Kanu unterwegs, ganz alleine, 1.500 Kilometer, von Dawson City in Kanada nach Tanana in Alaska. Es war der 7. September und die ersten Herbststürme zogen über den Yukon. Der Wind türmte die Wellen gefährlich hoch auf und die Gischt spritzte mir ins Gesicht. Zwei Mal konnte ich nur mit Not ein Kentern meines Kanus vermeiden und ich hatte das Gefühl, um mein Leben zu paddeln. Am späteren Nachmittag entdeckte ich ein verlassenes Fishcamp der Athabasken-Indianer. Es war mit dem Namen Elsie Pitka angeschrieben und machte keinen besonders einladenden Eindruck. In meiner momentanen Lage war es aber genau das Richtige. Am wärmenden Lagerfeuer konnte mir das einsetzende Schnee- und Hagelwetter nichts mehr anhaben und ich fühlte mich rundum glücklich und zufrieden. Beim Herumstöbern fand ich ein altes, vergilbtes National Geographic-Magazin mit einem Bericht über den Appalachian Trail. Und genau seit jenem Abend liess mich die Idee, diesen legendären Weg zu gehen, nicht mehr los …“

Appalachian Trail
Tierische begenungen entschädigten ein wenig für den Unbill des Wetters.

Mortimer: „Wie haben Sie sich auf die Herausforderung vorbereitet?“
Zimmermann: „Außer mit einigen kurzen Wanderungen mit leichtem Gepäck haben wir uns überhaupt nicht vorbereitet. Wenige Tage vor unserer Abreise konnten wir auch erst die gesponsorten Schuhe beim Hersteller abholen. Unsere Fitness wird sich wie von selbst von Tag zu Tag verbessern, dachten wir, und so war es auch. Wir sind einfach langsam gestartet.“

Appalachian Trail
Die Karte zeigt denVerlauf des Appalachian Trais durch den Osten der USA.

Mortimer: „War Ihnen bewusst, dass Sie für die Strecke gut ein halbes Jahr brauchen würden?“
Zimmermann: „Das war uns durchaus bewusst und wir haben dies auch so geplant. Entsprechend aufwändig gestaltete sich auch die Beschaffung der Visa. Ein normales Touristenvisum reichte da nicht.“

Appalachian Trail
Am Startpunkt ahnten die beiden Schweizer noch nicht, welche Strapazen auf sie zukommen würden.

Mortimer: „Wie groß war Ihr Gepäck?“
Zimmermann: „Am Anfang wog meine Rucksack 25 kg, der meiner Lebenspartnerin Ursula 20 kg. Ziemlich rasch versuchten wir, das Gewicht zu reduzieren und schickten Überflüssiges nach Hause. Viel leichter wurden die Rucksäcke jedoch nicht, denn wir erhöhten jetzt unsere Essensrationen. Erst mit Anbruch des Sommers konnten wir viel Gewicht einsparen. Wir schickten all unsere warmen Kleider, die Schlafsäcke und sogar die Regenkleidung postlagernd in den Norden, nach Hanover (NH) an den Beginn der White Mountains. Das Packvolumen des Rucksacks ließ nur eine geringe Kleidermenge zu.“

Der Appalachian Trail führt im ahrsten Sinne des Wortes über Stock und Stein.

Mortimer: „Wie haben Sie unterwegs die Wäsche gereinigt?“
Zimmermann: „Wir führten von allem zwei Garnituren mit, trugen aber meist Tag und Nacht dasselbe. Beim Trampen in eine Ortschaft zum Einkaufen haben wir jeweils die Kleider gewechselt und die schmutzigen, stinkigen Sachen in einem Waschsalon gewaschen.“

Die Begenungen mit Schlangen verliefen allesamt unproblematsich.

Mortimer: „Wie haben Sie sich unterwegs ernährt?“
Zimmermann: „Zum Frühstück gab es eine große Portion heißes Müsli (Mischung aus Haferflocken und Granola), je ein Bagel (rundes Brötchen mit Loch) oder Fladenbrot mit Käse, Salami und Mayonnaise, eine heiße Schokolade. Zum Lunch gönnten wir uns je zwei Schokoladeriegel, je zwei Müsliriegel, bei Kälte je eine Nudelsuppe, Trailmix (selbst gemachte Mischung aus Nüssen, Trockenfrüchten und Smarties), ab und zu Bagels mit Käse und Salami, Isotonische Getränke (mit Pulver angerührt). Und zum Abendessen gab es oft Nudelsuppe, die wir mit Kartoffelflocken eindickten und mit viel Flüssigmargarine kalorienmässig aufmotzen.

Mit Hilfe des Lagerfeuers wärmten sich die beiden Schweizer nicht nur auch, sondern kochten ihre Mahlzeiten.

Dazu eine Büchse Wiener Würstchen oder Thunfisch (in Öl) und je einen Bagel oder Fladenbrot mit Käse, Salami und Mayonnaise. Zum Dessert eine feine Crème (Jello lässt sich kalt anrühren mit Wasser und Milchpulver) und heiße Schokolade als Schlummertrunk… und dies sechs Monate lang. Jeden Tag dasselbe! Wenn möglich verfeinerten wir unser Essen mit frischen Beeren und Pilzen. Das einzige Lebensmittel ohne Kalorien, das wir mit uns führten, war ein Fläschchen Tabasco.
Außerdem haben wir jede Möglichkeit genutzt, beim Einkaufen in einem Restaurant zu zusätzlichen Kalorien zu kommen.“

An Flussufern bildeten sich hier und da kleine Zeltstädte voller Wanderer.

Mortimer: „Haben Sie unterwegs ausschließlich im Zelt genächtigt?“
Zimmermann: „Wir haben meist im Zelt übernachtet. Vor allem im Frühling und Herbst war es im Zelt wärmer als in den offenen Hütten. Ab und zu haben wir aber auch die Schutzhütten genutzt, die alle zehn bis fünfzehn Kilometer zur Verfügung stehen. Eine schöne Abwechslung waren aber auch die Übernachtungen in den Hostels und einige Male haben wir uns eine Übernachtung in einem Hotel oder Motel geleistet.“

Appalachian Trail
Nicht nur am Barren Mountain ließen sich grandiose Aussichten genießen.

Mortimer: „Wie haben Sie sich unterwegs gewaschen etc.?“
Zimmermann: „Auf dem Trail gab es meist nur eine „Katzenwäsche“ an einem Bach oder einer Quelle, ab und zu ein Bad in einem See. Die Schutzhütten verfügen meist über ein Plumpsklo. Für die Notdurft im Wald haben wir jeweils ein Loch gegraben, das Geschäft erledigt, das Papier ordnungsgemäss verbrannt und alles wieder zugeschüttet.“

Zur Stärkung wurden unterwegs gerne mal wilde Beeren genascht.

Mortimer: „Gab es Probleme mit wilden Tieren? Schlangen? Bären?“
Zimmermann: „Wir haben nur einen einzigen Bären gesehen, obwohl sie in einigen Gebieten sehr häufig vorkommen sollen. Häufig haben wir die harmlosen Black Rat Snakes angetroffen, seltener Klapperschlangen. Die größte Gefahr auf dem Trail sind jedoch die Zecken. Wir kennen einige Wanderer, die sich zweitweise wegen Zeckenbissen und Borreliose in ärztliche Behandlung begeben mussten.“

Die Route führte durch zum Teil unberührte Natur.

Mortimer: „Wie haben Sie sich vor dem Unbill des Wetters geschützt?“
Zimmermann: „Am Anfang und am Schluß der Wanderung hatten wir unsere Regenponchos dabei, die auch die Rucksäcke schützten. Im Sommer waren wir dann ohne Regenschutz unterwegs, was ein Fehler war, denn wir erlebten den naßesten und kältesten Sommer seit Jahrzehnten.“

In Harpers Ferry war die Hälfte des Gewaltmarsches geschafft.

Mortimer: „Haben Sie bei heftigen Regen oder eisiger Kälte pausiert?“
Zimmermann: „Wir sind bei allen Witterungsbedingungen gewandert. Bei Kälte ist es sowieso das Beste, in Bewegung zu bleiben. Einzig vor Gewittern haben wir jeweils in einer Hütte Schutz gesucht und abgewartet, bis es vorüber war.“

Nasse Füße gab es nicht nur beim Durchqueren des Big Wilson Steams.

Mortimer: „Gab es gesundheitliche Probleme? Blasen an den Füßen? Rückenschmerzen?“
Zimmermann: „Von Blasen wurden wir weitestgehend verschont. Ursula hatte überhaupt keine gesundheitlichen Probleme. Ich selber hab mir bei einem Misstritt eine Sehne oder einen Muskel am linken Schienbein gezerrt und ziemlich lange darunter gelitten. Ein Mitwanderer gab mir einige Pillen mit dem Wirkstoff Naproxen, was das Problem endgültig beseitigte. Außerdem löste eine Passage durch eine Wiese mit blühenden Gräsern bei mir einen heftigen Anfall von Heuschnupfen aus, der mich beinahe in die Knie zwang. Auch da konnte ein hilfsbereiter Mitwanderer mit Antihistamin aushelfen.“

In einigen Teilabschnitten waren auch Kletterkünste gefragt.

Mortimer: „Gab es unterwegs kuriose Begegnungen?“
Zimmermann: „Im Gegensatz zum restlichen Trail schreibt in den Smokies die Parkverwaltung vor, dass Thru-Hiker die Schutzhütten den Touristen zu überlassen haben, wenn der Platz knapp wird. Obwohl es noch Platz in der Cosby Knob Shelter hat, realisierten wir rasch, dass wir hier nicht erwünscht sind. Also stellen wir im strömenden Regen unser Zelt auf. Unsere Stimmung hat wieder einmal einen Tiefpunkt erreicht. Ich hasse diese Touristen, die sind wirklich zum Kot… Am nächsten Morgen zeigte ein Blick in die Hütte, dass meine geliebten Touristen immer noch ihren Rausch ausschliefen. Doch hat sich da nicht etwas bewegt? Tatsächlich, ein dunkles Etwas bewegte sich im Kamin. Ich staunte nicht schlecht, es wart Screamer. Nie hätte ich es für möglich gehalten, dass er es durch die Smokies schafft.

Zhalreiche Schutzhütten bieten Schutz vor Unwetter und eine Schlafgelegenheit.

Seinen Namen hat er erhalten, weil er immer rumschreit und jammert. Screamer ist ein Obdachloser, der in Florida von der Polizei aufgegriffen wurde, weil er sich aus Mülltonnen ernährte, was scheinbar verboten ist. Er erklärte der Polizei, er sei doch völlig harmlos, er wolle nur im Land umherwandern und sich aus Mülltonnen ernähren. Da hat ihn die Polizei von Posten zu Posten weitergeschoben und schlussendlich am Start des Appalachian Trails ausgesetzt, mit den Worten: «Hier kannst du wandern soviel du willst, aber lass dich nie wieder in einer Stadt blicken!» Screamer machte alles andere als einen vertrauenswürdigen Eindruck. Er war voller Dreck, in löcherige Lumpen gehüllt und verströmte einen bestialischen Gestank. Seine Arme und Hände waren  mit etlichen offenen, eitrigen Wunden übersät.

Hier und da bestimmten auch andere das Schritttempo.

«Ich brauche keinen Arzt», erklärte er, «ich pisse auf meine Wunden, das nennt man Urin-Therapie, es gibt keine bessere Medizin.» Seine paar Habseligkeiten waren in einem alten Pullover zusammengeschnürt. Sein Besitz bestand aus einigen zusammengeschnorrten Lebensmitteln, einer Plastikplane als Zelt, Streichhölzern sowie einer alten, zur Pfanne umfunktionierten Konservendose. Das war also Screamer, ein Mann mit enorm scharfem Verstand, eine Existenz, die den Balanceakt auf dem Grat zwischen Genialität und Wahnsinn nicht geschafft hatte. Und genau dieser Screamer stieg nun wie Phönix aus der Asche, respektive aus dem Kamin. Die warme Asche musste ihm jeweils das Überleben der eisigen Nächte ermöglicht haben. Wie er aber das Wandern bei Eis, Regen und Wind überstanden hat, ist mir noch heute ein Rätsel.“

Appalachian Trail
Der Cat Rock gehörten zu den vielen spektakulären Aussichtspunkten entlang des Weges.

Mortimer: „Was waren die schönsten Momente während der Tour, was die schlimmsten?“
Zimmermann: „Der Appalachian Trail ist ein sozialer Weg. Hat man einmal sein Marschtempo gefunden, so trifft man immer wieder dieselben Menschen. Es ist wie eine neue große Familie. Auch Trail Magic ist immer wieder schön.!

Wo immer möglich, diente das Zelt als Nachtlager.

Mortimer: „Was ist Trail Magic?“
Zimmermann: „Trail Magic ist ein Ausdruck der Verbundenheit der Bevölkerung mit ihrem Trail. Viele sind ihn selber gewandert. Sie wissen um die Anforderungen, welche ein Thru-Hike an Körper und Psyche stellt. Sie wollen etwas von dem, was sie selbst auf dem Trail erhalten haben, an uns heutige Hiker zurückgeben. Trail Angels oder Friends of the Trail nennt man die Menschen, die uns Hikern das Leben so sehr erleichtern. Oft findet man einfach mitten auf dem Weg eine Kühlbox mit Getränken, woraus man sich bedienen kann. Ab und zu werden Cookouts organisiert, das sind Grillpartys mit Hamburgern und Hot Dogs bis zum Abwinken.

Trail Magic: Gebratene Hähnchen warten auf Wanderer.

Oft nehmen Tageswanderer Extraessen mit, das sie verteilen oder einfach in einer Schutzhütte zurücklassen. Nicht zu vergessen sind natürlich all die Mitfahrgelegenheiten, die wir zum Einkaufen benötigen. Die Ortschaften sind meist fünf bis zehn Meilen vom Trail entfernt. Nur selten führt die Route mitten durchs Dorf. Die schlimmsten Ereignisse waren sicher der Eissturm in den Great Smoky Mountains, ein apokalytisches Gewitter beim Aufstieg auf den Bluff Mountain und ein Gewitter in den White Mountains, als uns eine Angestellte des Appalachian Mountain Club AMC keinen Schutz in der Hütte gewährte.

Gerade im Frühjahr und Frühsommer säumte eine ungeheure Pflanzenpracht den Appalachian Trail.

Mortimer: „Gibt es einen Abschnitt, der Ihnen besonders gefallen hat?“
Zimmermann: „Die Strecke vom Dragons Tooth über den McAfee Knob zu den Tinkercliffs verwöhnte uns mit aussergewöhnlichen Ausblicken. Der McAfee Knob nennt man auch den schönsten Aussichtspunkt des gesamten Appalachian Trail . Auch das Filmplakat von Picknick mit Bären, das 2015 mit Robert Redford in der Hauptrolle verfilmt wurde, zeigt diesen Aussichtspunkt. Spektakulär sind die White Mountains in New Hampshire und Mahoosuc Notch, genannt die Killermeile, in Maine.

Ungewöhnlicher Blick auf New Jersey.

Mortimer: „Was war für Sie der Höhepunkt entlang des Trails?“
Zimmermann: „Sicher die sozialen Kontakte, unsere Wanderfamilie. Ohne diese wäre es kaum zu schaffen, denn das Wandern durch den «grünen Tunnel» ist mental extrem anstrengend.“

Mitunter führt der Appalachian Trail den Wanderer im wahrsten Sinne des Wortes auf den Holzweg.

Mortimer: „Gab es Momente, an denen Sie ans Aufgeben gedacht haben?“
Zimmermann: „Wir haben einige Male gehadert. Das ewig nasse Wetter ging an die Substanz. Irgendwie hat sich aber immer wieder rechtzeitig die Sonne gezeigt oder ein Trail Magic hat unsere Stimmung verbessert.“

Den Endpunkt am Mount Katahdin in Maine im Blick. – Fotos Andreas Zimmermann

Mortimer: „Wie haben Sie sich – insbesondere bei schlechtem Wetter – motiviert?“
Zimmermann: „Man darf das Ziel nie aus den Augen verlieren. Da der Mount Katahdin, Big K, oft unerreichbar weit weg erscheint, muss man sich Ziele setzen, die erreichbar sind und so die Strecke auf kürzere Abschnitte herunterbrechen.“

Mortimer: „Was würden Sie Nachahmern empfehlen?“
Zimmermann: „Unbedingt auf Ultralightausrüstung setzen. Es lohnt sich da einiges an Geld zu investieren. Der schwedische Trekking-Guru Jörgen Johansson propagiert seit vielen Jahren die 343-Philosophie (three for three). Die drei größten Posten, Rucksack, Zelt und Schlafsack/Matratze, sollten zusammen nicht mehr als drei Kilogramm wiegen. Das ist ein Wert, worauf man gut aufbauen kann. Mit den heute verfügbaren Materialien lässt sich aber problemlos einiges mehr einsparen.“