Peaks of the Balkans – Wandern in den verwunschenen Bergen

Der Rundweg Peaks of the Balkans ist im wahrsten Sinne des Wortes voller Höhepunkte, wie hier der Blick hinab nach Plav dokumentiert. (Foto Jan Dohren)
Der Rundweg Peaks of the Balkans ist im wahrsten Sinne des Wortes voller Höhepunkte, wie hier der Blick hinab nach Plav dokumentiert. (Foto Jan Dohren)

Manol ist heute Abend der meist beschäftigte Mann in Doberdol, mit Abstand. Dabei ist es nicht so, dass die anderen mit einem Glas warmer Milch oder bei einer Partie Tavla behaglich vor ihren Hütten sitzen und der Sonne dabei zusehen würden, wie sie langsam hinter dem 2.203 Meter hohen Maja e Spalit versinkt. Nein, das können sich um diese Zeit vielleicht die Männer in den Parks von Shkodra erlauben, aber nicht die Bauern in den albanischen Alpen, hier oben in der Nähe der Grenze zum Kosovo.

Erst müssen die Schafe gemolken werden, die den Tag auf den grünen Hängen verbracht haben und sich jetzt vor Manols Hütte stauen wie kleine Cumuluswolken. Außerdem ist das Gatter zu reparieren, denn es könnte sein, dass in dieser Nacht die Wölfe aus den Wäldern heraufkommen. Ein Pferd hat sich am steilen Nordhang vergaloppiert, und Manol schickt seinen jüngeren Bruder, es zu holen. Er selber muss sich um die Solarzellen kümmern, die auf dem Dach seiner Hütte installiert sind.

Manol, Anfang zwanzig, ist seit Kurzem verheiratet, und seine Ehefrau ist die erste Frau in Doberdol, die elektrisches Licht in der Küche hat. Gerade bereitet sie das Abendessen zu, mit selbst gebackenem Brot, dem eigenen Käse und Gurken und Tomaten aus dem kleinen Gemüsegarten.

Heide und Gipfel - unterwegs auf dem Grenzkamm zwischen Montenegro und Kosovo. (Foto Jan Dohren)
Heide und Gipfel – unterwegs auf dem Grenzkamm zwischen Montenegro und Kosovo. (Foto Jan Dohren)

Und dann sind da noch die beiden Wanderer aus Deutschland, die sein Bruder schon früh auf dem schmalen Pfad aus Balqin hatte heraufkommen sehen, und die jetzt vor der Gästehütte sitzen, in die letzten Sonnenstrahlen blinzeln – und ihren Gaskocher aufbauen und Reis mit Brühe kochen wollen.

Warum, wo es doch gleich Abendessen gibt? Vielleicht sollte er versuchen, noch mehr Englisch zu lernen, denkt Manol, als er mit zwei Tabletts voll duftender Speisen zu seinen Gästen hinübergeht. Dann könnte er erklären, dass es nie nötig ist, den Kocher aus dem Rucksack zu holen, wenn man in einem albanischen Bergdorf zu Gast ist, wirklich nie.

Hier oben in den albanischen Alpen, nördlich von Shkodra und noch viel weiter nördlich von Tirana, halten sich die Menschen an den Kanun, ein jahrhundertealtes Regelwerk, das Bestimmungen zu den Grundfragen des täglichen Lebens enthält. Und zu den wichtigsten Säulen des Kanuns zählt das Gastrecht.

Ob es Kanuntreue oder einer keinen Regeln unterworfenen Herzlichkeit zu verdanken ist, dass Manol sich im Laufe des Abends immer wieder zu seinen Gästen vor die Hütte setzt, obwohl die seine Sprache nicht verstehen und er ihre auch nicht, bleibt unklar. Worauf die Herzlichkeit der Menschen beruht, denen der Wanderer auf dem Peaks of the Balkans begegnen wird, ist aber auch nicht so wichtig. Entscheidend ist, dass man sie spürt, und das tut man, in jedem Haus, auf jedem einzelnen Kilometer.

Die Bergbewohner sind überaus aufgeschlossen Fremden gegenüber: Gruppenbild mit Kind und Flinte. (Foto Jan Dohren)
Die Bergbewohner sind überaus aufgeschlossen Fremden gegenüber: Gruppenbild mit Kind und Flinte. (Foto Jan Dohren)

Auf den ersten Metern einer Fernwanderung kann ein Wanderer ganz Unterschiedliches denken und fühlen. Wer an der Brücke in Theth aus dem Minibus steigt und sich auf den Weg zum Valbonapass macht, fühlt sich wie ein Wanderpionier. Den Peaks of the Balkans gibt es erst seit Kurzem, und kein Wanderer kann genau wissen, was ihn erwartet: Am ersten Pass, im nächsten Tal, an den Grenzen, in den Dörfern, in den Tälern und in den Höhen, in Albanien, im Kosovo und in Montenegro.

Am Valbonapass – die Antwort auf seine erste Frage bekommt der Wanderer schon nach wenigen Stunden – gibt es eine versteckt gelegene ebene Fläche, die wie geschaffen ist für ein Zelt. Von hier kann man aus dem Schlafsack zur einen Seite einen Blick zurück ins Tal von Theth werfen und auf der anderen Seite voraus in Richtung Valbona schauen.

Im Norden ragt das 2.694 Meter hohe schneebedeckte Jezerca-Massiv auf. Auf halber Strecke zum Gipfel des Maja e Valbones sitzt ein Hirte auf einem Felsen und pfeift und winkt, ehe er mit seiner Herde in das Valbonatal hinabsteigt. In der Dämmerung gleitet lautlos ein Steinadler über den Pass, und als der dichte Wald das letzte Tageslicht verschluckt, ahnt man, warum die albanischen Alpen auch die verwunschenen Berge genannt werden.

Weit unten im Tal entzünden Hirten ein Feuer nach dem anderen. Oder sind es die Zanen, jene Feen des nordalbanischen Hochlandes, die an Bergquellen und Bächen leben, die nur nachts zum Vorschein kommen, um zu singen und zu tanzen, und denen das Sternenlicht in dieser Nacht nicht hell genug leuchtet?

Auch tierische Begegnungen sind auf den Peaks of the Balkans nichts Ungewöhnliches - wie hier in Doberdol. (Foto Jan Dohren)
Auch tierische Begegnungen sind auf den Peaks of the Balkans nichts Ungewöhnliches – wie hier in Doberdol. (Foto Jan Dohren)

Einen ersten Eindruck des bergdörflichen Lebens am Peaks of the Balkans vermittelt Rragrami, eine kleine Ortschaft wenige Kilometer vor Valbona. Hier sprießen die Kohlköpfe, Pflaumen hängen schwer-violett an den Zweigen, und es duftet nach Mangold. Abends, wenn es daran geht, die drei oder vier Kühe heimzuholen, die zu einem Haus gehören, sieht man die weißen Kopftücher der Frauen wie Segelboote durch die Felder tanzen, und überall stehen summende Bienenkästen, gelb und blau wie Legosteine.

Wer nach einigen Tagen hinter Bjeshka e Belegut, einem südlich des 2.530 Meter hohen Marijash gelegenen Dorfes, auf dem Rücken eines Bergkammes immer weiter gen Norden wandert, hat das Gefühl, den wirklich abgelegenen Abschnitt des Peaks of the Balkans zu betreten. Ab hier – so ist anzunehmen – wird es ratsam sein, im Wald an den besonders dunklen Stellen laut zu rufen, um die Braunbären nicht zu überraschen. Und Roshkodol, das nächste in der Karte eingezeichnete Dorf – ob es das tatsächlich gibt?

Wenn man nach einer Woche vom Starac, dem mit 2.352 Metern höchsten Gipfel des Peaks of the Balkans, die Dächer des montenegrinischen Städtchens Plav und das Wasser des dahinter gelegen Plavsko jezero in der Mittagssonne funkeln sehen, ist man sich sicher, dass es in Plav, der größten Ortschaft am Peaks of the Balkans, all das geben wird, was es in den kleinen Hirtendörfern nicht gibt: Eine heiße Dusche, ein kühles Bier, Wassermelonen. Und Postkarten.

Menschenleer und traumhaft schön: der Streckenabschnitt zwischen Vusanje und Thethi. (Foto Jan Dohren)
Menschenleer und traumhaft schön: der Streckenabschnitt zwischen Vusanje und Thethi. (Foto Jan Dohren)

Abends gibt es in dem kleinen Imbiss an der Hauptstraße von Plav Schaschlik, Köfte vom Grill und selbstgemachten Ayran. Von der Moschee ertönt die Stimme des Muezzin, am Kreisverkehr hält eine Gruppe Straßenhunde den Verkehr auf, und vor der kleinen Bäckerei an der Ecke bildet sich eine Schlange, denn gerade werden die Baguettes aus dem Ofen geholt, und es sollen die besten sein zwischen Pejë im Osten und Gusinje im Westen, vielleicht auch darüber hinaus. Nur Postkarten sucht man auch in Plav vergebens.

Der Peaks of the Balkans ist eine Rundwanderung. Wer in Theth in nordöstlicher Richtung aufbricht und im Westen die letzten Häuser von Okoli hinter dem Kamm verschwinden sieht, weiß, dass er 200 Kilometer und zwölf Tage später wieder dort herauskommen und – den Kopf voller Bilder und das Herz voller Erinnerungen – in Theth an der großen Brücke stehen wird.

Wenn man am vorletzten Wandertag vom Fuße des Bora durch die Abendsonne nach Vusanje hinabsteigt, die stille Welt der Felsen allmählich übergeht in sattgrüne Weiden, eingefasst von uralten Steinmauern und mit goldenen Heugarben darauf, bis zu dem kleinen Dorfkern und einem von ein paar jungen Frauen betriebenen Kiosk, in dem endlich ein Bier zu bekommen ist, spürt man den Magnetismus, den Theth, der Ausgangs- und Zielpunkt der Wanderung, auf den Wanderer auszuüben beginnt. Abends leuchten überall Glühwürmchen, im Dorf spielt jemand Flöte, und man freut sich darauf, nach Albanien zurückzukehren.

41926306zSchroffe Gipfel vor blauem Himmel, eine Sennerhütte auf einer Hochebene, ein Glas warme Milch, ein Familienfoto mit fünf Kindern, drei Gewehren und einem Revolver – der Weg nach Theth bietet noch einmal vieles von dem, was das Wandern auf dem Peaks of the Balkans ausmacht.

„Ich glaube, kein Platz der Welt hat jemals einen so starken Eindruck von majestätischer Abgeschiedenheit auf mich gemacht. Es ist ein Ort, an dem Jahrhunderte in einem Moment vorbeiziehen“, hat Edith Durham, die berühmte britische Balkanreisende, über Theth geschrieben. „Ein großartiger wilder Ort.“ Dem ist nicht viel hinzuzufügen. Außer vielleicht, dass sie auch heute noch wild und großartig sind, die Orte am Peaks of the Balkans.

Buchtipp: Autor Jan Dohren hat einen gleichnamigen, 126 Seiten starken Wanderführer für die Peaks of the Balkans verfasst. Erhältlich ist Peaks of the Balkans (ISBN 978-3-86686-465-8) für 10,90 Euro im Buchhandel oder direkt beim Conrad Stein Verlag.


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