Whitby zwischen Dracula und Glitzerstein

Whitby
Auf den Klippen von Whitby thronen die Reste der alten Abtei.

Die ostenglische Hafenstadt Whitby steht ganz im Zeichen von Bram Stokers Vampir-Figur Graf Dracula, des berühmten Whitby Jets und von Entdecker James Cook.

Whitby
Über den River Esk fällt der Blick auf die St. Mary Church. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Mächtig groß sind sie. Noch dazu gut gesättigt und überaus gierig. Mit schrillem Schrei unterstreichen sie, ein wenig angsteinflößend, ihr Verlangen nach einer schnellen Mahlzeit. Rund um den kleinen Hafen am River Esk belagert die Heerschar an Möwen permanent wie hemmungslos einfach jeden, der etwas Essbares in der Hand hält. Vermutlich hat es sich in Kreisen der Vögel herumgesprochen, dass es im englischen Whitby einige der wohl besten Fish & Chips Läden des Landes zu finden sind. Darunter das von vielen als vermeintlich bestes Fischrestaurant in England eingestufte Magpie Café. Für die Möwen jedenfalls ist das Setting ein Art Schlaraffenland, wo ihnen statt gebratener Tauben vorzugweise frittierter Fisch oder goldgelbe Pommes in den weit aufgerissenen Schnabel fliegen.

Faszination Whitby Jet

Der River Esk durchzieht Whitby. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Ein Phänomen, das die kleine Hafenstadt im Norden von Yorkshire fraglos mit vielen anderen Küstenorten teilt. Gleichwohl lassen sich die meisten den Abstecher in das charmante 13.000-Seelen-Nest durch die flatterhaften Gierlappen nicht vermiesen. Dazu hat Whitby abseits von Fisch & Chips und typisch englischen Spiel- und Bingohallen einfach zu viel zu bieten. Rund um den engen Hafen schmiegen sich an beiden Seiten der Mündung des Esks in die Nordsee Häuser mit roten Ziegeldächern malerisch an die Hügel. Dazwischen ducken sich enge, historische Gassen mit kleinen Pubs, Cafés, Teestuben, Restaurants und zum Teil winzigen Geschäften, von denen sich nicht wenige auf den Verkauf des berühmten Whitby Jets konzentrieren.

Das Cook Monument nutzen Möwen gerne als Ausguck. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Das rund um die Hafenstadt vorkommende, schwarze Gestein ist tatsächlich kein Mineral, sondern ein fossiles Stück Braunkohle. Geschliffen, verbreitet der Whitby Jet einen besonderen Glanz. Seine Popularität verdankt das Schmuckstück der bis heute in Großbritannien hoch verehrten Königin Victoria (1837-1901). Die frühere Monarchin trug nach dem Tod ihres geliebten Gemahls Prinz Albert angeblich nur noch Schmuck aus Whitby Jet. Am prächtigen Strand lässt sich der schwarze Jetstein ebenso wie Bernstein regelmäßig finden – insbesondere bei aufgewühlter See und nach Stürmen.

Walfang-Tradition und Entdecker-Verehrung

Whitby
Der Whalebone Arch erinnert an die Walfangtradition. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Gerade das Meer hat die Geschichte von Whitby über Jahrhunderte entscheidend mitgeprägt. Lange galt der Ort als eines der wichtigsten britischen Walfangzentren. Davon zeugt der markante Whalebone Arch, der sich aus zwei Kieferknochen eines Wales zusammensetzt. Lange war Whitby zudem neben Newcastle-upon-Tyne und London der bedeutendste Werftstandort des Landes. Hier lief unter anderem die HMS Endeavour vom Stapel. Mit ihr segelte James Cook durch den Pazifik und kartographierte Australien und Neuseeland. Auch die Whitby Cat und Whitby Colliers, mit denen der Entdecker in die Südsee reiste, wurden in der nordenglischen Hafenstadt gefertigt.

Ein Schilderbaum markiert die Ziele der James Cook Expeditionen. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Überhaupt schmückt sich Whitby gerne mit dem Südseeforscher als bekanntestem Sohn der Stadt, obschon James Cook tatsächlich im Jahre 1728 in Marton, einem kleinen Dorf, das heute zu Middlesbrough gehört, das Licht der Welt erblickte. In Whitby absolvierte er bei der Reeder-Familie Walker eine Lehre. Heute erinnern neben einem Nachbau der Endeavour ein Denkmal und sein ehemaliges Wohnhaus, das zum Captain Cook Memorial Museum umfunktioniert wurde, an den großen Abenteurer.

Legendäre 199 Steps

Die 199 Steps eröffnen prachtvolle Panoramablicke.

Auf den Klippen am Ostufer des Esk befinden sich die Ruinen der Whitby Abbey, die über die 199 Treppenstufen der Church Stairs erreicht werden. Die imposante Ruine der Benediktiner-Abteikirche thront geisterhaft hoch über der Nordsee. Sie ist alles, was von einem der ältesten und einst reichsten Klöster Nordenglands übriggeblieben ist. Die heilige Hilda of Hartlepool, Tochter des Königs Oswiu von Northumbrien, gründete 657 dort die erste Kirche. Hier fand im Jahre 664 jene Synode statt, in deren Verlauf die römische Kirche die keltisch-irische unterwarf und Ostern festlegte.

Bis heute versprüht Whitby Abbey einen besonderen Zauber.

Angesichts der zunehmenden Überfälle durch die Wikinger wurde das Kloster im 9. Jahrhundert aufgegeben. Nach der normannischen Eroberung Englands im Jahre 1066 gründete ein Benediktinermönch namens Reinfried abermals eine religiöse Gemeinschaft an diesem Ort. Um 1220 begann schließlich der Wiederaufbau der Abteikirche. Die Arbeiten gingen jedoch nur langsam voran. Um 1280 war die Vierung errichtet, aber das Hauptschiff wurde erst im 15. Jahrhundert vollendet. Nach seinem Bruch mit Rom ließ Heinrich VIII. die Klöster schließen und die Abtei in Whitby musste 1539 ihr Land und Gut an die Krone übereignen.

Dornröschendasein

Im Hafen von Whitby liegt der Nachbau der Endeavour vor Anker. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Der Abgeordnete Sir Richard Cholmley (1579-1631) erwarb schließlich im 17. Jahrhundert das Klostergelände und war vermutlich für den Abbruch eines Großteils des Klosters verantwortlich. Denn die Steine wurden verwendet, um das angrenzende Abbey House als Wohnstatt zu errichten. Heute findet sich in dem stattlichen Gemäuer ein kleines Museum mit Funden vom Gelände der Abtei. In einem anderen Teil des Anwesens ist die örtliche Jugendherberge untergebracht.

Captain Cook Memorial Museum ist im einstigen Wohnhaus des Entdeckers eingerichtet. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Die dachlose Ruine der Abteikirche überdauerte möglicherweise nur, weil sie lange Jahre als wichtiges Seezeichen diente. 1736 stürzte das südliche Querschiff ein, im Jahre 1762 das Hauptschiff und 1830 schließlich der mittlere Kirchturm. Seither fristet der Rest des einst stolzen Gotteshauses ein Dornröschendasein.

Stilmix und Dracula-Inspiration

Die St. Mary Church und der dazugehörige Friedhof ziehen auch Dracula-Fans in ihren Bann.

In der benachbarten Pfarrkirche St. Mary, die durch eine kuriose Mischung aus Stilen des 17. bis 19. Jahrhunderts besticht, soll Graf Dracula in dem gleichnamigen Schauerroman von Bram Stoker erstmals englischen Boden betreten haben. Dracula soll den Tag im Grab einer Selbstmörderin verbracht haben und stellte nachts der mutigen Heldin Lucy nach.

Bunte Badehäuschen säumen die Whitby Sands. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Bram Stoker selber soll sich im Sommer des Jahres 1890 für lediglich eine Woche in Whitby aufgehalten haben und hier die Inspiration für sein berühmtes Vampir-Epos gefunden haben. In der lokalen Bücherei stöberte er in einem historischen Schinken über das heutige Rumänien. Dort war von dem durch seine Grausamkeit bekannt gewordenen Herrscher der Walachei, Vlad Tepes, Beiname Dracula, die Rede.

Das fehlende Dracula-Grab

Über die Whitby Sands verläuft der famose Cleveland Way. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Zudem stieß Stoker in Whitby wohl auf weitere Ideen für seinen bis heute viel beachteten und mehrfach verfilmten Schauerroman. Der Bogen spannt sich von Fledermäusen, die nachts in der Ruine umherflattern, über den spektakulär auf einer Klippe gelegenen Friedhof der St. Mary Kirche bis hin zu einem dort befindlichen Grab mit der Aufschrift „Swales“. Daher dürfte es wohl kein Zufall sein, dass im Roman Draculas erstes Opfer Swales heißt.

James Cook schaut von seinem Denkmal sehnsüchtig aufs Meer. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Bei all den literarischen Verknüpfungen ist es wenig verwunderlich, dass die Mitarbeiter der Kirche und des Friedhofs immer wieder gefragt werden, welches denn das Grab Draculas sei – obschon es ein solches in Whitby definitiv nicht gibt.

Wiege der Literatur

An beiden Seiten des Esk schmiegen sich die Häuser von Whitby. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Dafür gibt es eine weitere Besonderheit in dem Hafenstädtchen: Zwischen der Kirche und Abtei erhebt sich ein sechs Meter hohes Hochkreuz, das Caedmon‘s Cross, das an den Mönch Caedmon erinnert. Dieser soll zu Zeiten Hildas den Neunzeiler Song of Creation, das älteste erhaltene Gedicht Großbritanniens, verfasst haben. Whitby Abbey gilt daher nicht nur als eine Wiege des englischen Christentums, sondern auch der Literatur.

Informationen: www.visitwhitby.com