Warschau ist noch näher gerückt: Tradition und Kultur, Shopping und Lifestyle – alles da. Neben den mit Fryderyk Chopin verbundenen Stätten besticht Polens Hauptstadt durch schöne Parks, neue Architektur – durch Paläste, Gassen und Winkel – und das angesagte Praga-Viertel.
Früher Abend auf dem Schlossplatz. Von irgendwo weht Klaviermusik. Auf den Stufen der Sigismund-Säule verträumt ein Liebespaar. Vor sich, wie der alte Sigismund auf der Denkmalspitze, im weiten Blick die Altstadt und Praga – Warschaus Bronx – auf dem rechten Weichselufer. Im Abendlicht verströmen die farbigen Fassaden und das nahe, rot verputzte Königsschloss ihren Zauber.
Das war nicht immer so. In seiner 700-jährigen Geschichte hat Warschau so manche Katastrophe erlebt. Alt ist hier nichts. So, wie sich die Altstadt, die Adelspaläste und der Schlosskomplex heute präsentieren, sind sie nicht einmal 70 Jahre alt. 1939 zerstörten zum ersten Mal deutsche Brandbomben das Schloss, die historische Altstadt und Warschaus Symbol, die Zygmunt III. Wasa-Säule. Unter ihm, dem König, wurde vor 400 Jahren Warschau anstelle von Krakau polnische Hauptstadt.
Nach der kompletten Zerstörung durch Hitler 1944 begannen die Polen alsbald, ihre Altstadt originalgetreu zu restaurieren. Anfang der Siebziger begann der Wiederaufbau des Königsschlosses – mit Geldern, die größtenteils polnische Bürger aus dem In- und Ausland aufbrachten. Denn kaum etwas hat für Polen eine so große Bedeutung wie das Königsschloss. Geschichte kann Bewusstsein wecken und hier ist es das Gefühl des Erwachens, das jeden Besucher überkommt – vor allem, wenn man sich dem alten Stadtkern nähert, der zu Recht Unesco-Weltkulturerbe ist.
Es gibt wohl keine Stadt in Europa, die nach dem Krieg so zerstört war und wohl auch keine, der man es so wenig ansieht. Man ist überrascht, wie anders Warschau heute ist, fast schon amerikanisch: aus einer grauen Stadt ist eine lebendige, vielfältige, pulsierende Metropole geworden. 2012 begann Polens Aufschwung; seitdem hat sich eine stabile Mittelschicht mit enormer Kaufkraft entwickelt. Schon die Architektur von gläsernen Bürotürmen und Luxus-Hotels, die schicken und hippen Restaurants, die renommierten Galerien zeugen von Aufbruch, Willen, Zuversicht. Auffällig sind die vielen jungen Leute, die hier leben, arbeiten, studieren.
Viel vom alten Charme wurde zum Glück gerettet. Gassen führen zum autofreien Marktplatz Rynek Miasto, dem Schmuckkästchen der Stadt. Die kleine ulica Swietojanska ist die geschäftigste, hier liegt Laden an Laden – mit Bernstein, Devotionalien, Antiquitäten, köstlichem Kuchen. In den Straßencafés fließen Wein, Bier und Capuccino. Die Johanneskathedrale steht offen zur Besichtigung.
In dem Gotteshaus im gotischen Weichselstil sind berühmte Persönlichkeiten bestattet: Polens letzter König Poniatowski beispielsweise und Kardinal Stefan Wyszynski. Hinter der Befestigungsanlage Barbakan steht das Geburtshaus der Nobelpreisträgerin Marie Curie. Und Chopins Herz ruht in der nahen Heilig-Kreuz-Kirche. Getreu seinem Wunsch auf dem Sterbebett 1849 brachte es seine Schwester Ludovika heimlich von Paris nach Warschau, in die Heimat.
Warschau ist und bleibt die Stadt des Fryderyk Chopin, auch wenn viele Europäer den großen Komponisten, Klavier-Virtuosen und -pädagogen gar nicht mit Polen in Verbindung bringen. Dabei zog die Familie kurz nach seiner Geburt 1810 – sein Vater Franzose, seine Mutter Polin von niederem Adel – aus der Kleinstadt Zelazowa Wola ins nahe Warschau in einen Palast direkt am „Königlichen Weg“.
Hier wuchs Chopin auf, komponierte im Alter von 19 und 20 Jahren seine beiden einzigen Klavierkonzerte und konzertierte am liebsten in kleinem Kreis in adligen Salons. Das intellektuelle Umfeld sowie seine lebenslange Bindung an Familie und Heimat formten seine außergewöhnliche Persönlichkeit und waren ihm Quelle der Inspiration. Leben und Werk des Musikgenies sind dargestellt im Chopin-Museum im historischen Ostrogski-Palais.
Weil Warschau touristisch mit Chopin noch unterwickelt ist, haben die Stadtwerber nachgelegt. Von Mai bis September finden regelmäßig Chopin-Konzerte statt – im Kulturpalast, im Ballsaal des Königsschlosses, in der Philharmonie – sowie Solistenkonzerte in kleineren Musiksälen. Beliebt sind die Openair-Sonntagskonzerte vor dem Chopin-Denkmal im Lazienki-Park, einem der größten Palast-Ensembles Europas, das den Krieg unbeschädigt überstand. Beim Spaziergang spürt man den Glanz alter Zeiten, als der letzte König, Poniatowski, Mitte des 18. Jahrhunderts im „Wasserschlösschen“, im „Weißen Haus“ und dem „Belvedere-Palais“ Hof hielt.
Mehr als 1.000 historische Bauwerke, zumeist des Hochadels, zieren die Weichselmetropole, schmücken den „Königsweg“, der am Schlossplatz beginnt, am Schloss Wilanów endet. Einst war er Schauplatz festlicher Aufmärsche, farbiger Krönungsumzüge, auch blutiger Freiheitskundgebungen. Hier haben sich alle Jahrhunderte und Epochen verewigt. Legendär ist das Hotel Bristol, eindrucksvoll der Präsidentenpalast, in dem Chopin, sechsjährig, sein erstes Konzert gab. Die gesamte Straße ist original und steht unter Denkmalschutz.
Sie ist pulsierende Achse zwischen hektischem Alltag und ländlicher Idylle. Ein Bummel führt vom Königsschloss gerade in die ulica Nowy Swiat, die gern als längstes Restaurant der Stadt bezeichnet wird: überall Terrassencafés, -restaurants, schicke Geschäfte, elegante Warschauerinnen. Eine prima Idee sind die Chopin-Bänke an markanten Stellen. Der Besucher kann eine Pause nutzen und auf Knopfdruck Wichtiges über Werk und Leben des Komponisten erfahren und dabei seine Musik hören.
Am Abend nimmt der ganz normale Wahnsinn seinen Lauf: Pferdekutschen holpern in den Altstadtgassen übers Kopfsteinpflaster, Fußgänger strömen zusammen. Trotz der vielen Touristen hat der geschlossene Rynek-Platz seine Intimität bewahrt. Der Blick fällt auf bunt verzierte Fassaden aus Gotik, Renaissance, Barock, Rokoko, golden aufstrahlend in der untergehenden Sonne. Jedes der wieder aufgebauten Bürgerhäuser ist einzigartig – hier Stuckaturen, dort Wandmalereien: tanzende Jünglinge, grimmige Löwenköpfe. Auch in den Innenräumen der alten Lokale „Fukier“ und „Bazyliszek“ spricht die Geschichte die Sinne an. Über Adam Mickiewiecz, der auch als Goethe Polens apostrophiert wird, informiert das Literatur-Museum, Haus Nr. 20, wo die Kunstmaler mit ihren Staffeleien stehen.
Am Ende des Abends könnte man auf einen Chopin-Wodka ins neue alte Szeneviertel Praga wechseln – wild, kreativ, lebenslustig, authentisch mit herrlicher Sicht auf die Altstadt. Oder zum „Stachelriesen“, dem 321 Meter hohen Kulturpalast aus der Sozialismus-Ära, Warschaus wenig geliebtes Wahrzeichen.
Informationen: www.polen.travel
Anreise: Mit LOT Polish Airlines nach Warschau zum Chopin-Flughafen.
Kultur: Das Chopin-Festival findet alle fünf Jahre statt; zweimal wöchentlich gibt es Chopin-Konzerte in Chopins Geburtshaus sowie im Park in Zelazowa Wola sowie täglich ein Chopin-Konzert im kleinen, feinen Chopin-Konzertsaal nahe dem Königsschloss.
Sehenswert: Neon Museum für Lichtwerbung in der Praga Soho Factory; sehenswert sind Häusermalereien weltberühmter Künstler; das Wodka-Museum im Praga Centrum Koneser; außergewöhnlich das POLIM-Museum über die jüdische Bevölkerung; ein Muss das Muzeum Powstania, das den Aufstand der Warschauer gegen die deutschen Besatzer zeigt, u.v.m.
Essen & Trinken: Auf dem Rynek Starego Miasta „Gessler“, „Bazyliszek“, „U Fukiera“; „Polska“ in der ul. Nowy Swiat mit polnischer Küche; neue Locations: „Warszawski Sen“, „Warszawa Wschodnia“ u.a.
Cafés: „Zamek“, „Nowy Swiat“, „Café Bristol“ im Art Déco-Stil (die berühmte Torta Kremówka probieren!). Im Schokoladenhaus „Wedel“ gibt’s die üppigste Trinkschokolade der Welt; seit 150 Jahren an der Nowy Swiat das Café „Blikle“: Krapfen mit Rosenmarmelade gefüllt ein Genuss, u.a.
Übernachten: NYX Hotel by Leonardo Hotels mit außergewöhnlichem Innendesign
Katharina Büttel
lebt und arbeitet als freie Reisejournalistin in Berlin. Über 30 Jahre reist sie für ihre Reportagen und Fotos um die Welt – seit vielen Jahren veröffentlicht sie auch im Mortimer-Reisemagazin.