„If you get stuck, loose fat. It´s the only way forward.“ Höhlenführer Steward zeigt urbritischen Humor. Doch die Botschaft ist eindeutig: Wer stecken bleibt, muss schlichtweg abspecken, um irgendwie weiter voran zu kommen. Und den sechs Wagemutigen in ihren Schutzanzügen und dem Helm auf dem Kopf steht nicht von ungefähr der Schweiß auf der Stirn. Vor uns liegt die „Letter Box“, der Briefkasten, die größtes Herausforderung während der abenteuerlichen Höhlenerkundung in Südwales.
Der Spalt in dem unterirdischen Labyrinth macht seinem Namen alle Ehre, ist an der engsten Stelle kaum mehr als 20 Zentimeter hoch. Das entspricht der Länge vom gespreizten Daumen bis zum Ende des ausgestreckten kleinen Fingers. Keine Frage, die Porth-Y-Ogof-Höhle am Rande des malerischen Brecon Beacon National Parks lässt keinen Raum für Platzangst.
Kein Raum für Platzangst
„Wenn der Brustkorb passt, passt auch der Rest“, beteuert Steward im Bemühen, die sichtlich vorherrschende Skepsis abzuschütteln. Erstmals nach rund 40 Minuten, in denen die walisische Unterwelt abwechselnd kriechend, robbend und auf allen Vieren erkundet wurde, darf der Schutzhelm abgenommen werden. Denn mit der Plastikschale auf dem Kopf ist in der Letter Box definitiv kein Durchkommen. Auch ohne fremde Hilfe kann die Engstelle nicht gemeistert werden.
„Na, los! Freiwillige vor!“ Mit ungläubigem Blick unterziehe ich den Briefschlitz noch einmal einer genaueren Prüfung. Und dann geht es los: Den Kopf auf die Seite gedreht, kurz ausatmen, während Steward die Beine anhebt und mich mit einem Stoß über den glatten Stein in die benachbarte Höhle schiebt. Die Mutprobe ist bestanden.
Kampf gegen den inneren Schweinehund
Zehn Sekunden Angst sind mit einem Wimpernschlag verflogen. Stattdessen fühle ich mich für einen Moment wie ein großer Abenteurer, wie ein Entdecker. Keine zwei Minuten später haben vier weitere Hobby-Höhlenforscher den inneren Schweinehund erfolgreich überwunden. Nur Guillaume, ein etwas beleibterer Franzose, ziert sich.
„If you don´t fit through, there is always parcel post“, weiß Steward für den Studenten aus Nimes einen Ausweg, bevor dieser buchstäblich in der Klemme sitzt. Denn, und dies ist das große Plus der Porth-Y-Ogof-Höhle, um alle Hindernisse führen Wege herum – quasi der Schleichweg für Paketpost. Allerdings sind die Alternativen ungemein zeitraubend.
2,2 Kilometer Umweg auf allen Vieren
Während Steward und Guillaume die Letter Box umgehen, haben wir Zeit, durchzuschnaufen. Schließlich warten noch zahlreiche weitere Herausforderungen auf dem 2,2 Kilometer langen Weg durch die 38 Kalksteinhöhlen auf uns. Darunter zwei Wasserstellen, die aus uns Höhlenforschern für einen Moment Höhlentaucher machen. Nicht zu vergessen sind auch „The Worm Hole“, das Wurmloch, und „The Rat Trap“, die Rattenfalle, zwei Löcher, die das unterirdische Gangsystem mit einem Höhenunterschied von mehr als einen Meter verbinden.
Kopfüber tauchen wir in das schwarze Nichts hinein. Nur der Lichtkegel der auf dem Helm montierten Grubenlampe weist uns den Weg. Um Porth-Y-Ogof komplett zu erkunden, benötigt man rund eineinhalb Tage. Doch auch die ebenfalls angebotenen zwei- bis dreistündigen Touren vermitteln ganz neue Erfahrungswerte.
Höhlentour mit besonderem Nervenkitzel
„Die Leute suchen immer neue Nervenkitzel“, weiß Steward um die Faszination der ungewöhnlichen Entdeckungsreise in eine Welt, die klaustrophobisch veranlagten oder herzkranken Menschen für immer verborgen bleibt.
„Hier unten darf man nur nicht den Fehler machen, über die Gesteinsmassen nachzudenken“, kennt der Waliser die mentalen Grenzen der Hobby-Höhlenforscher genau. Und sollte doch jemand einmal das eigene Können oder die Angst in den engen Gängen unterschätzen, so ist einer der 15 Ausgänge aus der Porth-Y-Ogof-Höhle nie weiter als fünf Minuten entfernt. Denn das oberste Gebot lautet stets „Safety first“, Sicherheit zuerst.
Informationen: Eine geführte Tagestour in die walisische Unterwelt (inklusive der Bereitstellung der Ausrüstung) kostet 65 Britische Pfund; Halbtagstouren werden für 46 Britische Pfund angeboten. Buchungen und weitere Informationen unter www.blackmountain.co.uk.
Karsten-Thilo Raab
berichtet seit mehr als drei Jahrzehnten für eine Vielzahl von Zeitungen und Magazinen über Reiseziele weltweit. Zudem hat er sich einen Namen als Autor von mehr als 120 Reise-, Wander- und Radführern sowie Bildbänden gemacht.