
Den beiden Wanderern fehlt offensichtlich nichts. Im Gegenteil, sie grüßen betont fröhlich. Trotzdem geht der Blick ihnen noch einmal nach. Vielleicht ist es Zufall, vielleicht hatten sie auch nur Glück. Oder das Ganze ist nur ein Ammenmärchen. Eines, das einem einen Schauer über den Rücken jagen kann. „Wenn ein Waliser zu Zeiten von König Offa die Grenze überschritt, wurden ihm die Ohren abgeschnitten“, erzählt Jim Saunders ein Stück aus dem Horrorkabinett längst vergangener Tage.

Und er muss es wissen. Schließlich hat er 18 Jahre lang den Offa’s Dyke Path als verantwortlicher Trail Manager betreut. Der 285 Kilometer lange Fernwanderweg verläuft von Chepstow im Süden bis nach Prestatyn im Norden von Wales. Über viele Jahrhunderte markierte der nach König Offa benannte Wall die Grenze zwischen England und Wales – und tut es in einigen Teilen noch heute.

„Der Offa’s Dyke ist quasi die Frühform des kollektiven Engagements, ein Stück gelebter Gemeinschaftsgeist“, weiß Jim Saunders zu berichten. König Offa, der zwischen 757 und 796 das Reich Mercia (entspricht etwa den heutigen englischen Grafschaften Kent, Sussex, Wessex und East Anglia) regierte, verlangte nämlich von allen männlichen Untertanen, dass sie ein etwa anderthalb Meter langes Stück des Grabens aushoben und auf einen entsprechenden Länge den Wall aufschütteten. Und das mächtige Bollwerk nahm in einigen Teilen beachtliche Gestalt an. Bis zu acht Meter hoch soll der Grenzwall hier und da gewesen sein.

Heute ist von all dem nicht mehr viel zu sehen. Zwischen Knighton und dem georgianischen Marktstädtchen Montgomery wartet das wohl best erhalten Stück des Dykes darauf, entdeckt zu werden. Fern ab der Straße findet sich zwischen dem Spring Hill und dem Llanfair Hill ein gut vier Kilometer langer Bereich, der von Tausenden von Wanderern erlaufen und fraglos auch mit der Kamera auf Zelluloid gebannt oder digital eingefangen wurde.

„Wer nicht den ganzen Weg ablaufen möchte oder kann, sollte sich auf keinen Fall den Abschnitt von Hay-on-Wye nach Welshpool entgehen lassen“, lautet die Empfehlung von Jim Saunders. In der Tat erweist sich das Bücherdorf als ebenso interessante wie belustigende Einstimmung auf den langen Marsch entlang des Offa’s Dyke. Die 1300-Seelen-Gemeinde am nordöstlichen Rand des Brecon Beacon Nationalparks steht ganz im Zeichen gebrauchter Schmöker. 1977 ernannte der exzentrische Buchhändler Richard Booth die Kleinstadt zum unabhängigen Königreich. Gleichzeitig kürte er sich selber zum König von Hay-on-Wye, ernannte sein Pferd zum Premierminister und gab eine eigene, essbare Währung aus Reispapier heraus.

Was zunächst wie ein gelungener Aprilscherz anmutete, entpuppte sich als genialer Marketing-Schachzug. Mit heute rund 40 Antiquariaten avanciert Hay-on-Wye, das in zehn Gehminuten bequem durchlaufen werden kann, zur international bekannten „Stadt der Bücher“. Mehr als eine Million Wälzer wandern jährlich über den Ladentisch. Wobei Richard Booth zum Marktführer avanciert. Er besitzt nicht nur nach eigenen Angaben das weltweit größte Antiquariat, sondern auch mit dem Honesty Bookshop ein Kuriosum. Im Hof seines normannischen Castles bietet er unter freiem Himmel Bücher auf Vertrauensbasis zum Kauf an. Die Kunden können sich hier selbst in den Regalen bedienen und das Geld einfach in eine Art Sammelbüchse werfen.

Einziger Hasenfuß: So attraktiv das Angebot auch sein mag, der geneigte Wanderer hält sich vornehm zurück, schließlich erleichtert ein Rucksack voller Bücher die Tagestour nicht unbedingt. Zumal es entlang des 21 Kilometer langen Weges nach Kington einige steile Passagen zu bewältigen gilt. Dafür wartet in Newchurch eine willkommene Überraschung: Vor der St. Mary’s Church sticht dem durstigen Wanderer eine großes Schild mit dem Wort „Drinks“ ins Auge. Erhältlich sind die Getränke kostenlos in der Kirche. Hier können sich die Wandersleute mit dem bereit gestellten Wasserkocher einen frischen Tee oder Kaffee zu bereiten und an Keksen laben. Als Dankeschön hofft die Gemeinde auf eine kleine Spende.

So gestärkt geht es den Hergest Ridge hinauf. Sir Arthur Conan Doyle ließ sich angeblich beim Gang über die 426 Meter hohe Ebene für seine Geschichte der „Hund von Baskerville“ inspirieren. Angst vor den mörderischen Gelüsten des berühmten Hundes, dessen Abenteuer im Roman ins Dartmoor verlegt wurden, muss allerdings niemand haben. Der einzige Hund, der uns auf diesem Teilstück begegnet, ist schwarz-weiß gefleckt und kaum größer als ein Kaninchen. Als er uns sieht, wirft er sich sofort vor Freude jauchzend auf den Rücken und wartet darauf, gekrault zu werden. Ansonsten tummeln sich auf dem wild-romantischen Plateau neben wilden Pferden nur ungewöhnliche Schafe mit weißem Kopf und schwarzem Fell.

Kurz nachdem die unsichtbare Grenze nach England erstmals überschritten ist, lädt auf dem Hergest Ridge die erste Bank seit Hay-on-Wye zu einer kleinen Verschnaufpause en. Beim Anblick der hölzernen Sitzgelegenheit ruft Jim Saunders entzückt. „Look, the Bank of England.“

Zugegeben, dabei handelt es sich nicht um eine Filiale des bekannten Geldinstituts. Dennoch ist dies ein schöner Willkommensgruß für den Wanderer. Jim Saunders nutzt die Gelegenheit, noch ein bisschen von den rauen Sitten längst vergangener Tage zu plaudern: „Wenn ein Engländer hier den Offa’s Dyke überschritt und aufgegriffen wurde, knüpften ihn die Waliser am nächsten Baum auf.“

Diese Zeiten sind glücklicherweise vorbei. Zudem sind Bäume am Hergest Ridge überaus rar. Auch Gill und Mark Atkinson fürchten sich offensichtlich nicht, obwohl sie Engländer sind. Das Paar aus Manchester, das jährlich zwei Fernwanderwege in Großbritannien absolviert, ist auf dem Weg von Chepstow nach Welshpol.

„Der Offa’s Dyke Path ist großartig“, schwärmen die beiden vor allem von der landschaftlichen Vielfalt. „Hinter jeder Biegung, hinter jeder Steigung wartet eine neue Überraschung“, zeigen sich die Atkinsons so begeistert, dass sie den Rest des 285 Kilometer langen Fernwanderweges im kommenden Frühjahr angehen wollen. Obwohl die Beine langsam schwer werden und bis Welshpool noch ein gutes Stück des Weges vor uns liegt, muss ich gestehen, dass der Gedanke überaus reizvoll ist. In diesem Sinne: „Hwyl i Gymru“ – „Auf Wiedersehen in Wales!“

Allgemeine Informationen unter http://offasdyke.org.uk, www.nationaltrail.co.uk und www.visitwales.com.

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