52.500 Stunden oder gut vier Jahre sitzen emsige Stickerinnen an den sieben neuen, prächtigen Umhängen, die zur großen Karfreitagsprozession von Lorca fertig sein müssen. Um dies zu schaffen arbeiten sie die letzten beiden Monate vor der Semana Santa, der Karwoche, quasi rund um die Uhr, sticken sich die Finger wund, damit die feinen Arbeiten noch rechtzeitig vor ihrem großen Auftritt der Öffentlichkeit präsentiert werden können.
Lorca in der südostspanischen Region Murcia, eine der ältesten Städte des Landes an der früheren, oft hart umkämpften Grenze zwischen dem maurischen und dem christlichen Reich, ist das Mekka der biblischen Umzüge, die 1855 erstmals in der Stadt durchgeführt wurden. 30 Mitglieder der weißen Laienbruderschaft Paso Blanco zogen damals durch die Straßen und stellten den Leidensweg Christi nach.
Im Jahr darauf gesellte sich die blaue Bauernbruderschaft Paso Azul hinzu und ergänzte die Darstellung biblischer Passagen. Bis heute stellen diese beiden Vereinigungen, obwohl einige weitere Bruderschaften hinzukamen, das größte Quantum an Zugteilnehmern, die eine innige, aber fruchtbare Konkurrenz pflegen und über entsprechende Fangemeinden im Publikum verfügen.
Stetige Vergrößerung der Umzüge brachte weitere Darstellungen hinzu, weitere Statisten und teilnehmende Akteure. Lorca ist der einzige Ort in Spanien, an welchem die Prozessionen vor Ostern ausschließlich auf Szenen aus dem Alten Testament basiert und die prachtvollen Umzüge wurden auch aus diesem Grunde schon 1967 zu einer Veranstaltung von internationalem touristischen Interesse geadelt.
Wie detailliert und sorgfältig die Umhänge gearbeitet sind, lässt sich im Vorfeld der Umzüge in den jeweiligen Hauptquartieren der beiden Bruderschaften aus allernächster Nähe beurteilen und begutachten. So mutiert das Innere der Kirche des Collegio Sao Francisco an der Calle Nogalte zum ehrwürdigen Ausstellungsraum des Paso Azul.
Die Pracht der Stickereien ist einzigartig, der goldene Glanz kommt dabei nicht von ungefähr: echtes, wertvolles Geschmeide, Samt und Seide werden zum strahlenden Endergebnis verwoben. Tierportraits, Bildnisse von Heiligen, mythologische Kampfszenen – kaum ein biblisches Sujet bleibt ausgespart. In der Mitte des Raumes sind große Tragen platziert, die mit ihren sorgsam gestalteten Darstellungen von Stationen des Kreuzweges einen bedeutenden Bestandteil des Umzuges bilden.
Zahlreiche Träger, teilweise mehr als 100 Personen, nehmen die massiven, verschwenderisch gestalteten Objekte auf ihre Schultern. Die Bezeichnung Sänfte erscheint hier maßlos untertrieben. Neben den Stickereien brillieren sie neben wertvollen Schnitzereien und künstlerischen Arbeiten mit einer fantasievollen Blumendekoration, die bis unmittelbar vor Beginn der Prozession noch zurechtgerückt wird.
Doch die Beförderung dieser schweren, massiven Dioramen, auf denen teilweise später noch Darsteller von Königen, Edelmännern, Edelfräulein und Kriegern Platz nehmen, gestaltet sich von Beginn an als äußerst problematisch: einerseits funktioniert der Schultertransport nur dann reibungslos, wenn alle Träger sich im gleichen Rhythmus vorwärtsbewegen, was das Ganze in ein leichtes Schaukeln versetzt; andererseits bedarf es genauester Zielführung, um das mehrere Meter lange, breite und recht hohe Teil durch das Kirchenportal nach draußen zu befördern.
Begeistert klatscht das hier schon anwesende Publikum Beifall ob der einmal mehr perfekten Tordurchquerung. Römische Kohorten mit glänzenden, hochpolierten Rüstungen haben ebenfalls schon Aufstellung genommen und proben ihren einstudierten Marsch lange bevor der Umzug beginnt.
Spartanisch und entbehrungsreich nehmen die Teilnehmer des mitternächtlichen Kreuzweges vor Karfreitag den mühevollen, steinigen Kalvarienpfad auf sich, der fast bis hinauf zur Festung Lorcas führt. Sie tragen schweigend einfache Holzkreuze und manch einer verzichtet gar auf jegliches Schuhwerk. Gegenüber diesem asketischen Bußgang wirkt die eigentliche große Karfreitagsprozession, die zur Abenddämmerung beginnt und gute vier Stunden dauert, geradezu pompös, wie eine gigantische Kostümshow im atmosphärischen Stile prunkvoller Hollywood-Inszenierungen.
Und tatsächlich denkt man unweigerlich an Szenen des Wagenrennens aus Ben Hur, wenn die römischen Kampfwagen und Kutschen, gezogen von edlen, ebenfalls sorgsam ausstaffierten Pferden, mit wahnwitziger Geschwindigkeit durch die schmalen Altstadtgassen preschen. Links und rechts erheben sich die voll besetzten Zuschauerränge, die den mit Sand ausgelegten Zugweg flankieren. Im wilden Galopp rauschen die Wagen heran, Staub wirbelt auf, dann erfolgt eine kurze kühne Wende und es geht wieder zurück.
Artisten zeigen unterdessen begleitet von tosendem Applaus und überschwänglichen Beifallskundgebungen wilde Kunststücke auf dem Rücken ihrer galoppierenden Vierbeiner. Die tollen Kostüme und Umhänge, die liebevoll farbig lackierten Hufe der Tiere geraten angesichts der irrwitzigen Aktivitäten völlig in den Hintergrund.
Das Spektakel der Wagenrennen bildet zwar den furiosen Höhepunkt der biblischen Prozession, nicht minder eindrucksvoll jedoch die Leistung der Sänftenträger, die im Wiegeschritt ihre wertvolle Fracht über die vielen Kilometer des Umzuges auf den Schultern transportieren. Einige Sänften werden dabei sogar ausschließlich von Frauen getragen.
Zum filmreifen Bild passen letztlich auch all die illustren Persönlichkeiten aus der Zeit vor 2000 Jahren, die auf ihren wundervoll ausstaffierten Wagen huldvoll die Gunst des Publikums entgegennehmen. Da fehlt die Königin von Saba ebenso wenig wie Kleopatra, Nero oder Julius Cäsar. Und selbst der Beelzebub taucht dämonenhaft hier und da genauso schnell auf wie unter.
Allgemeine Infos unter www.spain.info und unterwww.lorcaturismo.es
Anreise: Direktflug nach Alicante mit Air Berlin von vielen deutschen Flughäfen, danach eine gute Stunde mit dem Mietwagen.
Sehenswert: Museen der Bruderschaften. Paso Azul, Paso Blanco, Paso Encarnado mit Ausstellungen der bei den Prozessionen getragenen Stickereien; Porche de San Antonio. Einziges Tor in der teilweise erhaltenen Stadtmauer; Museo Arquelogico. Archäologisches Museum mit interessanten Fundstücken in historischem Stadtpalast; Kunsthandwerkermarkt. Schmuck, Spielzeug, Souvenirs von lokalen Künstlern auf dem Plaza Calderon de la Barca; La Fortaleza del Sol. Die Festung an der Sonne
Nächtliche Pilgerwanderung. Schweigend und barfuß pilgern auf dem Kreuzweg zu Mitternacht am Karfreitag
Essen und Trinken: Restaurant La Cava, stilvolles Haus mit vielen regionalen Spezialitäten
Tapas Trail. Kulinarische Wanderung durch die typischen Lokale der Stadt mit authentischer Atmosphäre
Unterkunft: Hotel Parador Castillo de Lorca, tolle Lage auf der Höhe der Burg von Lorca, gutes Restaurant, opulentes Frühstück
Hotel Jardines del Amaltea, gutes Businesshotel etwas außerhalb von Stadtzentrum
Hotel Spa Jardines de Lorca, im Park am Rande des Stadtzentrums, gutes Restaurant
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