In der Weihnachtstradition der Isländer gibt es weder Christkind noch Weihnachtsmann – nein, es gibt gleich 13 „Weihnachtsgesellen“ namens Jólasveinarnir oder Jólasveinar. Der Legende nach kommt 13 Tage vor Weihnachten jeden Tag einer dieser Trolle aus den Bergen hinuntergestiegen. Am Heiligen Abend oder, wie es auf Isländisch heißt am Aðfangadagskvöld (wörtlich übersetzt: „Anfangsabend“) sind dann alle gemeinsam vereint. Kinder stellen in der Vorweihnachtszeit abends ihr bestes Paar Schuhe auf die Fenstersimse und finden jeden Morgen ein kleines Geschenk hierin. Allerdings nur die braven Kinder – die, die spät ins Bett gehen oder sonst wie ungezogen waren, finden vielleicht nur eine rohe Kartoffel in ihren Stiefeln.
Waren die Weihnachtskerle in alten Geschichten oft kriminell und fies, so wurden sie in neueren Erzählungen immer mehr zu freundlichen Kerlen. Das 1932 vom isländischen Autoren Jóhannes úr Kötlum verfasste Gedicht „Jólasveinarnir“ gehört zum Kanon der isländischen Literatur. Nach Weihnachten beginnt langsam der Rückzug und es wandert immer ein Geselle mehr wieder zurück in die Berge, bis alle 13 Trolle am Tag der Heiligen Drei Könige (þrettándinn) wieder in die Berge verschwunden sind.
Die 13 rauen Gesellen hatten selber übrigens eine recht raue Kinderstube, da sie als Kinder von Leppalúði und des Trollweibs Grýla, die in alten Überlieferungen stahl und nichts lieber aß, als unartige Kinder. Diese jahrhundertealte Trollfrau ist übellaunig und lässt ihre 13 Söhne so gut wie nie aus der unordentlichen Trollhöhle heraus. Außer, wenn es im Dezember so richtig kalt ist. Dann taut Grýlas Herz ein wenig auf und sie lässt ihre Jungs einen nach dem anderen vom Hochland in die Täler ziehen.
Auch das Haustier der Trollfamilie, die Weihnachtskatze (Jólakötturinn), verspeist der Überlieferung nach gerne Menschen – und zwar bevorzugt diejenigen, die faul waren. Je nach Überlieferung verspeist sie aber auch Kinder, die zu Weihnachten keine neue Kleidung bekamen. Die Namen der Weihnachtskerle haben je eine eigene Bedeutung:
Stekkjarstaur = der Schafschreck; er kommt am 12. Dezember aus den Bergen und verzieht sich am 25. Dezember wieder.
Giljagaur = der Schaumschuft; er kommt am 13. Dezember hinab in die Täler und verschwindet am 26. Dezember.
Stúfur = Kurzer oder auch Knirps genannt; er kommt am 14. Dezember und steckt etwas in die Schuhe, bevor er am 27. Dezember wieder geht.
Þvörusleikir = der (Koch-) Löffellecker; er kommt jährlich am 15. Dezember und geht am 28. Dezember.
Pottasleikir = derTopf der Topf- oder Kesselkratzer; er besucht die Menschensiedlungen am 16. Dezember und macht sich am 29. Dezember wieder davon.
Askasleikir = der Schüsselschlecker; dieses Leckermaul verlässt die Bergwelt am 17. Dezember und kehrt am 30. Dezember dahin zurück.
Hurðaskellir = der Türentreter oder -schläger wird dieser Troll genannt, der am 18. Dezember zu erwarten ist. Am 31. Dezember ist er wieder weg.
Skyrgámur = der Gierschlund; er kommt am 19. Dezember und macht sich am 1. Januar wieder aus dem Staub.
Bjúgnakrækir = der Rauchwursträuber; mit ihm muss man jährlich am 20. Dezember rechnen. Ab 2. Januar hat man wieder Ruhe vor ihm.
Gluggagægir = der Fensterglotzer, er besucht die Menschen am 21. Dezember und zieht am 3. Januar von dannen.
Gáttaþefur = der Türschlitzschnüffler; er kommt zwei Tage vor Weihnachten, am 22. Dezember und verschwindet am 4. Januar.
Ketkrókur = der Keulenklauer oder, etwas freundlicher auch Fleischangler genannt; er kommt einen Tag vor Weihnachten aus der Bergwelt, am 23. Dezember. Am 5. Januar ist er wieder weg.
Kertasníkir = der Kerzenschnorrer heißt dieser Troll übersetzt und erscheint am 24. Dezember. Am 6. Januar ist auch er zurück in der Bergwelt.
Gekleidet sind die 13 Weihnachtsboten übrigens traditionellerweise in dicker, unförmiger Wollkleidung, die im Mittelalter in Island üblich war. Neuerdings sieht man leider auch immer mehr Weihnachtskerle, die in rot-weißen-Weihnachtsmann-Polyester-Mänteln herum laufen. Wer im Dezember in der Nähe von Dimmuborgir in der Region Mývatn sein sollte, der kann den 13 Weihnachtstrollen einen Besuch abstatten und sie mit Haut und Haar bestaunen oder ihnen bei ihrem jährlichen Bad zuschauen.
Karsten-Thilo Raab
berichtet seit mehr als drei Jahrzehnten für eine Vielzahl von Zeitungen und Magazinen über Reiseziele weltweit. Zudem hat er sich einen Namen als Autor von mehr als 120 Reise-, Wander- und Radführern sowie Bildbänden gemacht.