Schon ab 1825 wussten die Habsburger Südtirols Savoir Vivre zu schätzen. In Schenna kaufte Erzherzog Johann ein Schloss und plädierte für einen Alpenstaat von Piemont bis Slowenien. „Er war eine beeindruckende Figur“, schwärmt noch heute Paul Rösch, Ethnologe und ehemaliger Bürgermeister von Meran. Der Lebenslauf des Erzherzogs war abenteuerlich. In England einst als Spion gepriesen, mit dem Tiroler Freiheitskämpfer Andreas Hofer befreundet und Investor in Apfelsorten und Wein. Rösch bezeichnet ihn nicht umsonst als „gewaltigen Vordenker“.
Viele Adelige folgten Erzherzogs Johanns Lebensmotto. Richtig populär wurde die Stadt als Sehnsuchtsort von Kaiserin Sissi. Als ihre Tochter Marie Valérie an einem Lungenleiden erkrankte, brachte sie die Herrscherin 1870 in das für die Heilung von Lungenpatienten bekannte Meran. Unweigerlich verfiel Sissi der Faszination der Alpenstadt. Insgesamt viermal verbrachte sie mit ihrer Tochter die Winter in Meran – zweimal in Schloss Trautmannsdorf, einmal in Erzherzog Karl Ludwigs Schloss Rottenstein und dann noch einmal ein Jahr vor ihrem Tod inkognito in Merans Hotel Kaiserhof.
Weltkurort in den Alpen als geistiges Zentrum
Mit ihr kamen weitere Adlige und Prominente aus ganz Europa. Insgesamt bildeten sich hier mit den katholischen, evangelischen, russisch-orthodoxen, anglikanischen und jüdischen Gläubigen fünf Glaubensgemeinschaften. Das einst bettelarme Städtchen profitierte von dem Bau der Eisenbahn, die als „Brennerbahn“ ab 1867 die Postkutschen ablöste und den Zuzug von Kurgästen vereinfachte. „Es gab sogar einen Zug von St. Petersburg nach Meran“, erklärt Rösch. „Meran war durch sein mildes Klima ein typischer Winterkurort“, ergänzt der 69-jährige. „Vor dem Ersten Weltkrieg hatte die Stadt den Ruf eines Weltkurortes.“
Meran florierte ab der Hälfte des 19. Jahrhunderts. „Hoteliers, Geschäftsleute und Arbeiter kamen in Scharen, um hier eine neue Lebensgrundlage zu finden“, sagt Rösch, der als Jugendlicher in den Sommerferien sein Taschengeld als Liftboy im bekannten Meraner Hotel Palace aufbesserte. „Mein Vater war damit einverstanden, ich sollte ja arbeiten. Außerdem hatte ich keine Lust, ihn nur im familieneigenen Betrieb zu unterstützen. Mein Berufswunsch war Hoteldirektor, und ich wollte erste Erfahrungen sammeln.“
Aufgeweckter Bauernbub mit Berufswunsch Priester
Josef Stampfl wurde in Rodeneck als 13. Kind einer Bauernfamilie geboren und dort liebevoll großgezogen. Schon früh erkannten seine Eltern die vielfältigen Begabungen ihres Sohnes und ermöglichten ihm die Ausbildung am Brixner Knabenseminar „Vinzentinum“ und am Priesterseminar.
Genau wie Rösch ist der heutige Nationalpräses von Kolping Südtirol mit der Kurstadt sehr vertraut. Der 81-Jährige hält fast täglich die Heilige Messe in der Kapelle der Schwesterngemeinschaft „Congregatio Jesu“ wie auch in der St. Georgen-Kirche in Obermais, einem Ortsteil von Meran. Seine Lieblingsthemen sind die Evangelien.
„Ich habe Freude an der Bibel, aber auch an verschiedenen literarischen Werken. Ich entscheide täglich, ob ich mehr in die Bibelauslegung hinein gehe oder nicht.“ Denn genau das liebt er, garniert seine Predigten gerne mit Camus- oder Rilke-Zitaten, aber auch mit Aussagen namhafter Theologen. Dabei hat er seine eigenen Anschauungen zur Mystik: „Ich habe Schwierigkeiten mit der Trennung von Seele und Leib“, gibt er unumwunden zu. „Der Mensch als Ganzer stirbt, wird aber in seiner Identität in die Liebe Gottes hineingenommen. Ich hoffe, dass ich in diese Liebe hineinwachsen kann, wenn ich mich zu Gott bekenne. Das ist meine eigene Mystik.“
Musical Hair und die 1968er Bewegung
Dann erzählt er von seiner Vergangenheit als Religionslehrer in Bruneck und anderen Orten in Südtirol: „Die 1970er Jahre waren turbulent. Die jungen Leute fragten mich, ob sie das Musical Hair in München besuchen dürften, das damals sehr umstritten war. Schließlich fuhr ich mit einigen Schülern in die bayerische Landeshauptstadt. Am Abend hin und nach der Show wieder zurück nach Bruneck! Wir waren jung damals, und ich war aufgeschlossen und modern eingestellt“, schmunzelt der ehemalige Student des Münchner Instituts für Katechetik und Homiletik. „In Italien hatten wir viel mehr Freiheiten als die Deutschen, was Lehrpläne angeht!“ Auch damals stellten die jungen Leute Fragen. Sie seien voller Zweifel gewesen. „Ich hatte in Südtirol Schüler linker Gruppierungen, die auch mal am Montag mit einem gebrochenen Arm in den Unterricht kamen! Und immer wieder diskutierten wir. Das war wichtig.“
Der jung gebliebene Priester erinnert sich an seine Studienzeit in München. „Es gab die 1968er Bewegung. Die gefiel mir! Obwohl ich am Anfang als relativ konservativer Südtiroler meine Schwierigkeiten hatte, diese Freizügigkeit zu akzeptieren.“ Damals begann er, mit seinen Kommilitonen abends das politische Nachtgebet ins Leben zu rufen. „Letztendlich hat es mir geholfen, später mit meinen Oberschülern zurecht zu kommen.“
Meran als Schmelztiegel der Religionen
Josef Stampfl, der auch im damaligen Zaire – heute Demokratische Republik Kongo – als Entwicklungshelfer und Ende der 1960er Jahre als Strandseelsorger an der spanischen Costa Brava gedient hatte sowie auch mehrere Jahre als Sektenbeauftragter der Diözese tätig war, hat im Laufe seines Lebens verschiedene Glaubensrealitäten kennengelernt. Auch innerhalb des Katholizismus nimmt er Unterschiede wahr: So sei der deutsche Katholizismus anders als der italienische. „Hier gibt es zum Beispiel Unterschiede zum 30 Kilometer entfernten Bozen.“ Denn in Meran seien die Hälfte der Einwohner deutscher Herkunft, in Bozen gebe es dagegen viel mehr Italiener. „Dort wird zuerst die Madonna geküsst! Die Art und Weise, wie man den Glauben ausdrückt, ist einfach verschieden.“
Historiker Paul Rösch gibt dem 81-Jährigen Recht: Tirol war immer sehr katholisch und lehnte Protestanten ab. Das führte zu heftigen Disputen.“ Er erklärt das im Jahr 1861 von Kaiser Franz Joseph I. ins Leben gerufene Protestantenpatent. Erlaubt war damit, dass sich Protestanten im gesamten Kaiserlichen und Königlichen Monarchiegebiet ansiedeln und Gottesdienste feiern dürfen. Daraufhin hallte in den Bergen das so genannte „Glaubensschießen“ der Katholiken wider, als Protestaktion gegen die Heiden. Allmählich beruhigte sich die Situation und das Protestantenpatent wurde akzeptiert.
Heute finden in Meran alle Glaubensgemeinschaften eine Heimat. „Hier ist es friedlich“, ergänzt Priester Stampfl. „Wir gehen aufeinander zu.“ Rösch nickt: „In Meran gibt es gelebte Weltoffenheit. Die Menschen, die zu uns kommen, bringen nicht nur Geld als Touristen, sondern auch ihre Ansichten mit.“ Die Meraner haben sich an dieses Zusammenleben längst gewöhnt.
Kein „Mia san mia“
„Als 2015 die ersten Flüchtlinge kamen, gab es kein ‚Mia san mia“ („Wir wollen unter uns bleiben!“) sondern eine gewaltige Hilfe.“ Davon wurde ich als Bürgermeister total überrascht. „Eine Stadt, in der Tourismus gelebt wird, geht mit Fremden anders um.“ Er deutet auf das Abbild des heiligen Christophorus an Merans St. Nikolaus-Kirche, der Hauptkirche der Stadt: „Reisende, die in unsere Stadt kommen, sehen das Gemälde und fühlen sich hier sicher. Das war für Jahrhunderte so!“ Gleich daneben ziert das Bild von Sankt Nikolaus die Mauer. „Er hat unsere Stadt schon immer vor Überschwemmungen und Muren geschützt und war in unserem Alltag stets präsent. Am 6. Dezember hatten wir früher sogar schulfrei“, betont Ethnologe Rösch.
Vom Balkon des traditionsreichen Hotels Europa Splendid aus hat man einen faszinierenden Überblick über die Promenade und die Berge. In der Tat hat Meran bis heute nichts von seiner Magie als Sehnsuchtsort verloren. „Die meisten, die kommen, wollen bleiben oder uns immer wieder besuchen“, ergänzt Paul Rösch. Es mag nicht nur am Charisma von Sissi, der ewigen Kaiserin liegen, sondern am gelebten Charme und den offenen Armen, mit dem das Alpenstädtchen seine Gäste empfängt.
Sabine Ludwig
ist deutsche Journalistin und Reiseautorin. Sie hat mehrere Bücher veröffentlicht und war als Kriegsberichterstatterin in Afghanistan, Südsudan, Irak und Mali. In ihrer Freizeit widmet sie sich neben diversen Sportarten ihrem Blog sl4lifestyle.com und ihrem Hund Brad. - Foto: Nicola Mesken