
Über den Jahreswechsel hatte ich ein Haus in der Nähe von Casablanca in Marokko gemietet. Ein sehr freundlicher Vermieter begrüßte mich, ein wenig Smalltalk und natürlich die Frage, woher wir kämen: „Oh, Berlin“, meinte der junge Mann. „Meine Schwester lebt in Baden-Baden und über Berlin höre ich da in letzter Zeit nicht so viel Gutes“, entfuhr es ihm. Nur ein paar Tage später schrieb der Korrespondent der Financial Times in einem Artikel aus Anlass seines Wegganges aus Berlin nach neun Jahren, dass Berlin sich auf dem Weg befinde, sich selbst zu vernichten, selbst dahinzuschwinden. Ein Artikel mit ähnlichem Tenor erschien nur wenige Tage später im Feuilleton der FAZ.
Ich habe fast mein gesamtes Leben in der Stadt an Spree und Havel verbracht und immer gern hier gelebt. Aber all diese Artikel bestätigen, was ich und viele meiner alteingesessenen Freunde seit ein paar Jahren beobachten: die Stadt verlottert. Ich denke dabei zunehmend an meinen ersten Besuch in Detroit, Ende der 90iger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Leerstand, Verfall, Schmutz – eine Stadt im Verfall. Jedes Jahr wird darüber diskutiert, welche Brunnen noch eingeschaltet werden können und zur Weihnachtszeit fehlt vielerorts das Geld für festliche Beleuchtung. Verfall kann man Tag für Tag an vielen Ecken und vielen Beispielen sehen.
Bröckelnder Glanz

Nehmen wir die Friedichstraße. In den sogenannten Goldenen Zwanzigern ein Hotspot der quirligen Metropole. Nachdem Berlin Ende der 1990iger Jahre wieder Hauptstadt wurde, der Versuch einer Auferstehung. Es sollte wieder ein Hauch von Weltstadt einziehen. Und heute? Versuche, Teile der Straße in eine Fußgängerzone zu verwandeln, sind krachend gescheitert. Das Edelkaufhaus Quartier 206 ist lange weg, dass Lafayette nun auch und gerade ist das Fünf-Sterne-Hotel Regent geschlossen worden. Im gleichen Bau hat bereits Jahre vorher das Four Seasons Hotel die Segel gestrichen.
Der Gendarmenmarkt, einer der vielleicht schönsten Plätze Europas ist seit Jahren eine Baustelle. Immerhin soll er im Februar endlich fertig sein. Ganz zu schweigen vom seinerzeit hochgelobten Potsdamer Platz. Gerade am Abend wird man dort an Francoise Sagan erinnert: Bonjour tristesse. Leerstand auch in der Mall of Berlin. Sie ist wie viele dieser neumodischen Shoppingtempel vielleicht auch ein Grund für das Sterben so mancher Einkaufsstraße. Uniforme Shoppingcenter statt individuellem Flair.
Stillstand allerorten

Hinzu kommen die überall sichtbaren Straßenbaustellen, bei denen man das Gefühl hat, dass nie etwas vorangeht. Längst schreckt das auch Touristen ab. Ein Magnet wie das Pergamonmuseum ist bis weit ins nächste Jahrzehnt geschlossen. Ein kleines Beispiel noch aus meiner Wohngegend in Berlin-Köpenick. Dort tat sich in einer Straße ein Schlagloch in Größe eines Fußballs auf. Mit etwas Bitumen oder was man da so nimmt, sicherlich in sehr kurzer Zeit zu flicken. Seit Wochen stehen dort nun die bekannten Baustellenbaken und sorgen durch die Sperrung einer Fahrspur für Stau. Wie auch im Herbst im Tiergartentunnel, der wegen Lüftungsproblemen einfach mal wochenlang geschlossen wurde.
Die Verantwortlichen der Berliner Politik und des Tourismus scheinen dies alles zu ignorieren. Zwar gehen die Besucherzahlen wieder nach oben aber im Vergleich zu Vor-Corona (2019) sind sie lange noch nicht. Man scheint damit beschäftigt zu sein, sich um Radwege zu kümmern, auch wenn es sie auf etlichen Magistralen längst gab – Adlergestell, wo man eigentlich nie ein Fahrrad sieht, oder Frankfurter Allee, wo schon immer neben dem breiten Fußweg einer war. Aber wen kümmert es.
Vertane Chancen

Dabei werden auch Chancen zu glänzen einfach liegen gelassen. Seit Jahren vergibt Berlin Partner den Titel Berliner Meisterköche. Doch noch nie wurde dazu überregionale Presse eingeladen. Von der Qualität des Wettbewerbs abgesehen. Es scheint mehr eine Nabelschau der Jury zu sein und vor allem ein Essen zum Jahresende für die einzahlenden Unternehmen bei Berlin Partner. Zu allem Überfluss müssen die Ausgezeichneten das auch noch finanzieren. Und waren es zu Beginn noch die Sterne-Restaurants, die einen Preis erhielten, sind es inzwischen… Ebenso ungenutzt bleibt das Feinschmeckerfestival Eat Berlin.
Zu Beginn des neuen Jahrhunderts zogen die Berlinale Stars in die Stadt, Hollywood-Premieren waren auch über Jahre gang und gäbe. Der Bambi wurde in Berlin vergeben, Goldene Kamera, Goldene Henne: alle weg. Der zum Ende seiner Amtszeit gescholtene Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit sorgte wenigstens für ein wenig Weltstadtfeeling, für Charisma in der Politik. Er trank Champagner aus dem Schuh der Schweizer Botschaftergattin, er nannte Berlin „Arm, aber sexy“. Damit passte er zu Kanzler Gerhard Schröder, der wegen Zigarren und Brioni-Anzügen Kritik einfing. Aber brauchen wir nicht auch das?! Politiker, die Spaß am Leben haben und damit auch an ihrem Job. Gestalter statt nur Verwalter.
Verzweifelte Ideensuche

Selbst der Bundespresseball ist inzwischen nicht gerade eine glanzvolle Party. Einst mit Größen wie Gianna Nannini, Nena, BAP oder auch anderen Showgrößen als Top-Act, unterhält heute noch die Band der Bundeswehr. Der ADAC-Ball, der einst zwei Tage lang das ICC füllte, ist ebenso verschwunden wie der glanzvolle Berliner Presseball an gleicher Stelle. Das ICC indes steht seit zehn Jahren leer. Nun soll wieder mal ein Ideenwettbewerb für einen Neuanfang sorgen.
Gleiches gilt für die einstigen Flughäfen Tegel und vor allem Tempelhof. Letzter auf einer Fläche so groß wie Monaco. Dort steigen Drachen und am Rande sind Flüchtlinge untergebracht. Die meisten Gebäude indes stehen leer. Ein ergebnisoffener Wettbewerb soll nun dort Ideen bringen. Ob diese dann jemals Realität werden, bleibt offen. Sogar die gerade renovierte katholische Hedwigs Kathedrale gleicht nun mehr einer kühlen Turnhalle. Kein sakraler Pomp. Sogar das scheint zum Puritanismus der heutigen Zeit zu passen.
Flächendeckende Dysfunktionalität

Noch ein kleines Beispiel aus der historischen Mitte. Die Figur der Gertraude auf der gleichnamigen Bücke war lange Zeit nicht mehr beleuchtet. Ein ansässiger Gastronom wollte dies auf eigene Kosten übernehmen. Er sollte jedoch dermaßen viele Ämter anfragen, dass er irgendwann genervt aufgab.
Da ich mit dem Urlaub in Marokko begonnen habe. Anfang Januar kamen wir via Madrid zurück. Das heißt, wir wollten zurückkommen. Wegen Temperaturen um den Gefrierpunkt wurde der Flughafen BER geschlossen: Frostgefahr. Berlin scheint also längst nicht mehr nur arm zu sein. Dysfunktional trifft es sicherlich besser.
Vor gut 100 Jahren schrieb Kunstkritiker Karl Scheffler „Berlin sei dazu verdammt: immerfort zu werden und niemals zu sein“. Vielleicht wäre es schön, wenn die Stadt mal wieder mehr werden würde.

Honza Klein
Der Berliner hat für diverse Radiosender gearbeitet, war viele Jahre Redakteur bei der Berliner Morgenpost, hat an Büchern über Berlin mitgearbeitet und ist u.a. Autor für die Super Illu und Gastgeber einer Talksendung bei TV Berlin.