Der Sechs-Wochen-Karneval von Malo-les-Bains

Sie ist der gute Geist, das Maskottchen des Karnevals von Malo-les-Bains. Zwar ist ihr eigentlicher Name Brigitte Dehuyssere, doch jeder kennt sie nur als Mamie Gateau – die Kuchenmutti. Während der tollen Tage betreibt die 66-jährige Rentnerin eine sogenannte Kapelle, eine Verpflegungsstation für erschöpfte, hungrige und vor allen Dingen durstige Karnevalisten. Und das schon seit fast 20 Jahren. Gut zwei Wochen Vorbereitungszeit und die tatkräftige Unterstützung ihrer noch ausgesprochen rüstigen Mutter und einiger Freundinnen sind notwendig, um ein eindrucksvolles Kuchenbuffet zu kreieren, das binnen weniger Stunden komplett abgeräumt ist und danach einer herzhaft-kräftigen Zwiebelsuppe Platz macht. Die Zubereitung dieses ebenso rustikalen wie schmackhaften Gerichtes obliegt im Übrigen Mamie Gateaus Mama.

In Brigittes kleiner Wohnung herrscht an den tollen Tagen fast rund um die Uhr organisiertes Chaos. „Hier kommen nur Leute rein, die ich kenne. Eben auf Einladung. Eine Kapelle ist schließlich kein öffentliches Haus – zumindest im Karneval,“ fügt sie lachend hinzu und begrüßt wieder neue Gäste, die kurz zwecks Erkennung die Maske lüften müssen. Gleichzeitig verlassen andere das Haus, um sich wieder ins fröhliche Treiben zu stürzen. Brigittes Heiterkeit steckt an. Trotz des schweißtreibenden Service für die Feierwütigen wirkt sie weder unglücklich noch gestresst. „Es macht einfach Spaß, für alle da zu sein.“ Sie grinst und blickt zufrieden in die Runde. „Früher habe ich nur Kuchen gebacken, davon hatte ich dann meinen Spitznamen weg. Alle nannten mich schon Mamie Gateau, bevor ich es überhaupt selbst wusste.“

Heute serviert sie auch das traditionelle flämische pootje vleesch, eingelegtes, langsam gekochtes Fleisch, das kalt zu den unvermeidlichen Fritten serviert wird. Zudem gibt es cululut, den Kuchen der Armen.  Dieser stammt, so weiß die Überlieferung zu berichten, aus der großen Zeit der Fischerei in Nordfrankreich vor gut 200 Jahren. Damals wurde der einfache Teig aus Griesmehl, Milch, Butter und Rosinen hergestellt und mit Rum versetzt. Ein sehr haltbares, gehaltvolles und aromatisches Lebensmittel für die Seefahrer, die meist mehrere Wochen unterwegs waren. Podingue schließlich beschreibt eine Art Pudding aus altem Brot, gemischt mit Ei, Rum, Rosinen und eventuell – ganz nach eigenem Gusto – weiterem Obst.

Die Feierlichkeiten von Malo-les-Bains stellen den spektakulären Abschluss des Karnevals von Dünkirchen und seiner Nachbargemeinden dar. Damit auch jeder, der vielen Ortsteile sein adäquates Fest bekommt, werden jeden Samstag und Sonntag an einem anderen Ort Umzüge organisiert und zünftige Bälle veranstaltet. Das beginnt mit dem Ball der schwarzen Katze schon viele Wochen vor Rosenmontag, an dem traditionell die größte Parade im Stadtzentrum durchgeführt wird, und endet üblicherweise erst am Wochenende danach. Karneval war in der Region schon sehr lange bekannt, seit dem 17.Jahrhundert leisten speziell die Fischer ihren zusätzlichen Beitrag dazu. Weil die Ausbeute der Fangzüge nicht mehr ausreichte, waren die Seeleute gezwungen für längere Zeit hinaus zu fahren, was bis zu sechs Monaten dauern konnte.

Die Abfahrt in die ertragreicheren Fanggründe im nördlichen Atlantik erfolgte üblicherweise im März, also zur Zeit des Mardi Gras, mit dem dann konsequenterweise der Auszug der Fischer gefeiert wurde. Weil die Schiffe schon vollständig für die Fahrt beladen waren, hatten die Männer keine Kleidung mehr für die Feierlichkeiten. So zogen sie Frauenkleider an. Eine Kostümierung, die bis heute nichts an Popularität eingebüßt hat, ganz im Gegenteil. Maritime Verkleidungen tauchen jetzt indes so gut wie gar nicht auf, lediglich die Musiker tragen knallgelbe Südwester als Hinweis auf die Nähe zum Meer, auch sind nur wenige Masken zu sehen. „Viele Leute, denen du hier begegnest, kenne ich nur in ihrem Kostüm. Ich weiß nicht, wie sie im richtigen Leben aussehen, würde sie wohl gar nicht erkennen“, erzählt Laurence Baillieul von örtlichen Touristenbüro, die sich ebenfalls aktiv am Karneval beteiligt und in ein elegantes schwarzes Kleid aus den 20er Jahren gewandet ist. Dies schon seit Jahren. „Daher tragen viele immer die gleiche Maskierung. Wir feiern dann gemeinsam und verabreden uns fürs kommende Jahr.“

Für die Menschen aus Dunkerque und der Umgebung bedeutet der Karneval sehr viel, er ist wichtiger, wenn nicht wichtigster Bestandteil im Jahreszyklus. Selbst die Arbeitgeber nehmen Rücksicht darauf und sorgen dafür, dass alle Mitarbeiter Gelegenheit bekommen an den Feiern teil- und möglichst viele Termine wahrzunehmen. Neben dem Straßenkarneval richten viele Gruppen und Vereine garantiert gut besuchte Bälle und Parties in den regionalen Hallen und Sälen, so auch im Kurhaus von Malo-les-Bains, aus.

Karnevalswagen und Pomp sucht man in den lebhaften Umzügen vergeblich. Alles wirkt sehr natürlich und bodenständig. Die kostümierten Teilnehmer des Zuges von Petite Synthe scharen sich um die Musikgruppen, die während der langen gemeinschaftlichen Wanderung unter den Augen unzähliger Zuschauer einen ganz besonderen Stellenwert einnehmen. Sie bzw. die Gestik des dirigierenden Tambours steuern maßgeblich Ablauf und Choreografie des Zuges. Rhythmuswechsel und plötzlicher prominenter Einsatz eines neuen Instrumentes sind für die anführend marschierenden Karnevalisten, mit bunten Schirmen ausgestattet, Signal zum abrupten Stehen bleiben und, nebeneinander eingehakt, rückwärts zu drängen. Ein simples, aber effektvolles Spiel, das so mancher noch aus Kindergarten- und Schulzeit in Erinnerung hat. Nun dargeboten von fröhlichen, erwachsenen Menschen, die sich mit aller Macht gegen die nachfolgende Menge stemmen. Solange bis die Musik wieder andere Töne anschlägt. Ein ulkiges Bild für die Außenstehenden, die allerdings durchaus auch unversehens zum aktiven Teil des Geschehens werden können. Vorausgesetzt die Straße ist schmal genug.

Ungewöhnlich auch die Auswahl der sehr lokal eingefärbten Musik. „Wir singen in einer Art Karnevalsdialekt. Eine Mischung aus Patois und Flämisch,“ erläutert Laurence, als sich der Zug langsam seinem Ende nähert. Auf einem großen Platz versammelt sich alles vor einer Bühne von der alsbald die traditionellen, gut verpackten Heringe in die Menge regnen. Und Bonbons für den Nachwuchs.

Die die Session abschließende Prozession der Karnevalisten im ehemals eigenständigen Kurort Malo-les-Bains beginnt am Sonntagmittag zur Ouvertüre mit einem Umzug für Kinder, der teils über den breiten Strand verläuft. Daran nehmen ebenfalls einige Riesenfiguren teil. Sie entstanden aus der Legende, dass ein eroberungswütiger Riese aus dem skandinavischen Raum an die nordfranzösische Küste kam, dort aber dem Charme und Liebreiz eines Mädchens verfiel. Er blieb und beschützt seither Stadt und Meer in der Region.

Fulminant und spektakulär dann der endgültig letzte große Umzug Bande de la Violette, der nochmals Unmengen an Teilnehmern und Zuschauern, auch aus entfernteren Städten des Landes, auf die Straßen des ehrwürdigen Badeortes lockt und über mehrere Stunden bis lange nach Einbruch der Nacht dauert. Die vielen Kapellen in der Stadt, es sollen fast 500 sein, bilden die halb-improvisierten Treffpunkte für Verschnaufpausen während des anstrengenden und kräftezehrenden Marsches. Der Zug endet auf dem Place Turenne im Stadtzentrum.

Ein kleiner Pavillon in der Mitte einer Parkanlage ist hell erleuchtet, von überall her dringt der stampfende Rhythmus der Musik, strömen die Karnevalisten herbei, die sich hier treffen und in drangvoller Enge einen Rigodon zelebrieren. Dieser Tanz, ein Volkstanz, der seine Ursprünge im Süden des Landes hat, stellt in Art, Aufbau und Durchführung die Perfektionierung des rituellen Ausbremsmanövers während des Umzugs dar. Wiese und Park erbeben unter den Schwingungen der zahllosen Tänzer, die urplötzlich in ein wildes Hüpfen übergehen, um kurz darauf wieder in das vorherige Schrittmaß zurückzukehren. Stimmungsvoller Höhepunkt schließlich das gemeinsame Anstimmen der Karnevalshymne, die das Ende des offiziellen Teils des ungestümen Treibens besiegelt. Nun ziehen alle durch die Straßen, kehren ein in die Kapellen oder in die vielen Restaurants und Bars an der Strandpromenade, die sich mit speziellen, traditionellen Menüs ebenfalls ganz dem Karneval verschrieben haben.

Information bei Atout France – Französische Zentrale für Tourismus in Deutschland, der Region Nord-Pas de Calais und in Dünkirchen

Anreise: Dünkirchen im Norden Frankreichs ist mit dem Zug oder dem Pkw zu erreichen. Die Fahrt führt über Lille oder Brüssel bis an die Küste.

Unterkunft:  Es stehen zahlreiche Hotels, Pensionen und Privatunterkünfte in der Stadt zur Verfügung. Zur Karnevalszeit ist eine entsprechende Vorausbuchung empfehlenswert. Ein nettes Hotel am historischen Hafen ist das Hotel Borel.

Restaurants: Viele ausgezeichnete Restaurants in unterschiedlichen Preiskategorien lohnen einen Besuch. Insbesondere Fisch und Meeresfrüchte sind auf den Speisekarten zu finden. Während des Karnevals bekommt man fast überall typische, traditionelle Menüs. Dies gilt auch für die Bars und Bistros an der Promenade von Malo-les-Bains, die eine sehr authentische Atmosphäre vermitteln, zudem gibt es hier oft Live-Musik und Tanz.

Udo Haafke