Eine Katze schleicht durch die kleine Gasse. Auf Mäuse kann die Samtpfote hier wohl kaum hoffen. An der warmen Lehmmauer eines Haus sitzt ein hageres Mädchen und genießt die warmen Sonnenstrahlen. Ein paar Schritte weiter kullern zwei Jungs mit nackten Bäuchen ihre Murmeln durch den staubigen Untergrund. Eine von einem Esel gezogene Karre mit Stroh hoppelt über das unebene Straßenpflaster mit seinen zum Teil knietiefen Löchern. Ein alter Mann schlendert neben dem Gespann her und hält die Zügel locker in der Hand.
Eilig hat es hier wirklich niemand. Zwischen den schlichten Wohnhäusern der Itschan-Kala, wie die Altstadt offiziell heißt, scheint die Zeit völlig still zu stehen. Ein paar wenige Autos stören die Idylle. Ansonsten fällt es nicht schwer, sich vorzustellen, warum Chiwa in längst vergangenen Tagen eines der pulsierenden Zentren entlang der legendären Seidenstraße war. Die usbekische Oasenstadt am Rande der Grenze zur Turkmenistan, die auch Xiva oder Khiva heißt, war vor Jahrhunderten eine der wichtigsten Handelsplätze des Orients.
Umgeben ist das malerische und staubige Fleckchen Erde dabei von einer mehr als 2.500 Jahre alten Stadtmauer. Obschon diese hier und da ihr Alter nicht verleugnen kann und in Abschnitten durchaus renovierungsbedürftig wäre, umhüllt sie eine der prächtigsten Wüstenstädte des Morgenlandes. Eigentlich fehlt nur eine vorbeiziehende Karawane, dann wäre die Bilderbuchkulisse perfekt.
Bilderbuchkulisse aus 1.001 Nacht
Kunstvolle Holzschnitzereien zieren die Eingangsportale vieler Häuser. Hinter den Türen öffnen sich schließlich großzügige Innenhöfe und auch Werkstätten von einheimischen Holzschnitzern. Deren Können ist unverkennbar groß, die Auftragslage jedoch offenbar klein. Und so hocken sie – wie viele andere der knapp 300 Familien, die im historischen Teil von Chiwa zu Hause sind, dann entspannt auf den Teppichen vor ihren Werkbänken an kleinen Teetischen und genießen bei einem netten Plausch das eine oder andere Glas des heißen Aufgussgetränks.
„Wir Usbeken lieben schwarzen und grünen Tee. Und vor und nach dem Essen gibt es gerne weißen Tee – wie wir hier den Wodka nennen“, lacht schließlich Muzafar Khodjayev. Der 44-jährige kennt in seiner Heimatstadt jeden Stein, arbeitet im Sommer als Touristenführer und im Winter gibt er Studenten dann Nachhilfe in Deutsch. Er selber hat die Sprache fast akzentfrei an der Universität im benachbarten Urgench gelernt. Nur ganze drei Wochen war er im Rahmen eines Stipendiums in Bayern und doch weiß er mehr über Deutschland als mancher Deutscher.
Wodka – der weiße Tee der Usbeken
„Weißer Tee hilft auch, die Hitze, die hier vor allem im Sommer herrscht, besser zu ertragen“, ergänzt Muzafar. Die bisweilen heißen Winde scheinen jede Menge trockene Luft, Sand und Staub aus den umliegenden beiden Wüsten, der usbekischen Kysylkum und der turkmenischen Kara-Kum, über die Stadtmauern zu wehen. Und so schwingen hier unzählige Frauen in farbenprächtigen Kleidern die Reisigbesen, um zumindest die Hauptachsen der Itschan-Kala picobello sauber zu halten. Gemächigen Schrittes – wie einst die Karawanen, die auf ihrem Weg über die Seidenstraße durch Chiwa zogen – trotten heute Touristen aus aller Herren Länder durch die Straßen und Gassen des UNESCO-Weltkulturerbes.
Von Nord nach Süd ist die Altstadt gerade einmal 650 Meter lang, von Ost nach West gar nur 400 Meter. Umgeben ist die 26 Hektar große Itschan-Kala, die als perfekte Kulisse für ein „Märchen aus 1001 Nacht“ herhalten könnte, von einen 2.200 Meter langen und bis zu zehn Meter hohen Stadtmauer. Sim, Sohn des biblischen Noah, so beteuert Muzafar, soll der Legende nach die Stadt 3.000 vor Christus in Form der Arche angelegt haben. Ihren Namen soll die Stadt jedoch jenen Kaufleuten verdanken, die nach einer langen Reise durch die Wüste in der Oase endlich kühles und kristallklares Trinkwasser vorfanden und voller Verzückung „Chei-wach!“ (Oh wie köstlich!) gerufen haben sollen.
Weit mehr als 2.500 Jahre bewegter Geschichte
Obschon Chiwa Tausende von Jahren alt ist (1997 wurde offiziell das 2.500-jährige Bestehen begangen), stammt das Gros der heutigen Prachtbauten aus dem 18. und 19. Jahrhundert, nachdem die Perser die Oasenstadt im Jahre 1740 dem Erdboden gleich machten. Heute erweist sich die Itschan-Kala als eine Ansammlung aus Kupppeln und Quadern, Mauern und Bögen, aus Moscheen, Medresen (theologische Hochschulen), Minaretten und Mausoleen – allesamt überwiegend in Lehmfarben oder Blau-Töne gehüllt und vielfach mit kunstvollen Ornamenten, Fliesen und Mosaiken verziert.
In dem Meer aus mehr als 50 kulturhistorischen Bauwerken bildet das Minarett Kalta Minor einen ungewöhnlichen Blickfang. Der mächtige Turm mit einem Durchmesser von 15 Metern sollte dereinst der mit 70 Metern höchste Moscheeturm der islamischen Welt werden und sogar den Blick bis in das 480 Kilometer entfernte Bukhara freigeben. „Weil der Khan befürchtete, man könne von oben in den Harem blicken, ließ er 1852 den Bau stoppen“, schmunzelnd Muzafar mit Blick auf den „abgebrochenen Riesen“, der es dennoch auf ein Gardemaß von 26 Metern bringt. Direkt angrenzend sorgt die blau-weißen Fassade der Muhammad Amin Chan Medresse für einen weiteren Blickfang. In den einstigen Räumen der Koranschule ist heute ein Hotel untergebracht.
Turmbau für Harem-Schutz geschützt
Nur einen Steinwurf entfernt liegt die Kunya Ark Zitadelle. Vom Wachturm der ehemaligen Residenz des Khans eröffnet sich eine prächtigen Rundumblick über die historische Altstadt von Chiwa. Nur der Blick in den Harem bleibt auch von hier verweigert. Dabei ist der reich verzierte Innenhof durchaus sehenswert, ebenso das einstige Schlafgemach des Khans, der sich zusätzlich zu seinen vier Hauptfrauen bis zu 40 Konkubinen gönnte.
„Wenn er sich von einer der Frauen trennen wollte, musste er nur dreimal „Talak“ rufen, was so viel heißt wie „ich verstoße dich“, flachst Muzafar, dass sich wohl auch manch unglücklich verheirateter Europäer ein derart einfaches Scheidungssystem wünsche.
Zu den weiteren Prachtbauten des Weltkulturerbes zählen zudem das Pachlavan Machmud Mausoleum mit seiner riesigen türkisfarbenen Kuppel und die so genannte 1.000-Säulen-Moschee. Dabei tragen in der Juma Moschee tatsächlich „nur“ 212 individuell geschnitzte Holzsäulen die Deckenkonstruktion. Lohend ist auch der Aufstieg auf das 44 Meter hoch gen Himmel aufragende Minarett Islam Khodja.
Von hier lässt sich die Itschan-Kala in ihrer ganzen Pracht in Augenschein nehmen. Zudem fällt der Blick auf die vielen Andenkenverkäufer, die neben Aladin-Schuhen, handgeknüpften Teppichen und Seidenschals vor allem auch bunte und ungewöhnliche Hüte an den Mann bringen wollen. Darunter auch Mützen mit dem langen, zotteligen Fell der robusten Karakulschafe, die in der Steppe Usbekistans zuhause sind. Wer so einen Kopfwärmer hier mitten in der Wüste braucht, bleibt allerdings rätselhaft, zumal selbst im Winter die Quecksilbersäulen kaum unter fünf bis acht Grad sinken.
Wissenswertes zu Chiwa und zu Usbekistan
Allgemeine Informationen: www.uzbektourism.uz
Lage: Usbekistan ist seit 1991 eine unabhängige Republik in Mittelasien. Umgeben ist das Land im Westen und Norden von Kasachstan und Kirgisien; im Osten grenzt es an Tadschikistan, im Südosten an Afghanistan und im Süden an Turkmenistan. Die Oasenstadt Chiwa liegt in der Wüste Kysylkum im Nordwesten des Landes in der Provinz Choresm.
Anreise: Der nächste gelegen Flughafen befindet sich im rund 35 Kilometern Entfernung in Urgench. Vom Flughafen Urgench verkehrt ein Elektrobus (Trolley) in rund 90 Minuten nach Chiwa.
Einreise: Für die Einreise ist neben einem gültigen Reisepass ein kostenpflichtiges Visum notwendig.
Zeitunterschied: Im Winter ist Usbekistan der Mitteleuropäischen Zeit vier Stunden voraus, im Sommer drei Stunden.
Sprache: Usbekisch. Für Reisende aus Europa sind russische Sprachkenntnisse oft nützlicher als Englisch. Obschon die lateinische Schrift inzwischen eingeführt ist, bleibt die kyrillische Schrift stark verbreitet.
Tipps für die Reise durch Usbekistan
Religion: Usbekistan ist ein vorwiegend muslimisch geprägtes Land, wenn auch in sehr gemäßigter Form. Die Frauen tragen keine Schleier, der Ruf des Muezzins ist untersagt und Männer trinken häufig auch Alkohol.
Reisezeit: Chiwa ist ein Ganzjahresziel. Die besten Reisemonate sind jedoch zwischen Anfang September und Ende November/Anfang Dezember sowie von April bis Mitte Juni. Die jährliche Niederschlagsmenge beträgt lediglich 90 und 100 Millimetern.
Essen & Trinken: Farukh, Pakhlavan Makhmud Straße, Chiwa, Telefon 00998-62-375-3512. Im Garten des Restaurants steht eine gemütliche Jurte. Serviert werden choresmische Spezialitäten.
Bir Gumbaz, Pakhlavan Makhmud Straße, Chiwa, Telefon 00998-62-375-3026. Choresmisches Restaurant in einer alten Moschee.
Übernachten: Hotel Malika Kheiwak, Islam Hoja Straße 11, Chiwa, Telefon 00998-62-375-7787. Zentral gelegenes Hotel mit großzügigen Zimmern.
Tipp: Ein Stück Usbekistan für jeden Tag
Die schönsten Impressionen aus Usbekistan hat Karsten-Thilo Raab unter dem Titel „Faszination Seidenstraße“ in einem Wandkalender zusammengestellt. Erhältlich ist dieser in den Formaten A2 bis A5 unter anderem bei Amazon sowie im Buchhandel.
Karsten-Thilo Raab
berichtet seit mehr als drei Jahrzehnten für eine Vielzahl von Zeitungen und Magazinen über Reiseziele weltweit. Zudem hat er sich einen Namen als Autor von mehr als 120 Reise-, Wander- und Radführern sowie Bildbänden gemacht.