
„Glockentürme, Kirchtürme jeglicher Höhe, jeglichen Stils und jeglicher Farbe, Paläste, Dome, kleine Pavillons an der Seite von Kathedralen“, stammelte voller Bewunderung der Marquis de Custine 1839 auf seiner Russlandreise, als er die Pracht im Zarenreich zu sehen bekam. Auch heute noch sind die Besucher tief beeindruckt. Und es reist sich komfortabel und entspannt – der Marquis rumpelte noch auf hartgefederten Postkutschen daher.

Für elf Tage ist der Fluss-Kreuzfahrer auf einer gemächlichen Reise voller Superlative. Man fährt über zehn verschiedene Gewässer: Europas größten See, den Ladoga-See, über Europas längsten Fluss, die Wolga, und den längsten Kanal der Welt, den Wolga-Ostsee-Kanal. Altrussische Städte, endlose einsame Kiefernwälder, ländliche Provinz.
Überwältigendes St. Petersburg

St. Petersburg bei Nacht ist eine Offenbarung, eine Überwältigung. Die Altstadt strahlt in hellstem Glanz, alles leuchtet: der berühmte Newskij Prospekt mit seinen einzigartigen Häusern dicht an dicht, die Erlöser-Blut-Kirche, das frühere Puschkin-Theater, die eleganten Adelspaläste entlang der Fontanka, dem malerischen Kanal, der sich wie die Mojka durch die Stadt windet.

Es ist die Stunde, zu der „Piter“ von seinem Geheimnis am meisten offenbart, seiner Schönheit, seiner schier unglaublichen Eleganz. „Alles ist eine Illusion, alles ein Traum, nichts ist, was es scheint“, schrieb der Dichter Nikolaj Gogol über die „Stadt der Geister“.

Vor dem Boot auf dem Wasser der Newa ziehen die Marmorpaläste, die prunkvollen Barock-Fassaden, die klassizistischen Gebäude wie ein breites Goldband vorbei. Das Winterpalais, Eremitage: größtes und schönstes Kunstmuseum der Welt, geradezu synonym mit St. Petersburg, die schwere Goldkuppel der Isaac-Kathedrale, die vergoldete Turmnadel der Peter- und Paul-Kathedrale, sie schaukeln – Spiegelbilder – in dem goldglänzenden Fluss und verweben Traum und Wirklichkeit.
Kurs auf Mandrogi

Der Abschied am nächsten Tag fällt schwer, die gewaltigen Stimmen der fünf Kirchensänger in der kleinen Kapelle hallen nach, durchwirken den Zauber des gestern Gesehenen. Bis die Kulisse von St. Petersburg am Heck-Horizont verschwindet, bleiben die Gäste an Deck. Der Lunch, sonst Fixpunkt im Bordalltag, muss warten.

MS Kronstadt nimmt Kurs auf Mandrogi. Mit 13 Knoten tuckern wir auf den Spuren der Zaren. Für Peter den Großen blieb es ein Traum, von seinem Petersburg nach Moskau zu segeln; erst 1923 wurde die ganze Strecke schiffbar. Vor dichten Kiefernwäldern gleiten wir durch das dünn besiedelte Karelien, durch ein stilles Land der Flüsse und Seen. Auch mit seiner Natur kann Russland prahlen und strahlen. In der Nacht durchqueren wir den Ladogasee, zweitgrößter Süßwassersee weltweit nach dem Baikalsee, 34 mal so groß wie der Bodensee.

Der erste leichte Morgennebel, die erste Schleuse und das Open-Air-Modelldorf Mandrogi mit einer erlesenen Auswahl an landestypischen Souvenirs und buntbemalten Holzhäusern, Wodkamuseum und Schaschlik-Picknick: wir sind auf der Svir, die den Ladogasee mit dem Onegasee verbindet.
Schicksalsmelodie auf dem Wasser

Am Nachmittag wird der Deckstuhl zum Kinosessel: vor Bug funkelt die Landschaft in der Sonne und zieht filmgerecht steuer- und backbords vorüber. Kiefern und Birkenhaine lichten sich, an den Ufern Blockhäuschen in bunten Gärten und märchenhafte Klöster: manch weibliches Mitglied der Zarenfamilie wurde hierhin verbannt – auch eine Frau Ivans des Schrecklichen. Der Bordpianist intoniert die „Schicksalsmelodie“.

Die Ufer schwingen nun in dunstige Fernen, vor uns breitet sich endlos der Onegasee, auf dem an die 1.650 Inseln „schwimmen“ – eine davon ist Kishi, nördlichster Punkt der Kreuzfahrt. Espenduft empfängt am frühen Morgen die Ausflügler, die vor der 300 Jahre alten Verklärungskirche in nordrussischer Holzbaukunst sich versammeln – Zwiebeltürmchen aus Espen-Schindeln, 33 silbrig glänzende Kuppeln. Kishi – darin sind sich alle einig – ist zu Recht UNESCO-Weltkulturerbe.
Balalaika-Töne, Wodka und Kaviar

Kaviar-Degustation mit Blinis und ein Wodka-Seminar stehen auf dem Programm, prijatnawa apetita! Die Gäste lieben diese Abwechslungen, denn die Flussreise kommt ohne prachtvolle Kabinen und glamouröses Entertainment aus – von dem hochrangigen Balalaika-Akkordeon-Duo und der russischen Sängerin einmal abgesehen. Und Schiffsdirektorin Viktoria bietet Russischunterricht an, russische Tänze, das Lesen russischer Märchen – na bitte.

Die „Kronstadt“ zieht auf dem großen Kanal weiter nach Goritzy am südlichen Weißen See, umgeben von Wäldern, in denen Elche, Braunbären, Nerze, Biber und unzählige Vogelarten zuhause sind. Sieben Kilometer entfernt das Kyrillow-Kloster, das größte und wichtigste der orthodoxen Welt, ausgestattet mit den am besten erhaltenen Ikonen in Russland.

Die Schleusen am Rybinsker Stausee! Der Kapitän und seine Mannschaft leisten Millimeterarbeit. Es geht 18 Meter hinunter auf die Wolga, rasant wie in einem Fahrstuhl. Die Wiesen verschwinden, der Himmel wird zum Spalt. Dann öffnen sich die Tore, große und kleine Kähne gleiten uns fast lautlos entgegen.
Altrussische Pracht an der Wolga

Tutaew, das Tolga-Kloster, idyllische Dörfer links und rechts. Weiter südlich am oberen Lauf der Wolga liegt in praller Sonne eine der reichsten und schönsten altrussischen Städte: die Theaterstadt Jaroslawl mit wunderschöner Uferpromenade, Wolgastrand und fast schon mediterraner Atmosphäre.

Ein Sonnenuntergang bannt uns an die Reling. Himmel und Wolken brennen. Über Nacht gelangen wir zum Provinzörtchen Uglitsch, das vom historischen Grusel zehrt: 1591 kam hier der Zarewitsch Dimitri, Sohn Ivans des Schrecklichen, zu Tode. Boris Godunow, der selbst Zar werden wollte, soll darin verwickelt gewesen sein. Am Tatort steht die entzückende Dimitri-Blut-Kirche mit rot-weißer Zuckerbäckerfassade und goldenem Sternregen auf blauen Kuppeln.
Zwiebelturmromantik in Moskau

Krönender Abschluss der Reise ist natürlich Moskau. Unser Bus schlängelt sich durch die Blechlawinen der Metropole. Vorbei an topsanierten ‚Zuckerbäckerhäusern‘, an alten Kämpfern, Gelehrten und Puschkin, versteinert und stumm. Man sagt, wer die bunte Basilius-Kathedrale auf dem Roten Platz und den Kreml nicht besichtigt hat, war nicht in Moskau: bei Nieselregen gelangen wir durchs Dreifaltigkeits-Tor zum Kathedralenplatz mit seinen vier Gotteshäusern.

Die unzähligen goldschimmernden Kuppeln faszinieren die Touristen wie eh und je. „Ja, unsere goldenen Kuppeln! Das ist Russland!“, lächelt Stadtführerin Jelena. Und der Flussreisende tut sich im GUM an einer Waffel Moroschenoje, dem berühmten russischen Eis, gütlich.
Wissenswertes zu Russland-Flusskreuzfahrten

Veranstalter: Zum Beispiel mit Nicko Cruises Flussreisen, 70499 Stuttgart. Die elftägige Reise mit der 4-Sterne-MS Kronstadt kostet mit Vollpension ab 1.699 Euro/Pers. in der Außen-Doppelkabine, 7 Ausflüge im Paket zusätzlich 199 Euro vorab oder an Bord buchbar. Infos und Buchung: 0711/24 89 80-44; email info@nicko-cruises.de; www.nicko-cruises.de

An Bord: Ansagen werden in Deutsch durchgegeben. Es ist hilfreich, sich vorab nach der Bettenlänge in den Kabinen zu erkundigen. Je nach Reisepreis sind die Kabinen unterschiedlich groß und lang.

Anreise: Sie ist Bestandteil der Kreuzfahrtpauschale; z.B. Linienflüge mit Aeroflot oder LOT Polish Airlines ab Frankfurt/M, Berlin oder München nach St. Petersburg oder Moskau.
Tipps für die Russland-Reise

Einreise: Deutsche benötigen einen mindestens noch sechs Monate gültigen Reisepass sowie ein Touristenvisum, das in der Regel über den Veranstalter besorgt wird. Russland verlangt zusätzlich eine Auslandskrankenversicherung.

Gesundheit: An Bord ist ein Arzt. Behandlungen und Medikamente müssen vor Ort in bar (Euro) bezahlt werden.

Reisezeit: Fahrten wie beschrieben finden ab Mitte Mai bis Ende September statt.

Währung: Bordwährung ist der Euro; die gängigen Kreditkarten werden akzeptiert. Bei Landgängen braucht man im Allgemeinen russische Rubel. Aktuell bekommt man für einen Euro 74,49 Rubel.

Literatur: Flusskreuzfahrten Russland, Trescher Verlag 2018, Berlin, 18,95 Euro mit ausführlichen Informationen und Karten zu allen Landgängen und Sehenswürdigkeiten unterwegs.

Katharina Büttel
lebt und arbeitet als freie Reisejournalistin in Berlin. Über 30 Jahre reist sie für ihre Reportagen und Fotos um die Welt – seit vielen Jahren veröffentlicht sie auch im Mortimer-Reisemagazin.