Keitum – Sylts Dorf der Kapitäne

Dem Meer so nah – und doch auf der sicheren Seite: Die Kapitänshäuser in Keitum sind nicht nur schön, sie erzählen auch Geschichten. Von Männern, die auf dem Meer blieben. Von Frauen, die sich an ihren Aberglauben klammerten. Zu hören bekommt diese Geschichten gleichwohl nur der, der Keitum zu Fuß erkundet. Am besten mit einer Expertin. Zum Beispiel mit Silke von Bremen.

Der Blick schweift über die Klippe hinaus in die Weite des Wattenmeeres. Hier an diesem beeindruckenden weißen Friesenhaus erscheint das geschäftige Treiben Westerlands wie aus einer anderen Welt. Keitum ist anders als die anderen Inselorte, bestätigt eine Stimme mit norddeutschem Zungenschlag. Keitum – ein Ort mit Geschichte und Geschichten.

„Ich werfe Sie sofort mit Informationen zu, denn jetzt sind Sie noch aufnahmefähig.“ Mit einem typischen Augenzwinkern „verklickert“ Silke von Bremen der Gruppe von Urlaubern gleich zu Beginn, wo es langgeht. „Keine Angst: Beim anschließenden Spaziergang dürfen Sie dann einfach die Schönheit Keitums genießen.“ Dass es trotz Informationen nie langweilig wird, dafür sorgt ein angeborener Humor. Und natürlich die Tatsache, dass Silke von Bremen weiß, wovon sie spricht.

Aufgewachsen im Alten Land bei Hamburg leitete sie nach ihrem Studium der Geografie und Völkerkunde in Kiel acht Jahre lang das Keitumer Heimatmuseum, an dem dieser Rundgang beginnt. Und als Leiterin hatte sie das große Privileg, in einem Teil dieses alten Kapitänshauses wohnen zu dürfen und die Geschichte Keitums täglich zu atmen und zu erleben: Wo heute das alte rote Sofa des Landvoigts und späteren Bürgermeisters von Kiel, Schwenn Hans Jensen (1795-1855), ausgestellt ist, stand einige Jahre lang auch ihre Couch.

Seit mehr als 20 Jahren lebt Silke von Bremen nun auf der Insel und gibt ihr Wissen als Buch-Autorin („Gebrauchsanweisung für Sylt“) und Gästeführerin an Urlauber weiter. In der schlitzohrigen Variante einer Führung: Die ersten 20 Minuten finden vor dem Heimatmuseum statt und sind kostenfrei. Wer dann bleibt – und das tun sie alle -, zahlt acht Euro für den Rundgang durch die engen Gassen inklusive weiterer Geschichten.

Und die sind äußerst spannend, erzählen von Kapitänen und Katastrophen, von schönen Häusern und starken Frauen. „Sie werden schnell merken: Es wird viel gestorben auf dieser Führung.“ Viel? Sehr viel. Denn fast alle Männer, die hier einst für ihre Familien ein Haus bauten und damit das Bild Keitums prägten, fuhren zur See – zu jener Zeit ein Job mit gewissen Risiken und Nebenwirkungen.

Nehmen wir nur die Geschichte vom Kapitänssohn Uwe Peters, der 1729 in Keitum geboren wird und 1759 das weiße Friesenhaus erbaut, das heute das Heimatmuseum beherbergt. Peters Vater und drei seiner vier Brüder bleiben auf See. Doch damit nicht genug. Auch die fünf Söhne, die ihm seine Frau Inken schenkt, finden ihr Grab auf dem Meeresgrund, bei den „Bermudischen Inseln“, vor „Buenos Ayres“ und „Saint Thomas“. Und als auch seine Frau stirbt, dokumentiert er seine Liebe auf ihrem Grabstein, bevor er ihr nachfolgt: „Ruhe wohl, geliebter Schatz, in dem kühlen Grabe. Da ich einst gewünschten Platz neben dir auch habe.“

Ein besonders grausames Familiendrama? Eher Standard. Silke von Bremen weiß von weiteren tragischen Begebenheiten zu berichten. Etwa von der Geschichte eines Kapitäns, der vier Ehefrauen im Kindbett verliert, während er auf See ist. Die fünfte Ehefrau schließlich überlebt die Geburt – ihr Mann erfährt davon nichts. Denn von dieser Fahrt kommt er nicht zurück. „Im Sommer waren die Männer auf hoher See. Und wenn sie an Weihnachten nicht am Tisch saßen, dann war klar: Sie würden nie mehr nach Hause kommen.“ Zahlreiche Schicksale dieser Art hat Silke von Bremen im so genannten „Kopulationsregister“ und in alten Kirchenbüchern recherchiert.

Seefahrt war nun mal keine besonders sichere Angelegenheit. Die Sylter hatten sich den Holländern angeschlossen, die seit Anfang des 17. Jahrhunderts Walfang vor den Küsten Norwegens, Spitzbergens und Grönlands betrieben. Doch auch bis nach Afrika und Westindien gingen die Fahrten Sylter Seeleute. Eine einträgliche, aber risikoreiche Arbeit: „Die Hälfte aller Seefahrer kehrte nicht zurück. Sie können sich vorstellen, wie die Bevölkerung auf Sylt sich zu jener Zeit zusammensetzte: überwiegend Frauen und Kinder. Und nur mit Glauben und Aberglauben konnten sie all diese Schicksalsschläge verkraften.“ Davon zeugen an den Häusern sowohl christliche Symbole als auch Hexenkreuze, die die Bewohner vor Unglück schützen sollten.

Auffälligstes Merkmal am Heimatmuseum jedoch ist das Walskelett im Vorgarten und zwei mächtige graue Walkiefer, die als Eingangstor in den Himmel ragen. Ein Statussymbol: „Heute stellen Sie sich den dicken Mercedes vor die Haustür – damals zeigte man ebenfalls, was man hatte.“ Und man hatte eine Menge: Keitum ist zweifellos der schönste Inselort. Die alten Reet gedeckten Friesenhäuser aus dem 18. Jahrhundert ducken sich unter mächtige Kastanien oder thronen vornehm auf dem Kliff am Watt. Friesenwälle mit Steinen und grünem Belag umfrieden jedes einzelne Haus, dahinter sind blühende Bauerngärten vor schneeweißen Wänden zu sehen.

Heute kaum vorstellbar, doch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts war Keitum noch der Hauptort Sylts – nicht nur die Verwaltung war hier zu finden, sondern auch der einzige Arzt und die einzige Apotheke. „Das war die goldene Zeit Keitums“, erklärt Silke von Bremen. Erst der Tourismus sorgte dafür, dass sich das Leben an die Westküste Sylts verlagerte – des Meerblicks wegen. „Strand direkt vor der Tür ist ja auch nicht schlecht. Die Keitumer Kapitäne aber würden diese Idee für reichlich dumm halten. Ein Haus genau dahin zu bauen, wo es von der nächsten Sturmflut wieder zerstört wird.“ Möglichst weit weg von der Brandung – da war das Leben sicher.

Heute strahlt das verwinkelte Dorf vor allem Ruhe aus. Und die außergewöhnlichen Friesenhäuser erzählen von einer Historie, auf die man stolz ist. Etwa vom berühmten Freiheitskämpfer Uwe Jens Lornsen, der sich für die Unabhängigkeit Schleswig-Holsteins von Dänemark einsetzte. Oder von Christian Peter Hansen, den wohl wichtigsten und eifrigsten Chronisten der Insel, der in jenem Gebäude wohnte, das heute als das „Altfriesische Haus“ die Sylter Wohnkultur von einst veranschaulicht.

Die Wohnkultur von heute hat in die meisten der alten Kapitänshäuser längst Einzug gehalten. Denn natürlich sind sie mittlerweile bewohnt oder an Touristen vermietet. Eines der letzten Häuser, vor dem Silke von Bremen auf ihrem Rundgang Station macht, steht hingegen leer. Weniger ein Haus als vielmehr ein Anwesen mit Innenhof. Die Sprossenfenster, einst handwerkliche Kunstwerke, könnten einen Anstrich vertragen. Doch die Restaurierung eines Kapitänshauses ist teuer – bisher hat sich hier kein Käufer gefunden. „Falls Sie jemanden kennen, der sich dieses Häuschen zulegen möchte – er soll sich bitte an mich wenden“, scherzt die Gästeführerin. „Von der Provision könnte ich bis an mein Lebensende in Freuden leben.“ Natürlich in Keitum, dem Sylter Kleinod. Dem Kapitänsdorf mit Blick vom Kliff in die Weite des Wattenmeeres.

Die Keitum-Führungen mit Silke von Bremen starten wieder im April 2013. Weitere Informationen auf www.sylt-island.de und www.sylt.de.

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