Hay-on-Wye – das globale Bücherdorf

Hay-on-Wye
Honesty Bookshop im Hay Castle in Hay-on-Wye zu Zeiten von Richard Booth. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Ganz Wales ist seit dem 13. Jahrhundert britisch. Ganz Wales? Nein, ein kleines idyllisches Dorf in der Grafschaft Herefordshire an der Grenze zu England gibt vor, ein unabhängiges Königreich zu sein. Und zwar seit dem 1. April 1977. An jenem Tag nämlich ließ sich ein gewisser Richard Booth zum König von Hay-on-Wye küren und ernannte sein Pferd zum Premierminister. Gleichzeitig sagte der Exzentriker der großen Politik den Kampf an, ernannte Freunde und Bekannte zu Ministern, proklamierte eine eigene Nationalhymne und gab eine eigene, essbare Währung aus Reispapier heraus. Was zunächst wie ein gelungener Aprilscherz anmutete, entpuppte sich als genialer Marketing-Schachzug. Denn seither ist die 1.800-Seelen-Gemeinde am nordöstlichen Rande des Brecon Beacon Nationalparks nicht zuletzt dank der Initiative von Richard Booth in aller Munde.

Hay-on-Wye
Zu Spitzenzeiten zählte das Bücherdorf mehr als drei Dutzend Buchläden. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Nach dem Studium in Oxford hatte der PR-Fachmann im Jahre 1961 in der Old Fire Station in Hay-on-Wye einen kleinen Secondhand-Buchladen eröffnet, wo er gebrauchte Bücher gleich kiloweise verkaufte. Aus kleinsten Anfängen entwickelte sich nach Angaben von „King Richard“ das weltweit größte Antiquariat. Ein personifizierter amerikanischer Traum in Südwales, der schnell Nachahmer fand.

Buchläden en masse

Zu den „Erfindungen“ von Richard Booth zählte der Honesty Bookshop unter freiem Himmel. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Inzwischen tummeln sich in dem Marktstädtchen gut drei Dutzend Buchhändler, die zusammen jährlich mehr als eine Millionen Bücher verkaufen, und das beschauliche Hay-on-Wye, das in zehn Gehminuten bequem durchlaufen werden kann, zur international bekannten „Stadt der Bücher“ werden ließen. Aus der verschlafenen Kleinstadt am Fuße des 676 Meter hohen Hay Bluff ist unlängst ein globales Bücherdorf geworden, das als Dorado für Bücherfreunde aus aller Herren Länder gilt – ein Mekka für Leseratten mit familiärer Flohmarktatmosphäre.

Hay-on-Wye
Im Honesty Bookshop erfolgte der Kauf auf Vertrauensbasis. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Überall, ja, an jeder irgendwie nutzbaren Ecke finden sich heute Buchhändler – im alten Kino, in einer ehemaligen Metzgerei und bei trockenem Wetter auf den Straßen, Plätzen und Höfen. Von Richard Booth wurde dereinst auch der kuriose Honesty Bookshop initiiert. Dieser besteht aus mehreren mit Büchern vollgestopften Regalen unter freiem Himmel. Hier gibt es keine Verkäufer und keine Kasse. Der Handel mit gebrauchten Büchern läuft hier allein auf Vertrauensbasis. Wem ein Buch gefällt, der wirft das entsprechende Geld einfach in den dafür vorgesehenen Schlitz in der Wand.

Vergebliches politische Engagement

Hay-on-Wye
Über viele Jahre waren die unzähligen Buchgeschäfte die Lebensader des kleinen walisischen Dorfs. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Viele Buchhändler sind spezialisiert auf teure Erstausgaben, Kinderbücher, Gedichte, Krimis, Reiseliteratur oder andere Spezialgebiete. Sie bieten für Preisspannen zwischen 30 Pence und 5.000 Britischen Pfund die ganze Bandbreite vom gebrauchten Schundroman bis zu erlesenen Raritäten, von Meisterwerken der Weltliteratur bis hin zu Trivialem. Zwischen verstaubten, zerlesenen, kostbaren und weniger kostbaren Stücken fühlen sich nicht nur echte Bücherwürmer wie auf einem gewaltigen Dachboden mit längst vergessenen Schätzen.

Noch immer können Literaturliebhaber so manches Schnäppchen machen. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Über allem thront(e) im wahrsten Sinne des Wortes „King Richard“, der 1983 für das britische Parlament, dann 1999 für einen Sitz in der Walisischen Nationalversammlung und 2009 für das EU-Parlament kandidierte – allerdings vergebens. Das im Jahre 2019 verstorbene Original lief ab und zu sogar mit Krone durch „sein Königreich“ und wohnte, wie es sich für einen „Monarchen“ gebührt, stilecht im normannischen Hay Castle im Herzen der Stadt.

Ausstellung zu Ehren von Booth

Hay-on-Wye
Zu den Wahrzeichen von Hay-on-Wye gehört neben der Burg der weithin sichtbare Clock-Tower. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Die Burg, die als eine der größten noch erhaltenen Verteidigungsanlagen an der Grenze zwischen Wales und England gilt, wurde 1977 bei einem Feuer in Teilen zerstört. Erst im Jahre 2000 wurde das ebenfalls abgebrannte Dach erneuert, was Richard Booth nicht daran hinderte, im Erdgeschoss einen (weiteren) Buchladen zu eröffnen. Heute wird die 2022 nach aufwendiger Renovierung wiedereröffnete Festung für eine Konzerte, Theateraufführungen andere kulturelle Aktivitäten genutzt. Zudem beherbergt das gut 900 Jahre alte Gemäuer mit der Richard Booth Collection eine besondere thematische Ausstellung, die dem „König von Hay“ gewidmet ist.

Richard Booth will nach eigenen Angaben den weltgrößten Secondhand-Buchladen betrieben haben. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Das Kuriosum auf zwei Beinen kaufte ganze Schiffsladungen an Büchern, übernahm die Bestände aufgelöster Bibliotheken und Privatsammlungen, um diese in seinen Läden zu verramschen. Daneben betätigte sich Richard Booth als eine Art Entwicklungshelfer, der wenig beachteten Orte in anderen Ländern mit Rat und Tat bei den Bemühungen, von einem unbedeutendem Fleckchen Erde zu einer Touristenattraktion zu werden, zu Seite stand. Und so finden sich heute Buchdörfer in den USA, in Malaysia, Frankreich, den Niederlanden, Belgien und Deutschland, wo Mühlbeck-Friedersdorf östlich von Bitterfeld versucht, das Erfolgsrezept aus der walisischen Kleinstadt zu kopieren.

Mein Königreich der Bücher

Nicht alle Buchläden in dem kleinen Dorf vermochten zu überleben. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Nicht unerwähnt bleiben sollte, dass Richard Booth, dessen 1999 erschiene Autobiographie, passender Weise den Titel „My Kingdom of Books“ (Mein Königreich der Bücher) trägt, im Jahre 2009 Konkurrenz aus den eigenen Reihen bekam: Sein ehemaliger Mitarbeiter Paul Harris, der sich mit einem eigenen Buchladen in Hay-on-Wye selbständig gemacht hatte, gründete sein eigenes Commonwealth als vermeintliche Verbindung souveräner Staaten und ernannte sich selbst zum „Ersten Minister“. Zudem zettelte Harris einen „Aufstand“ gegen den „König“ an, der in einem (Schau-) Prozess wegen Hochverrat und schließlich in einer symbolischen Enthauptung von Richard Booth gipfelte.

Fensterauslage in einem Buchgeschäft in Hay-on-Wye. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Einer der Gründe war, dass Paul Harris der Meinung war, dass das von Richard Booth initiierte Hay (Book) Festival zwar punktuell Massen an Besucher in diesen Teil von Wales bringen würde, aber die Buchhändler abseits des Festivals unter zu geringer Resonanz leiden würden. Vor Einführung der Veranstaltung hätten die Buchgeschäfte fast 50 Prozent mehr Umsatz verzeichnet, was für Harris und seine Gefolgsleute alles andere als „königlich“ war. Und so stieg tatsächlich am 27. September 2009 die öffentliche Enthauptung von Richard Booth auf dem alten Buttermarkt, wo der (falsche) Kopf des „Königs“ unter dem Jubel der Harris-Treuen abgeschlagen wurde und symbolisch in einen Heimat rollte.

Unkaputtbares Literaturfestival

Zum Hay Festival stürmen Literaturliebhaber aus aller Welt. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Getreu dem Motto „Der König ist tot. Es lebe der König“ findet das Hay Festival übrigens weiterhin statt – in diesem Jahr vom 22. Mai bis 1. Juni 2025. Dann wird Hay-on-Wye wie zu Zeiten von Richard Booth wieder zum Mekka der Bücherwelt, wenn literarische Größen aus ihren Werken lesen und sich an Diskussions- beziehungsweise Vortragsreihen beteiligen. Weitere Informationen unter www.hay-on-wye.co.uk und unter www.hayfestival.com.

Hay-on-Wye liegt am Rande des malerischen Brecon Beacon’s Nationalpark. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Buchtipp: Amüsantes über die britischen Inseln

TimeObwohl der Titel von Time for tea, sex and fun auf Englisch ist, wirft das amüsante wie lehrreiche Buch auf Deutsch mit viel Esprit einen liebenswerten Blick auf unsere englischen, schottischen und walisischen Freunde.

Demnach ist klar, dass es alle Arten von Briten gibt – große und kleine, hübsche und hässliche, dicke und dünne, freundliche und aggressive. Einige haben blonde Haare, einige braune, einige schwarze oder graue. Einige gar keine. Besonders in sonnigen Gefilden ist der ansonsten eher nordisch-blasse Brite daran zu erkennen, dass er nach einem Sonnenband wie ein abgebrühter Hummer aussieht, sich aber nichtsdestotrotz lustig weiter Tag für Tag in die pralle Sonne legt.

Doch der Brite ist nicht nur gegen Hitze resistent, auch jegliches Kälteempfinden scheint ihm fremd. Wer diese stereotypen Ansichten teilt oder Bestätigung für diese sucht, wird in Time for tea, sex and fun von Mortimer Reisemagazin Redakteur Karsten-Thilo Raab ebenso fündig werden, wie derjenige, der seine alten, verkrusteten Ansichten über die Briten endlich ins rechte Licht rücken möchte. Auf jeden Fall dürfte in dem Buch viel Interessantes, Kurioses, Unterhaltsames und Wissenswertes über die Briten und ihre Lebensgewohnheiten zu entdecken sein.

Erhältlich ist Time for tea, sex and fun (ISBN 978-3711527257) von Karsten-Thilo Raab für 18 Euro im Buchhandel oder online bei allen gängigen Versandbuchhändlern wie Thalia, JPC oder Amazon.

Karsten-Thilo Raab

berichtet seit mehr als drei Jahrzehnten für eine Vielzahl von Zeitungen und Magazinen über Reiseziele weltweit. Zudem hat er sich einen Namen als Autor von mehr als 120 Reise-, Wander- und Radführern sowie Bildbänden gemacht.