Die Wüste lebt. Besser gesagt, die Wüste bebt. Und wie. Dort, wo das ganze Jahr über neben gleißender Hitze und nächtlicher Kälte zwischen Sand, Staub und Geröll eine gewisse Tristesse herrscht, regiert schon bald wieder für acht Tage der absolute Ausnahmezustand. Vom 25. August bis 2. September 2024 steigt in der Black Rock Desert im US-Bundesstaat Nevada das legendäre Burning Man Festival. Nicht nur das ungewöhnliche Setting in der staubigen Einöde eines ausgetrockneten Salzsees lässt das Ganze zu einem Event der Superlative avancieren. Ein Spektakel, zu dem sich rund 75.000 Festival-Jünger auf den beschwerlichen wie langen Weg in die Wüste machen.
Pilgerstätte für die riesige Zahl der Feierlustigen ist eine gigantische Pop-up-Stadt, die Jahr für Jahr für wenige Tage aus dem Wüstensand erwächst, um sich dann genauso schnell wieder im Nichts aufzulösen und der Natur im Niemandsland rund 200 Kilometer nördlich von Reno wieder für gut elf Monate Zeit zum Durchatmen zu geben. Alles, was eben noch da war, ist dann plötzlich wieder verschwunden. Der bisweilen ohrenbetäubende Lärm weicht einer fast schon gespenstischen Ruhe, bevor Ende August beziehungsweise Anfang September der Burning Man wieder von Neuem zum Leben erwacht.
Wobei der Burning Man eigentlich nie schläft. Denn frei nach gängiger Fußball-Philosophie ist nach dem Burning Man gleich vor dem Burning Man. Soll heißen, die einen versuchen, sich schnellst möglich wieder eines der begehrten Festival-Tickets zu sichern, die anderen überlegen bereits, mit welchem ausgeflipptem Outfit, mit welchem skurrilen Gefährt, mit welchem Workshop, mit welchem Kunstwerk oder mit welchem Angebot sie die Neuauflage des Festivals bereichern könnten. Denn der Burning Man ist einfach anders als andere Feiermarathons. Für die einen ist er die Mutter aller Festivals, für andere eine bloße Ansammlung von Durchgeknallten, von Realitätsflüchtlingen, von Tagträumern, von Drogen- und Sexsüchtigen. Ein temporärer Treffpunkt von Hippies und Normalos, von Weltverbesserern und Sinnsuchenden.
Soweit, so allgemein. Tatsächlich ist der Burning Mann ein bisschen von all dem, gleichzeitig aber auch viel mehr. Ein Ort ohne die üblichen Konventionen, ohne gesetzliche Regelungen, ohne das Diktat des Alltags. Und, was für viele noch viel ungewöhnlicher ist, ein Ort ohne Kommerz, an dem Geld keine Rolle spielt. Hier wird nichts in barer Münze bezahlt. Vielmehr ist alles im wahrsten Sinne des Wortes ein Geben und Nehmen. Das Notwendige oder das Begehrte werden getauscht oder einfach mal einem anderen frei von jeglicher Bedingung oder Verpflichtung überlassen. Manchmal wird mit einem Lächeln, einem Kuss oder einer Umarmung bezahlt, manchmal mit einer Mahlzeit, einem Bier oder tatkräftiger Unterstützung bei einem Vorhaben. Zugegeben, das klingt ein wenig utopisch – und doch funktioniert dies bestens. Auch weil sich alle Teilnehmer an die Vorgaben halten.
Neben dem Verzicht auf alle gängigen Zahlungsmittel ist für viele das Handy-Fasten die wohl größte Herausforderung. Zum einen gibt es weder (ausreichend) Strom noch Empfang in der Wüste, zum anderen gehört es zur Philosophie des Burning Man, den Moment zu erleben und zu genießen. Mit dem Smartphone in der Hand oder dem Finger auf dem Auslöser der Kamera funktioniert dies definitiv nicht.
„Die ersten Stunden ohne Smartphone fühlt man sich fast wie ein Junkie auf kaltem Entzug“, unterstreicht Rob Watkins. Gleichzeitig räumt der Engländer, der bereits viermal das Festival besucht hat, ein, dass einem dadurch erst bewusst wird, wie oft man tatsächlich den sprechenden Knochen in die Hand nimmt oder auf das Display starrt.
„Irgendwie ist es auch befreiend, mal für einige Tage auf das Handy zu verzichten“, ergänzt der Mittdreißiger aus Swindon in der Grafschaft Wiltshire dadurch wieder gelernt zu haben, dem Gegenüber die volle Aufmerksamkeit zu schenken und einfach mal zuzuhören. Zumal nicht nur für Rob gerade auch die zufälligen Begegnungen, die zwanglosen Gespräche mit Wildfremden einen Teil der Faszination „Burning Man“ ausmachen.
„Hier interessiert keinen, wo Du herkommst oder womit Du Deine Brötchen verdienst. Standesdünkel ist allen fremd“, empfindet nicht nur Rob das zwanglose Miteinander während des Festivals als absolute Bereicherung.
Die „Burner“, wie die Festival-Teilnehmer liebevoll genannt werden, erweisen sich dabei nicht nur aus Robs Sicht als eine gigantisch große Gruppe an Gute-Laune-Bären. Offen, interessiert und unternehmungslustig. Schrill, extravagant und verrückt gekleidete Feierbiester mit schier unglaublichem Durchhaltevermögen. Motto: Schlaf wird völlig überschätzt.
Dies liegt zum einen daran, dass in allen Ecken und Winkeln der Playa, wie das Festivalgelände genannt wird, fast rund um die Uhr DJs mehr oder weniger heiße Rhythmen auflegen. Aber auch daran, dass die Quecksilbersäulen bereits in den Morgenstunden schnell auf Temperaturen weit jenseits der 30-Grad-Marke klettern, so dass in den Wohnmobilen und erst recht nicht in den Zelten überhaupt an Schlaf zu denken ist. Trotz des permanenten Schlafentzugs wirken die meisten Burner überaus energetisch, ja, fast schon berauscht. Was, ehrlicherweise, hier und da auch mit dem Konsum von Drogen und/oder Alkohol zusammenhängt.
„Hier kann einfach jeder so sein, wie er will und dabei seine eigenen Grenzen und Phantasien ausleben“, wertet die Kanadierin Jane Bullock die Mischung aus Musik, Kunst und Kostümen als einen großen, nicht enden wollenden Sinnesrausch. Sie selber trägt neben Fellmütze und Taucherbrille lediglich eine äußerst knappe, kurze Glitzerhose in schillernden Grüntönen sowie pinkfarbene Stiefel mit hohen Absätzen. Der Oberkörper ist nahezu unbedeckt. Eine offene Netzweste umhüllt Schultern und Teile der Arme. Die Brustwarzen sind mit blumenförmigen Nippelklebern verdeckt, geben aber ansonsten den Blick auf alle Rundungen frei, die Jane zu bieten hat.
Ein Look, mit dem Jane in ihrer Wahlheimat in Springfield im US-Bundesstaat Illinois wohl niemals auf die Straße gehen würde. Gleichzeitig nimmt in Black Rock City niemand Anstoß daran. Wohl auch, weil ein jeder hier das anzieht, worauf er oder sie gerade Lust hat. Manchmal ist dies ein verrückter Hut oder eine kuriose Kopfbedeckung, manchmal ein knallbuntes Kostüm oder ein Pelzmantel, manchmal sind dies Lack und Leder und manchmal ist das fast gar nichts. Denn auch Nacktsein ist in der künstlichen Wüstenstadt durchaus an der Tagesordnung.
„Beim Burning Man geht es nicht um den perfekten Körper oder darum, wer sich teure Designerklamotten leisten kann, sondern um gelebte Toleranz und Akzeptanz und darum, neue Formen der Gemeinschaft kennenzulernen“, so Jane Bullock weiter. In diesem Moment unterbricht ein glatzköpfiger Mann mit stattlichem Bauch und zahllosen Tätowierungen unserer kleinen Gesprächskreis.
„Braucht einer von euch vielleicht eine Umarmung?“, fragt er lächelnd. Schon hält er Jane liebevoll in den Armen. Und die Kanadierin genießt den kurzen Augenblick sichtlich. Schon dreht sich der gut gelaunte Kojak-Verschnitt um und bietet auch mir eine Umarmung an. „Oder hättest du lieber ein Kompliment?“, fasst er höflich nach. Er heiße Scott, sprudelt es aus ihm raus, und er wolle den Festivalbesuchern einfach nur für einen Moment ein Glücksgefühl vermitteln. Eine nette Geste, die von vielen liebend gerne angenommen wird.
Scott ist beliebe nicht der einzige, der sich Gedanken macht, wie er mit den anderen Burnern in Kontakt kommt beziehungsweise wie er sich im positiven Sinne in die wahllos zusammengewürfelte Gemeinschaft in der Black Rock Wüste einbringen kann. Alles hier ist ein Geben und Nehmen. Jeder versucht auf seine Art, einen Beitrag zum Festival zu leisten. Die einen haben sich auf Zuneigungen im Vorbeigehen spezialisiert, andere fertigen in monatelanger Arbeit oft gigantische Kunstwerke an. Wiederum andere präsentieren ihre ungewöhnlichen und nicht selten riesigen Phantasiegefährte, mit denen sie – begleitet von staunenden wie faszinierten Blicken – die Playa rauf und runter rollen. Die sogenannten „Mutant Vehicles“, von denen mehrere Hundert beim Festival zu bestaunen sind, sind skurrile Fahrzeuge mit noch skurrileren Aufbauten, die im normalen Straßenverkehr nicht zugelassen wären. Häufig vergleichbar den Mottowagen beim Karneval – nur ungleich spektakulärer, witziger und ungewöhnlicher.
Zwischen Hunderten, zum Teil gigantischen Kunstinstallationen und rauschenden Techno-Partys hat der Burning Man aber noch mehr zu bieten. Eines der Herzstücke des Festivals sind die so genannten Camps, wo Burner rund um die Uhr eigene kleine Mini-Events, eine Party oder einen Workshop organisieren. Auch hier gibt es nichts, was es nicht gibt. Der Bogen spannt sich vom Haare flechten über Stromerzeugung mit Hilfe von Zitronen und dem Bau von Solar-Kochgeräten bis hin zu Tantra- und Orgasmus-Kursen oder dem Poetry Doctor, der seelischen Schmerz mit einem Gedicht zu heilen versucht.
Besonders stimmungsvoll ist all dies nach Einbruch der Dunkelheit, wenn die Dance Floors der Freiluftdiskotheken ebenso wie die Kunstwerke farbenprächtig illuminiert sind. Abschließender Höhepunkt jedes Burning Man ist, wenn die gleichnamige Holzskulptur in der Mitte von Black Rock City zusammen mit zahlreichen Kunstwerken und dem jährlich anderes gestalteten Tempel feierlich in Brand gesetzt wird. Die Wüste ist dann fast taghell erleuchtet, Feuerwerksraketen explodieren wie zum Jahreswechsel und die Menge begeht eine letzte rauschende Partynacht, bevor am nächsten Morgen mit dem Kater das große Aufräumen beginnt. Denn nach dem Burning Man ist bekanntlich vor dem Burning Man. Und bis dahin soll niemand der Black Rock Desert ansehen, was sie in den Tagen von dem amerikanischen Labor Day, dem ersten Montag im September, erlebt hat.
Wissenswertes zum Burning Man
Informationen: www.burningman.org
Tickets: Eintrittskarten sind online über die Festivalseite ab 575 US-Dollar erhältlich.
Termin: 25. August bis 2. September 2024
Historisches: Die Wurzeln des Burning Man reichen zurück bis in das Jahr 1986, als auf Initiative von Larry Harvey (1948–2018) am Baker Beach in San Francisco ein Festival mit gerade einmal 20 Teilnehmern stattfand. Die jährlich wachsende Teilnehmerzahl und das Verbot, die Holzfigur am Strand zu verbrennen, führten im Jahr 1990 dazu, dass die Veranstaltung in die Wüste von Nevada verlegt wurde. Mittlerweile werden mehr als 75.000 Teilnehmer pro Jahr begrüßt; wobei 2020 und 2021 der Burning Man der Corona-Pandemie zum Opfer fiel und abgesagt wurde.
Anreise mit dem Flugzeug: Nächstgelegener internationaler Flughafen ist Reno; deutlich günstiger ist, es mit dem Flugzeug nach San Francisco zu reisen. Seit dem Jahr 2000 hat Black Rock City auch einen eigenen, offiziell lizenzierten Flughafen mit Verbindungen nach Reno und zu einigen Metropolen an der US-Westküste.
Anreise mit dem Auto/Wohnmobil: Rund um den Burning Man ist das Mieten von Wohnmobilen besonders teuer – auch hier ist die Auswahl in San Francisco größer und preiswerter. Allerdings muss für die Anfahrt von San Francisco ein zusätzlicher Tag eingeplant werden. Von Reno aus muss für die knapp 200 Kilometer lange Strecke angesichts des Straßenzustands und des starken Verkehrs ein Tag bis Black Rock City eingeplant werden. Ganz wichtig: So oder so unbedingt in Reno noch einmal volltanken, da auf dem Weg zum Burning Man nur noch wenige Tankstellen kommen und diese überzogene Preise haben. Zudem stauen sich die Autos oft kilometerlang vor den Zapfsäulen. Wegen der Tagestemperaturen ist es ratsam, den ersten Teil der Route bereits nachts zurückzulegen. Dann sind die Straßen auch weniger überlastet. Anreise mit dem Bus: Wer nicht selber fahren möchte, kann vom Reno Airport mit dem Burner Express Bus (https://burnerexpress.burningman.org) anreisen. Die Fahrt dauert siebeneinhalb bis acht Stunden. Je nach Gepäckmenge kommen Aufschläge hinzu.
Übernachten: Zelten ist auf dem Burning Man Festivalgelände zwar möglich, aufgrund der regelmäßigen Sandstürme aber nicht unbedingt ratsam. Eine sinnvolle Alternative sind hier Wohnmobile, die nebenbei noch mehr (Schlaf-) Komfort bieten. Wegen der großen Nachfrage sollten diese so früh wie möglich gebucht werden.
Mitzubringen: Essen, Trinken, Hygieneartikel (vor allem Toilettenpapier) sowie große Mengen an Wasser für die gesamte Dauer des Aufenthalts. Zu kaufen gibt es nahezu nichts in Black Rock City. Lediglich im Center-Camp sind Wasser, Kaffee, Tee, Softdrinks sowie Eiswürfel erhältlich. Wegen der regelmäßigen Sandstürme sollte ein Mund- und Nasenschutz nicht im Gepäck fehlen. Das gleiche gilt für eine Sonnenbrille. Idealerweise liegen diese dicht an den Seiten an, so dass kein Sand in die Augen dringen kann. Daher setzen viele Burner lieber auf Ski- oder Taucherbrillen. Auch Taschenlampen sind überaus hilfreich.
Toiletten: Überall auf dem Gelände verteilt, gibt es Dixi-Toiletten. Toilettenpapier ist aber ein begehrtes Gut. Daher besser genügend einpacken.
Wasser: Wie in der Wüste üblich, ist Wasser ein seltenes Gut. Bei der Planung sollte beachtet werden, dass sowohl Trinkwasser als auch Wasser zum Spülen und für die Körperhygiene benötigt wird. Duschen ist daher ein absoluter Luxus und das Waschen beschränkt sich mangels Wassermaße auf das Nötigste. In Black Rock City verkehrt während des Festivals ein Waste-Water-Truck, der gegen ein stattliches Entgelt das Brauchwasser des Wohnmobils absaugt.
Mobilität: Das Burning Man Gelände ist riesengroß. Daher ist es sinnvoll, ein (gebrauchtes) Fahrrad mitzubringen, um von A nach B zu kommen.
Orientierung: Rund um die Figur des Burning Man sind die Straßen kreisförmig angeordnet. Die Hauptachsen sind nach Uhrzeiten sortiert, die äußeren Trassen nach Buchstaben. Da liegt der eigene Stellplatz dann vielleicht „11:30 Uhr zwischen H und G“. Empfehlenswerte ist es, sein Zelt oder sein Wohnmobil irgendwie kenntlich zu machen, da die Fahrzeuge sich oft überaus ähnlich sind, insbesondere, wenn sie vom selben Verleiher stammen.
Strom: Seit einigen Jahren wird auf dem Festivalgelände über Solarpanels Strom erzeugt. Dieser genügt aber nicht, um alle Wohnmobile etc. zu versorgen, sondern wird vornehmlich für die zentralen Einrichtungen genutzt.
Müll: Die Festival-Besucher sind aufgefordert ihren eigenen Müll komplett wieder mitzubringen und das Gelände so zu verlassen, wie sie es vorgefunden haben. Das Schlagwort lautet hier „Matter out of Place”, kurz „Moop“. Ein Ausdruck, der klarstellen soll, dass alles, was nicht in die Wüste gehört, ausnahmslos wieder mitgenommen werden soll. Umweltschützer stehen dem Festival dennoch mehr als skeptisch gegenüber, auch weil Tausende von Autos, Wohnmobilen, Lastwagen und Flugzeugen für die kurze Festivalzeit eingesetzt werden, um alles, was benötigt wird, in die Black Rock Desert zu transportieren.
Tipp: Am Rande der Black Rock Desert findet sich ein kaleidoskopischer Geysir, der knapp vier Meter aus dem Boden ragt und natürliches heißes Quellwasser spuckt. Einer misslungenen Bohrung vor gut 100 Jahren ist es zu verdanken, dass aufgrund des geothermischen Drucks bis heute Wasser aus dem sich daraus gebildeten Fly Geyser sprudelt.
Karsten-Thilo Raab
berichtet seit mehr als drei Jahrzehnten für eine Vielzahl von Zeitungen und Magazinen über Reiseziele weltweit. Zudem hat er sich einen Namen als Autor von mehr als 120 Reise-, Wander- und Radführern sowie Bildbänden gemacht.