Sissinghurst – Garten im Garten Englands

Sissinghurst
Sissinghurst vereint eine lange Geschichte mit famoser Pflanzkunst. – Foto Karsten-Thilo Raab

Das Paradies war bekanntlich ein Garten. Niemand kann mit Bestimmtheit sagen, wann und wie es verloren ging. Doch die Erinnerung ist geblieben, spiegelt sich in gepflanzten Bäumen und Sträuchern, gezüchteten Blumen und angelegten Teichen wieder. Dieser Vorstellung sehr nahe kommt die atemberaubende Gartenanlage von Sissinghurst Castle. Von dem elisabethanischen Schloss zwischen Hastings und Ashford im Südosten Englands blieb nur wenig erhalten. Aber das Wenige wirkt absolut märchenhaft. Hinter dem langgestreckten, von üppigen Rosenbüschen umrahmten Torgebäude erhebt sich ein (Wohn-)Turm aus roten Ziegeln. Ein Anblick, der unweigerlich an Szenen aus Rapunzel erinnert.

Sissinghurst
Der markante Wohnturm gehört zu den Landmarken von Sissinghurst. – Foto Karsten-Thilo Raab

Dahinter erstreckt sich ein paradiesischer Garten aus ebenso unterschiedlichen wie faszinierenden Teilen. Da befindet sich zum einen der schlichte, aber farbenfrohe Rosengarten, zum anderen der so genannte Cottage Garden, mit einem verwunschenen Haus, dem South Cottage, dem einzigen erhaltenen Teil des einstigen Schloss-Innenhofes. Links des Turmes liegt der weiße Garten mit seinen prachtvollen Büschen, Sträuchern und Blumen. Eine kleine Eibenallee trennt ihn vom großzügigen Obstgarten, dem Orchard, mit seinem mittelalterlichen Brunnen. Aber auch der Azaleen-Garten entlang des Burggrabens darf ebenso wenig fehlen, wie ein Kräuter- und Gemüsegarten, eine Nussbaum-Allee und ein Feuchtbiotop rund um die zwei angrenzenden Seen.

Noch heute trägt der Garten die Handschrift von Vita Sackville-West. – Foto Karsten-Thilo Raab

So ungewöhnlich wie diese Gärten ist auch die Geschichte des paradiesischen Anwesens. Im 15. Jahrhundert legte hier Sir Richard Baker aus dem nahegelegenen Knole den Grundstein für das einstmals stattliche Herrenhaus. Im 18. Jahrhundert diente das Schloss als Gefängnis für französische Kriegsgefangene, wurde dann so baufällig, dass es Mitte des 19. Jahrhunderts abgerissen wurde. Allein die 1490 erbaute Vorderfront und der Wohnturm aus dem Jahre 1565 blieben stehen. 1930 schließlich erwarb die englische Schriftstellerin Victoria Sackville-West (1862–1936) zusammen mit ihrem Ehemann, dem Diplomaten und Schriftsteller Sir Harold Nicolson, das völlig verwahrloste Anwesen für 12.000 Pfund Sterling.

Die einzelenen Pflanzbereiche werden „Rooms“ genannt. – Foto Karsten-Thilo Raab

Neben der Instandsetzung von Sissinghurst Castle legte Vita Sackville-West, der enge freundschaftliche, bisweilen intime Bande zu Virginia Woolf nachgesagt wurden, in siebenjähriger Kleinarbeit eine der schönsten Gartenanlagen Englands an. Diese wurden 1938 erstmals der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Seither tragen die jährlich rund 175.000 Besucher den Spitznamen „Shillingses“ in Anlehnung an den damaligen Eintrittspreis von einem Schilling (etwa fünf Pence).

Sissinghurst
Auch zahllose ungewöhnliche Blickfänge finden sich in Sissinghurst. – Foto Karsten-Thilo Raab

Fünf Jahre nach dem Tod von Vita Sackville-West ging der Besitz nebst dem Oast-House, der historischen Hopfendarre, und der völlig restaurierten elisabethanischen Scheune 1967 in den Besitz des National Trust über, ohne seine magnetische Anziehungskraft einzubüßen. Denn noch immer offenbart sich vom Dach des Towers, in dem übrigens Vita Sackville-West arbeitete, ein atemberaubender Blick auf die liebevoll angelegten Gärten.

Rund um das Tower House findet sich feinster englischer Rasen. – Foto Karsten-Thilo Raab

„Die Mischung aus Erwartungen und Überraschungen macht die Gärten so besonders“, zeigt sich eine Besucherin aus Durham im Norden Englands völlig begeistert von Sissinghurst. Und in der Tat, ein jeder Gartenabschnitt für sich ist eine Besonderheit. Von jedem Teil des Gartens gibt es Blickachsen oder Gucklöcher zu anderen Teilen, die unweigerlich Neugierde hervorrufen. Die einzelnen Abschnitte des Gartens heißen „Rooms“. Wohl deswegen, weil Vita Sackville-West und Harold Nicolson alle Teile des Anwesens bewohnten und die dazwischen liegenden Grünanlagen als Teil des Wohnkomplexes interpretierten.

Sissinghurst steckt als Gartenkunstwerk voller Liebe zum Detaill. – Foto Karsten-Thilo Raab

„Wir haben uns bis zum heutigen Tag bemüht, den Geist von Vita Sackville-West und ihr Gartendesign aufrecht zu erhalten“, lautet denn auch das Credo in Sissinghurst. Dies zeigt sich auch in der Tatsache, dass das Gros der heutigen Pflanzen bereits von der großen Schriftstellerin selber angelegt wurde. Gleichwohl ist das achtköpfige Gärtnerteam bemüht, auch eigene Ideen und Pflanzkonzepte umzusetzen. Dabei lassen ihm auch die Enkel von Vita Sackville-West und Harold Nicolson, die Schriftsteller Juliet und Adam Nicholson, die heute noch in Sissinghurst leben, frei Hand. Zum einen sind sie stolz darauf, am Wohnsitz ihrer Vorfahren zu Hause zu sein, zum anderen genießen sie es, an einem ganz besonderen Ort zu wohnen. Gilt Sissinghurst doch nach wie vor als ein Stück Paradies in mitten des englischen Gartens Kent. Weitere Informationen unter www.nationaltrust.org.uk/sissinghurst.