
Türme, Zinne, schiefe Dächer, enge Gassen und Kopfsteinpflaster prägen die historische Altstadt von Rothenburg ob der Tauber. In wohl kaum einer anderen deutschen Stadt scheint der viel zitierte Satz „hier scheint die Zeit still zu stehen“ dermaßen zutreffend zu sein, wie in dem Meer an Jahrhunderte alten Fachwerk- und Bürgerhäusern. Eine perfekte Kulisse für jeden Historienfilm – noch dazu mit Charme und einer riesigen Portion Zuckerbäckerromantik, der vor allem Asiaten und Amerikaner tagtäglich gleich in Hundertschaften erliegen. Entsprechend herrscht in den engen Straßen und Gassen – und zum Teil sogar auf der Stadtmauer mit ihren zwölf Türmen – ein reges Treiben.

Ein Gewusel und Stimmengewirr, das nach Ladenschluss abrupt endet. Dann reduzieren sich die Besucherströme in der 11.000-Seelen-Gemeinde im Norden von Bayern um gefühlte 80 Prozent. Vor allem die Heerschar an Tagesgästen verteilt sich in Windeseile wieder in alle Himmelsrichtungen, während die verbliebenen Übernachtungsgäste sich in den vielen traditionellen Wirtshäusern Frankenwein, bayerisches Bier und deftige Küche munden lassen.
Zuckerbäckerromantik und Kitsch

Keine Frage, Rothenburg ob der Tauber ist ein blitzblankes Vorzeigestädtchen – irgendwo zwischen mittelalterlichen Romantik, Disney und Kitsch. Würde an den Stadttoren ein Kassenhäuschen stehen, ginge die Stadt mit den verträumten Häuserschluchten problemlos als riesiges Freilichtmuseum durch. Abzüge in der B-Note bekommt Rothenburg ob der Tauber jedoch aufgrund der Tatsache, dass die herrlichen, engen und mit großen Menschenmengen frequentierten Straßen der historischen Altstadt nicht komplett für den Autoverkehr gesperrt sind. So quälen sich Autos mühsam durch die Menschenmengen, während die Passanten die Fahrer mit ihren „Abgasschleudern“ zum Teil lautstark verfluchen. Gleichwohl gilt: Deutschlands Tourismus-Ikone Nummer Eins ist ungeachtet des ganzen Rummels, der vielen Kitschläden und der schleichenden Amerikanisierung vieler Läden unbedingt einen Besuch wert

Mehr als 700 Jahre reicht die Geschichte des Burgtors, des Weißen Turm, des Markusturms und des Röderbogens zurück, die allesamt um das Jahr 1200 errichtet wurden. Kaum minder beeindruckend ist das Rödertor. Das Stadttor aus dem 14. Jahrhundert verfügt über ein komplett erhaltenes Zoll- und Torwärterhäuschen. Zudem ist der Röderturm der einzige begehbare Aussichtsturm im Stadtmauerring.
Hauch der Geschichte auf Schritt und Tritt

Vom Burggarten bietet sich ein herrlicher Rundblick auf die Rothenburger Altstadt und das Taubertal. Auf dem Areal errichteten die Hohenstaufen 1142 ihre Reichsburg, die knapp 200 Jahre später einem Erdbeben zum Opfer fallen sollte. Lediglich die Blasiuskapelle blieb erhalten. Doch nicht nur die prächtige Stadtmauer mit ihren zwölf Türmen erinnert heute an längst vergangene Tage. Ihren urtümlichen Charme konnte auch die von Patrizierhäusern gesäumte Schmiedgasse und Herrengasse bis heute bewahren.

Das prächtige Rathaus besteht aus zwei Teilen: dem gotischen Rathaus mit dem Kaisersaal aus dem 14./15. Jahrhundert sowie dem 1578 fertig gestellten Renaissance-Bau. Nur einen Steinwurf entfernt plätschert an der Südseite des Markplatzes seit dem Jahre 1446 das Wasser aus dem schmucken Georgsbrunnen, der auch als Herterichsbrunnen bekannt ist und 1608 im Stile der Renaissance umgestaltet wurde.
Weihnachtsmuseum und Puppenstübchen

Mit dem Bau der gotischen St.-Jakobs-Kirche wurde bereits um das Jahr 1300 begonnen. Knapp 200 Jahre gingen ins Land, ehe die protestantische Hauptkirche Rothenburgs um 1490 mitsamt ihren 55 und 58 Meter hohen Türmen fertig gestellt war. Zu den Besonderheiten des Gotteshauses zählen der Hochaltar von Friedrich Herlin aus dem Jahre 1466, der Heiligblut-Altar von Tilman Riemenschneider aus dem Jahre 1504 sowie die bunten Glasfenster im Chor aus dem 14. Jahrhundert. Kaum jünger ist die katholische Johanniskirche, deren Bau im Jahre 1390 begann und 1410 vollendet wurde

Deutsche und französische Puppen- und Spielzeuggeschichte aus zwei Jahrhunderten bereitet das Puppen- und Spielzeugmuseum anschaulich auf, während sich das Deutsche Weihnachtsmuseum ganz dem Fest der Feste verschrieben hat und neben Weihnachtsschmuck aus verschiedenen Epochen über 100 Weihnachtsmänner präsentiert. Und im Mittelalterlichen Kriminalmuseum ist Deutschlands bedeutendste rechtshistorische Sammlung zu sehen. Neben Büchern, Wappen, Grafiken und Symbolen der Rechtsstaatlichkeit vermitteln verschiedene Folterinstrumente einen Eindruck vom nicht unumstrittenen Bemühen um Wahrheitsfindung in längst vergangenen Zeiten. Und so werden alle, die Rothenburg ansonsten nur eine romantische Seite abgewinnen können, in dem 2.500 Quadratmeter großen Museum eindrucksvoll eines Besseren belehrt: Dort steht die Eiserne Jungfrau neben Furcht einflößenden Schandmasken.
Schneeballen als Gaumenfreuden

Zudem lernte der unbedarfte Besucher Strafen kennen, die seit Jahrhunderten in Vergessenheit geraten sind. Dazu gehört die Bäckertaufe. Hier hinter verbirgt sich ein Holzkäfig, in den ein Delinquent gesteckt wurde, bevor an einem Seil langsam in einen Brunnenschacht herabgelassen wurde.

Unabhängig von diesem barbarischen Akt weiß die hiesige Bäckerzunft, die hier wohl eher unfreiwillig bei der Namensgebung Pate stand, die Besuchermassen in ihren Bann zu ziehen. Denn kaum einer verlässt Rothenburg ob der Tauber ohne zuvor einen Schneeballen probiert zu haben. Dabei handelt es sich nicht um ein Überbleibsel des letzten Winters, sondern um eine Rothenburger Spezialität aus Mürbeteig, die mal mit Zucker, mal mit Schokolade verziert ist und verschieden gefüllt sein kann. Zu den Grundzutaten der Schneeballen zählen Mehl, Eier, Zucker, Butter, Sahne sowie Zwetschgenschnaps. Der ausgewalzte Teig wird in Streifen geschnitten, mit einem Schneeballeisen zu einem lockeren Ball geformt und in siedend heißem Fett gebraten. Weitere Informationen unter www.rothenburg.de.


Karsten-Thilo Raab
berichtet seit mehr als drei Jahrzehnten für eine Vielzahl von Zeitungen und Magazinen über Reiseziele weltweit. Zudem hat er sich einen Namen als Autor von mehr als 120 Reise-, Wander- und Radführern sowie Bildbänden gemacht.