Neapel – zwischen Charakter und Chaos

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Zu den Landmarken in Neapel gehört das mittelalterliche Castello Nuovo. – Foto: Karsten-Thilo Raab / Mortimer Reisemagazin

Kaum angekommen, merkt man: Neapel spielt nach ganz eigenen Regeln. Ampeln sind Dekoration, haben allenfalls Empfehlungscharakter; die engen Gassen werden gerne als alternative Rennstrecke für Motorroller missbraucht und Verkehrsgeräusche sind so etwas wie die nicht enden wollende urbane Symphonie. In der drittgrößten Stadt Italiens wird man gerne einmal herzlich angeschrien, liebevoll ignoriert und zwischendurch mit einer Pizza versöhnt, die göttlicher schmeckt als jede Lebensentscheidung zuvor.

Aus den Fenstern vieler Häuser flattert frisch gewaschene Wäsche als wären es Landesfahnen, und die Hupe ersetzt die Begrüßung. Willkommen in Neapel ¬– einer Stadt, die sich weigert, in Schablonen gepresst zu werden und vielleicht gerade deshalb so unwiderstehlich ist. Die Heimat von gut 920.000 stolzen Neapolitanern erweist sich als eine Melange aus Schönheit, Geschichte, Chaos, Fußballfaszination und Margherita.

Altstadt als UNESCO-Weltkulturerbe

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Wäscheleinen und Straßencafés finden sich in der Altstadt einträchtig nebeneinander. – Foto: Karsten-Thilo Raab / Mortimer Reisemagazin

Die Stadt stürzt sich auf einen wie eine italienische Nonna, eine Großmutter, mit Kochschürze und festem Willen, einem mindestens fünf Gänge aufzutischen. Die runtergekommenen Fassaden und der bröckelnde Putz vieler Häuser vermitteln einen ureigenen Charme. Die historische, zum Weltkulturerbe der UNESCO gehörende Altstadt, das Centro Storico, erweist sich als ein Labyrinth aus engen Gassen, antiken Kirchen und lebhaften Kunsthandwerkstätten. Die Sträßchen sind dabei oft Wohnzimmer und Freiluftbühne zugleich. Gespräche finden lautstark über Balkone hinweg statt, Kinder spielen zwischen parkenden Vespas und ältere Herren kommentieren, wild gestikulierend das Weltgeschehen vom Café aus.

Mitten durch die Bestuhlung der engen Gassen rollt gerne mal ein Motorroller. – Foto: Karsten-Thilo Raab / Mortimer Reisemagazin

Und immer wieder knattern Motorroller im Slalomkurs durch die schmalen Passagen. Frei nach dem Motto „Wenn das Motorrad durchpasst, ist es eine Straße“ – was allerdings nicht immer problemlos gelingt. Als ein Rollerfahrer erst eine Wäscheleine streift, dann den Stuhl eines Straßencafés rammt und mit einem lautstarken „scusi!“ entschuldigend das Weite sucht, flachst der Kellner in Richtung eines ungläubigen guckenden Gastes: „Siehst du? Das ist ein neapolitanisches Navi: Augenmaß und Gottvertrauen!“

Die Legende der Eierburg

Um das vom Meer umspülte Castel dell’Ovo ranken sich Mythen und Legenden. / Mortimer Reisemagazin

Letzteres scheint auch im Castel dell’Ovo zu herrschen. Der Legende nach soll Dichter Vergil ein magisches Ei im Fundament der mächtigen Burg, die in verschiedenen Phasen vom 1. Jahrhundert v. Chr. bis ins 16. Jahrhundert erbaut wurde, versteckt haben. Die „Hühnerfrucht“ soll nicht nur die Stabilität des Gemäuers, sondern auch das Bestehen der Stadt garantieren. Sollte es jemals zerbrechen, drohe Neapel gemäß Überlieferung großes Unheil. Bis heute wurde das Ei jedoch nicht gefunden. Weniger überraschend daher, dass die trutzige Festung noch stabil steht, obschon der nahegelegene Vesuv als aktiver Vulkan immer wieder Drohkulissen aufwirft.

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Die elegante Galleria Umberto I ist weit mehr als ein Shoppingtempel. – Foto: Karsten-Thilo Raab / Mortimer Reisemagazin

Nur einen Stein-, äh, Eiwurf entfernt liegen das mittelalterliche Castello Nuovo und der angrenzende Palazzo Reale das königliche Schloss aus dem 16. Jahrhundert, das heute als Museum fungiert. Direkt gegenüber dem Opernhaus, dem Teatro San Carlo, schlummert mit der Galleria Umberto I ein architektonische Highlight. Die zwischen 1887 und 1890 errichtete Einkaufsgalerie mit ihren exklusiven Boutiquen, Restaurants und Cafés wird von zwei sich kreuzenden Achsen mit tonnenförmigen Glasdächern sowie einer riesigen Glaskumpel in deren Kreuzungsbereich geprägt.

Geburtsstätte der Pizza Margherita

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Der Neptunbrunnen gilt asl beliebter Treffpunkt. – Foto: Karsten-Thilo Raab / Mortimer Reisemagazin

Wer Luxus- und Designermarken sucht, den zieht es in die Via Chiaia oder die Via dei Mille. Derweil schlägt das eigentliche Einkaufsherz von Neapel vornehmlich entlang der Via Toledo und ihrer vielen kleinen Nebenstraßen mit einladenden Trattorias, Restaurants und Bars. Hier kommt nahezu überall die berühmte Pizza Margherita, die in Neapel ihren Ursprung hatte, auf den Tisch. Der mit Tomaten, Mozzarella und Basilikum belegte neapolitanische Fladen aus dem Holzofen ist in der Regel für sieben bis zehn Euro zu haben. Wer etwas experimentierfreudiger ist, gönnt sich eine „Pizza fritta“, eine frittierte Variante. Klingt merkwürdig, ist aber äußerst schmackhaft. Dazu einen Espresso im Stehen, denn Sitzen ist in Neapel nur etwas für Wartende – oder für Philosophen.

Pizza gibt es in Neapel in allen erdenklichen Formen. – Foto: Karsten-Thilo Raab / Mortimer Reisemagazin

Fast schon müßig zu erwähnen, dass sich in Neapel mit der Antica Pizzeria Port’Alba die älteste noch existierende Pizzeria der Welt befindet. Die Kultstätte in der Via Port’Alba 18 wurde ursprünglich 1738 als eine Verpflegungsstätte für Wanderhändler eröffnet, ehe sie im Jahre 1830 zu einem Restaurant umgebaut wurde. Neben einer Margherita, die für die Neapolitaner nicht bloß eine Pizza ist, sondern längst als immaterielles Weltkulturerbe mit Tomatensauce von der UNESCO geadelt wurde, ist zum Dessert Sfogliatella eine Sünde wert; ein Gebäck mit Ricotta und Zimt– außen knusprig, innen weich.

Durchaus prachtvoll ist das Gebäude der Camera di Commercio di Napoli, der Handelskammer. – Foto: Karsten-Thilo Raab / Mortimer Reisemagazin

Fast schon ein Muss ist ein Abstecher in die Via San Gregorio Armeno, die Krippenstraße, auf der man ganzjährig Weihnachtsfiguren kaufen kann – von Darth Vader bis Angela Merkel, von Maradona bis Trump ist alles vertreten.

Anhaltender Kult um Fußballheld Maradona

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Der Kult um den verstorbenen Fußballstar Diego Maradona ist allgegenwärtig. – Foto: Karsten-Thilo Raab / Mortimer Reisemagazin

Apropos Maradona. Die Verehrung für den 2020 verstorbenen argentinischen Fußballstar Diego Armando Maradona, der den SSC Neapel im Jahre 1987 und 1990 zu den ersten Meistertiteln der Vereinsgeschichte sowie 1989 zum UEFA-Cup-Sieg führte, ist weiterhin gigantisch groß. Sein Trikot ist immer noch ein Bestseller in den Souvenir- und Sportgeschäften. Sein Konterfei prangert auf Handtüchern, Flaggen und zahllosen Hausfassaden. In der Bar Nilo ist ihm sogar ein Altar gewidmet – mit Haar. Und Träne. Und viel Liebe.

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Maradona und frisch gewaschene Wäsche prägen weite Teile des Stadtbilds. – Foto: Karsten-Thilo Raab / Mortimer Reisemagazin

Wer sich derweil unter die Oberfläche Neapels wagen will, steigt hinab in die Napoli Sotterranea. Hierhinter verbirgt sich ein unterirdisches Labyrinth aus Aquädukten, Schutzräumen und Weltkriegsgeschichten, bei denen es einem nicht nur aus Temperaturgründen kalt den Rücken runterläuft. Schaurig mutet auch der gut 3.000 Quadratmeter große Cimitero delle Fontanelle an. Der kuriose Friedhof wartet in einer Höhle mit über 40.000 Schädeln auf – und der Möglichkeit, die Seele eines Verstorbenen symbolisch zu „adoptieren“. Im Gegenzug soll die Seele den Adoptivvater oder die Adoptivmutter schützen. Klingt nach einem fairem Deal.

Unteririsch schön: Die Metrostation Toledo

Die Metrostation Toledo gilt als die vermeintlich schönste der Welt. – Foto: Karsten-Thilo Raab / Mortimer Reisemagazin

Wer statt auf der Suche nach seelischem Beistand nach Orten ist, die Klicks auf Social-Media-Seiten kreieren, sollte unbedingt in die Metrostation Toledo hinabsteigen. Der Haltepunkt gilt mit seinen Kunstinstallation, zumindest wenn man den Neapolitaner Glauben schenken darf, als schönste U-Bahnstation der Welt.

Kaum eine Fassade in der Altstadt ist nicht mit Graffitis überzogen. – Foto: Karsten-Thilo Raab / Mortimer Reisemagazin

Fest steht, Neapel ist eine Stadt zwischen heillosem Durcheinander und Charakter. Man kommt an, wird angeschrien, bekommt eine Pizza, verliebt sich, verliert sich, findet sich wieder – und manch einer will nie wieder weg. Oder zumindest bald zurück. In diesem Sinne: Ciao bella, Neapel – du chaotische, köstliche, kunstvolle Verführung mit Vulkanblick. Weietere Informationen unter www.visitnaples.eu/en.

Neapel ist laut, chaotisch und doch liebenswert. – Foto: Karsten-Thilo Raab / Mortimer Reisemagazin

Karsten-Thilo Raab

berichtet seit mehr als drei Jahrzehnten für eine Vielzahl von Zeitungen und Magazinen über Reiseziele weltweit. Zudem hat er sich einen Namen als Autor von mehr als 120 Reise-, Wander- und Radführern sowie Bildbänden gemacht.