Massachusetts von Kap zu Kap

Massachusetts
Im Herbst wandelt sich Massachusetts ebenso wie die anderen Neuengland-Staaten zu einem prächtigen Farbenmeer. – Foto Massachusetts Office of Travel and Tourism

„And I go where the ocean is deep. There are giants out there in the canyons. And a good captain can‘t fall asleep …“ – Billy Joel besingt in seinem Song „The Downeaster Alexa“ das harte Leben der Fischer vor New England. Wer nach Massachusetts reist, reist unweigerlich in die Vergangenheit des „Alten Europa“. Die historischen Bauten erinnern an Häuser zwischen Brighton und London. Und von allen Staaten Neuenglands dokumentiert Massachusetts am nachhaltigsten den Hang zur großen Vergangenheit – und zum Meer. Ich bereise die Küstenlinie von New Bedford bis hoch nach Gloucester im Norden und tauche auf der Fahrt ein in gelebte Geschichte von Pilgervätern und Seemännern.

Stimmungsvoll gibt sich der Hafen von Rockford am Cape Ann. – Foto Wolfgang Siesing

Eigentlich müsste Massachusetts eine Insel im Atlantik sein, denn nur auf einer Insel wird man so häufig mit dem Leben von Seefahrern und Walfängern konfrontiert. Schon mein Auftakt führt mich in das Walmuseum nach New Bedford. Zwischen gigantischen Walskeletten steht hier das Model eines Schoners, der vor 200 Jahren noch für die Jagd auf Wale benutzt wurde. Die Wände sind behängt mit Geschichten über die Seefahrt. Sie stimmen mich auf eine nostalgische Art darauf ein, worum es auf meiner Reise unter anderem gehen soll: Seafood. Denn Köstlichkeiten des Meeres wie Austern, Hummer und Dorsch dominieren die Restaurants an der Ostküste.

Halbinsel mit besonderem Flair

Traumhaftschöne Strandabschnitte finden sich insbesondere rund um Cape Cod. – Foto Wolfgang Siesing

Meine Fahrt geht weiter in Richtung Cape Cod. Der Name ist eine Huldigung an den Dorschfang, denn Cod bedeutet übersetzt Dorsch. Wie ein langer Arm, der sich in den Atlantik gräbt, ragt die Halbinsel ins Meer. Hier ist jeder Hafen dem Segelsport und Fischfang gewidmet; von hier aus wird mit Netz und Fangkäfig Sorge getragen, dass die Fischrestaurants in Boston und New York ihren Gästen immer frische Hummer und Austern garantieren können. Ich fahre die schmale Halbinsel in Richtung Norden, immer wieder passiere ich phantastische Strände, kleine Häfen und Leuchttürme, die schon dem berühmten Maler Edward Hopper Modell standen.

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Fangfrischer Hummer steht nicht nur am Cape Cod ganz oben auf der Speisekarte. – Foto Massachusetts Office of Travel and Tourism

Strände, mit schmückenden Namen wie Orleans Beach, Marconi Beach oder White Crest Beach fordern mich häufig zu Spazier- und Badestops auf. Am Ende einer relaxten Fahrt wartet Provincetown auf mich. Die Kleinstadt an der Spitze Cape Cods kann auf eine bewegte Vergangenheit verweisen. Hier gingen die legendären Pilgerväter zuerst an Land und die Hafenstadt entwickelte sich rasch zu einem der bedeutendsten Zentren der Fischerei an der gesamten Ostküste. In P-Town, wie die Stadt verkürzt genannt wird, etablierte sich außerdem eine der erfolgreichsten Kunstschulen der Vereinigten Staaten. Hier studierten unter anderem Mark Rothko, Jackson Pollock und Edward Hopper.

Treff der Stars und Sternchen

Provincetown gilt nicht nur wegen seiner grandiosen Sonnenuntergänge als Treff der Reichen und Schönen. – Foto Wolfgang Siesing

Heute ist Provincetown zwischen April und Oktober einer der angesagtesten Orte Neuenglands und aus knapp 4.000 Einwohnern werden an den Wochenenden auch mal 30.000 Besucher, die entlang der Cafés und Restaurants flanieren. Dougie Freeman, seines Zeichens Haarstylist im sehr beliebten West End Salon, fasst es zusammen: „Im Frühling und Sommer haben wir in P-Town eine Celebrity-Quote, die mit L.A. oder New York mit- halten kann. Dazu kommen die bunten Vögel der „LGBT“-Szene. Und mittendrin: die Hummerfischer in ihrem Ölzeug! Diese Mischung ist einfach unvergleichlich.“ Er sinniert weiter: „Wenn man aber das authentische Cape erleben möchte, sollte man im Herbst kommen, wenn die Fischer die Herrschaft wieder ganz übernommen haben.“

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Nicht nur im der Garten der Plimoth Plantation lkädt zu einer spannenden Reise in die Vergangenheit ein. – Foto Massachusetts Office of Travel and Tourism

Für das „Kap der Dorsche“ muss man sich Zeit nehmen: Links und rechts der legendären Road Six wird man immer wieder überrascht von phantastischen Dünenlandschaften und viktorianischen Herrenhäusern. Auf dem Weg nach Norden passiere ich Plymouth, genauer gesagt Plimoth Plantation. Hier ist die Zeit im Jahre 1621 angehalten worden. Die Pilgerväter gründeten hier seinerzeit ihr erstes Dorf; Schauspieler sind in die Rolle der berühmten Kolonisten geschlüpft. Sie leben hinter schützenden Palisaden in einer authentisch gebauten Siedlung nach den harten Regeln der frühen Siedler: Gemüsebeete werden gepflegt, Fisch wird gepökelt, Zäune repariert und die Schauspieler stehen Rede und Antwort für die Fragen der Besucher.

Tummelplatz der Romantiker

Chuck Day vom beliebten Yarmouth Inn mit fangfrischen Austern. – Foto Wolfgang Siesing

Wer nun sein Herz für bildstarke Geschichte geweckt hat, wird später in Concord restlos begeistert sein: Der kleine Ort, eine Autostunde weiter nördlich, ist quasi der Geburtsort und das „Weimar“ der Vereinigten Staaten. Hier erhob sich 1775 die bunt zusammen gewürfelte Truppe aus Farmern, Kaufleuten und Hasardeuren erfolgreich das erste Mal gegen die britischen Truppen und trieb die sieggewohnten Engländer zurück in ihre Festung nach Boston. Der Ort ist eng verwoben mit dem späteren Triumph im Unabhängigkeitskrieg und zog schon früh Schriftsteller aus den verschiedenen Regionen der Ostküste an.

Der Flushing Pond Westford weiß vor allem im Herbst farbige und tierische Akzente zu setzen. – Foto Massachusetts Office of Travel and Tourism

Die amerikanischen Romantiker Ralph Waldo Emerson und Nathaniel Hawthorne wirkten hier genauso wie „Moby Dick“-Autor Hermann Melville, der häufig den Kontakt zu seinen Schriftstellerfreunden suchte. Kleingeistiger Materialismus, religiöse und staatliche Einmischung ins Private und gesellschaftliche Zwänge wurden vom Kollektiv der Schreiber abgelehnt …

Auf den Spuren von Moby Dick

Weithin sichtbare Landmarke: der Nauset Leuchtturm am Cape Ann. – Foto Wolfgang Siesing

Nach meinem Geschichtsabstecher geht es weiter in Richtung North Shore. Das Cape Ann, ebenfalls eine Halbinsel, präsentiert sich etwas rauer und felsiger als das malerische Cape Cod im Süden. In den Häfen liegen mehr Fisch- und Hummerkutter als Segelschiffe. Die wundervolle Rundstrecke ums Kap ist in ganz Massachusetts bekannt und beliebt für die Vielzahl der Fischrestaurants. Orte wie Manchester-by-the- Sea, Magnolia, Rockport oder Gloucester sind Denkmäler des frühen Fischfangs.

Auch bei Surfern erfreut sich die Gegend um Cape Ann großer Beleibtheit. – Foto Wolfgang Siesing

Von hier starteten die Walfänger, denen Melville mit „Moby Dick“ ein literarisches Denkmal setzte. Heute kann man von hier aus zum Whale watching raus fahren. Gloucester und Rockport sind phantastische Orte für ein ausgedehntes Wochenende am Meer: Die Menschen sind liberal, niemanden stört es, wenn man sein Bier aus dem Restaurant mit nach draußen nimmt, um einen Sonnenuntergang und die Seeluft zu genießen. Der Maler Edward Hopper lebte viele Sommer hier und malte. Was liegt also näher, als sich mit einem seiner Kollegen auf einen Plausch zu treffen?

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Kunstmaler Jeff Weaver lässt sich von der faszinierenden Landschaft in Massachusetts inspirieren. – Foto Wolfgang Siesing

Der Künstler Jeff Weaver arbeitet und lebt seit Jahrzehnten im North Shore und arbeitet vergleichbar wie Hopper im amerikanischen realistischen Stil. Er zieht die Malerei unter freiem Himmel der Arbeit im Atelier vor und erklärt mir beim Kaffee, warum er immer wieder auf neue Eindrücke stößt: „Wir sind hier oben im Osten viel näher an Europa als an Kalifornien. Wenn der Himmel klar ist, glaubt man die Nordspitze Europas zu sehen. Und obwohl das Quatsch ist, prägt es mich. Wer hier in der rauen Seeluft malt, kann den Reiz der Landschaft und seiner Bewohner ganz anders beurteilen. Hier erinnert einiges an die Fjorde Norwegens und die Mentalität der Menschen ist näher an London und Dublin, als an Los Angeles oder Dallas.“ Darauf trinken wir erst einmal noch einen Kaffee.

Einem roten Meerkommt die Ernte der Cranberres, der schmackhaften Moosbeeren, gleich. – Foto Wolfgang Siesing

Wer die Kulinarik in Massachusetts voll auskosten möchte, dem sei im Herbst der Besuch einer Cranberry-Farm ans Herz gelegt. Die Beeren werden in sogenannten Bogs angebaut – hauptsächlich in der Cape Cod-Region. Bei einer Tour auf einer Cranberry-Farm fährt man als Gast im „Bog Boat“ durch das sumpfartige Gelände. Im Spätherbst werden die reifen Früchte geerntet und halten Einzug auf den Speisekarten der Umgebung – z. B. als Cranberry-Kompott, als Drink oder mit dunklem Schokoladenüberzug. Fazit: Wer dem „Alten Europa“ in der „Neuen Welt“ einen Besuch abstatten möchte, der reise in die Region zwischen Cape Ann und Cape Cod, tauche in die Welt eines komplett anderen Amerikas ein und genieße die frischesten Muschel- und Fischgerichte, die man sich vorstellen kann.

Wissenswertes zu Massachusetts

Zu den vielen malerischen Flecken in Massachusetts zählt ganz sicher der Hafen von Rockford. – Foto Wolfgang Siesing

Allgemeine Informationen: www.visit-massachusetts.com

Klima und beste Reisezeit: Das Klima ist im Osten maritim und milder als im Landesinneren. Die beste Reisezeit ist von Mai bis Oktober; dann fallen die wenigsten Niederschläge. Ein besonderer Genuss ist der Indian Summer, der ab September die Mischwälder bunt färbt.

Essen und Trinken: Hummer, Austern und Dorsch (Cod) in verschiedenen Variationen prägen die Küche der Küste Neueng- lands. Beliebt sind Lobster Roll (Hummer im Brötchen) und Boston Cream Pie als Dessert (ein heller Kuchen mit Cremefüllung). New Yorker und Bostoner nehmen gern lange Fahrten in Kauf, um am Cape Cod und am Cape Ann zu speisen. Im Herbst erobern die frisch geernteten Cranberries in verschiedenen Varianten – z. B. als Cranberry Pie oder als Sauce zum Braten – die Speisekarten.

Empfehlung des Autors

Autor Wolfgang Siesing hat noch einige handfeste Tipps für den Massachusetts-Reise im Gepäck.

Unbedingt machen: Wandern oder ein Fahrrad mieten, um die Landschaft rund um Cape Ann und Cape Cod aktiv zu erkunden; in Concord auf Zeitreise gehen: Die Häuser von Henry David Thoreau, Louisa May Alcott, Nathaniel Hawthorne und Ralph Waldo Emerson sind kleine, prachtvolle Museen; eine Cranberry-Farm besuchen; rund um Cape Ann eine Whale Watching Tour machen.

Mitbringsel: Rund um Cape Cod und Cape Ann gibt es eine bunte Mischung an Bootsausstattern, die Originelles anbieten: Von der Seekarte über Leuchttürme zum Selbstbasteln bis zum nautischen Gerät von anno dazumal nden sich echte Raritäten.

Wolfgang Siesing