
In Kuldīga scheint die Zeit stehen geblieben zu sein – und das auf die schönste Weise. Die lettische Kleinstadt verführt mit Kopfsteinpflaster, fliegenden Fischen, einem Hauch Weltkulturerbe und bald auch als Kulturhauptstadt Europas.

Das Kopfsteinpflaster glitzert stimmungsvoll nach dem Regen: Die in engen Gassen verteilten Holzhäuser lehnen sich in sanften Pastelltönen aneinander. Und spätestens beim Betreten des Platzes zwischen den beiden historischen Rathäusern von Kuldīga fühlt man sich wie in ein lebendiges Gemälde versetzt. Zugegeben, die ein oder andere Fensterbank könnte ruhig mal wieder einen Pinselstrich vertragen, aber das macht den Charme der 10.000-Seelen-Gemeinde im Westen von Lettland erst aus – hier ist der Zahn der Zeit nicht nur eine Metapher, sondern auch ein dekorativer Akzent.
Während in der Liepajas iela, der Haupteinkaufsstraße, kleine Boutiquen, Kunsthandwerksläden und Galerien zum Shoppen laden, ist der Gang über die markante Backsteinbrücke mit ihren sieben Bögen über den Fluss Venta ein Muss. Ein kleines Stück Luftlinie entfernt rauscht der Ventas Rumba, der breiteste Wasserfall Europas: 249 Meter, die sich wie ein flüssiges Band quer über den Fluss spannen.
Wasserfall in Kuschelvariante

Mit gerade einmal zwei Metern Fallhöhe avanciert der Ventas Rumba aber eher zur Kuschelvariante unter den Wasserfällen. Immer im Frühjahr lassen sich hier „fliegende Fische“ beobachten, wenn Lachse, Forellen und vor allem Vimbas (eine Karpfenart) versuchen, die niedrige Kante des Wasserfalls stromaufwärts zu überwinden, um zu ihren Laichplätzen zu gelangen.

„In früheren Zeiten haben die Bewohner von Kuldīga hier einfach Körbe an Stöcken angebracht, so dass die Fische dort beim Springen über die Wasserfallkante direkt reingeplumpst sind“, weiß Krista Jansone von so manchem leichten Fang zu berichten. Die kleine Powerfrau, die gerne Kulturveranstaltungen organisiert, fügt hinzu, dass Fische in „Kuldīg“ gemäß Volksmund nicht geangelt, sondern in der Luft gefangen würden.
Entdeckungstour in Wathose

„Die Menschen hier in der Region Kurland (lettisch Kurzeme) neigen dazu, die Endungen von Wörtern zu verschlucken; deshalb sagen wir zumeist einfach nur Kuldīg“, ergänzt Krista mit Blick auf ihre Wahlheimat. Halb entschuldigend, halb amüsiert schiebt sie hinterher: „Wir brauchen die durch das Verschlucken von Buchstaben gesparte Zeit, um fischen zu gehen.“

Oder um beispielsweise unter Führung von Krista in Gummistiefeln und Wathose sowie mit Walking-Sticks durch die Fluss- und Bachläufe von Kuldīga zu stiefeln und dabei einen ganz andere Sichtweise auf eine Stadt zu erhaschen, die nicht von ungefähr seit gut zwei Jahren als Weltkulturerbe unter dem Schutz der UNESCO steht.
An- und aussichtsreiches Naturerlebnis

„Das Besondere an den Flusstouren ist neben der ungewöhnlichen Perspektive, dass man den Kopf komplett frei kriegt“, so Krista weiter. Die Abenteuerlustigen und Wagemutigen würden sich zunächst voll darauf konzentrieren, auf dem glitschigen Untergrund nicht auszurutschen.
Nach kurzer Eingewöhnung dominiert jedoch der Genuss des ungewöhnlichen wie an- und aussichtsreichen Naturerlebnisses, bei dem Staustufen überwunden und unter niedrigen brücken hindurch gegangen werden muss. Besonders spannend sind die Momente, wenn das Wasser im Alekšupīte-Bach plötzlich knietief oder gar höher ansteigt und der Druck der Strömung deutlich zu spüren ist.

„So oder so gibt es wohl nicht viele Orte, die man auf dies Art und Weise vom Wasser aus kennenlernen kann“, beteuert Krista, dass sich die Schönheit von Kuldīga aber auch vom Land aus erschließt. Nur ohne Nervenkitzel.
Historische Bauwerke

Zwischen dem Flussufer und sanft geschwungenen Hügeln erhebt sich die Ruine der Burg von Kuldīga, auch Goldingen-Burg genannt, die einst den livländischen Ordensrittern als Festung diente. Heute sind es vor allem die Mauerreste, die Geschichten vergangener Jahrhunderte erzählen: von mittelalterlichen Kämpfen, von höfischem Leben und vom Wandel der Zeit. Auf dem Areal der einstigen Ordensburg sorgt zudem ein Skulpturenpark mit Werken der lettischen Bildhauerin Līvija Rezevska für Kunstgenuss unter freiem Himmel.

Sehenswert sind neben dem Rathaus aus dem Jahre 1860 auch die St. Katherinen-Kirche, deren Ursprünge bis ins 13. Jahrhundert zurückreichen, sowie die 1640 errichtete Heiliggeistkirche. Derweil fällt in der kleinen Grünanlage an der ehemaligen jüdischen Synagoge eine rote Bank ins Auge, die als Wippe fungiert.
Vorfreude auf Kulturhauptstadtjahr

„Kuldīga wird im Jahre 2027 zusammen mit Liepāja für Lettland als Europas Kulturhauptstadt fungieren“, erläutert Krista und unterstreicht gleichzeitig, dass die Wippe durchaus Symbolcharakter hat. Denn das ungleich größere Liepāja (die drittgrößte Stadt Lettlands) und Kuldīga seien zwar bald gemeinsam Kulturhauptstadt, aber mit Blick auf das mit Freude erwartete Festjahr sei durchaus nicht immer alles ausbalanciert. Aber man bemühe sich, alles einigermaßen in Waage zu halten.

Etwa fünf Kilometer nordöstlich von Kuldīga, dort wo der Wald leise raschelt und die Riežupe gemächlich Richtung Venta plätschert, wartet ein weiteres kleines Abenteuer in Form der Riežupe-Sandhöhlen – Lettlands längstem Höhlensystem, von Menschenhand geschaffen und von der Zeit veredelt. Was einst ein Quarzsand-Bergwerk war, ist heute ein mystischer Ort mit einem Hauch Indiana-Jones-Atmosphäre. Nur mit Kerzenlicht und Führerin geht es hinein in die rund 350 Meter begehbaren Gänge – der Rest des zwei Kilometer langen Labyrinths ist den Fledermäusen und der Phantasie vorbehalten.
App mit Pokémon-Effekt

Ganz ohne Phantasie lassen sich übrigens viele der Kulturschätze in und um Kuldīga entdecken: Die kostenfreie „Art+ App“ führt zu digitalen Kunstwerken. Das Ganze funktioniert ähnlich der Pokémon-Suche. Sobald der richtige Punkt gefunden wurde, erscheinen Animationen auf dem Smartphone-Display. Mal sind es Kunstwerke, mal Phantasiegebilde und mal Fische, die versuchen, den Ventas Rumba zu überwinden. Schauspiele die auf ihre Art schon jetzt auf das europäische Kulturhauptstadtjahr 2027 einstimmen.
Wissenswertes zu Kuldīga in Kurzform

Informationen: www.visitkuldiga.com und www.latvia.travel/de
Lage: Kuldīga liegt rund zwei Autostunden – circa 140 Kilometer – westlich der lettischen Hauptstadt Riga. Von dort verkehren auch regelmäßig die Busse des Lux Express.
Europas Kulturhauptstadt 2027: www.liepaja2027.lv

Fluss- und Bachtouren: Ab 14 Euro pro Kopf in Gruppen von acht Personen werden die Touren angeboten. Die Ausrüstung wird gestellt. Informationen: Full Moon, Kalna iela 21, Kuldīga, Lettland, Telefon 00371 -29-759 049, info@fullmoonlv.lv, www.facebook.com/fullmoonlv.
Essen und Trinken: Pagrabinš, Baznīcas iela 5, Kuldīga, Lettland, Telefon 00371-63-320034, www.pagrabins.lv. Traditionelles Restaurant mit lettischer Küche im Kellergewölbe des ehemaligen Rathauses mit kleinen Speisezimmer in den früheren Gefängnisräumen.
Rumbas Paviljons, Pils iela 4A, Kuldīga, Lettland. Kleines Café mit perfekten Blick auf den Wasserfall.

Übernachten: Jēkaba sēta, Liepājas iela-36, Kuldīga, Lettland, Telefon 00371- 28-631122, https://jekabaseta.lv. Kleines, gepflegtes Hotel direkt im Zentrum. Doppelzimmer werden ab 64 Euro angeboten.
Sīmanis Boutique Hotel, Liepājas iela 3a, Kuldīga, Lettland, Telefon 00371-29-134 560, https://sapniskafejnica.hotelmu.top. Nettes kleines Hotel, zentral gelegen. Zimmer ab 80 Euro.

Die Recherche fand – ohne Einfluss auf die journalistische Ausarbeitung – auf Einladung / mit Unterstützung von Latvia Travel, dem lettischen Fremdenverkehrsamt, statt.

Karsten-Thilo Raab
berichtet seit mehr als drei Jahrzehnten für eine Vielzahl von Zeitungen und Magazinen über Reiseziele weltweit. Zudem hat er sich einen Namen als Autor von mehr als 120 Reise-, Wander- und Radführern sowie Bildbänden gemacht.