
Den Titel „Europas Kulturhauptstadt 2025“ hat die früher Karl-Marx-Stadt genannte Metropole Chemnitz gemeinsam mit der slowenischen Stadt Nova Gorica anhand eines spannenden Konzepts gewonnen. Doch das ist nur die halbe Wahrheit: Tatsächlich wird die ganze Region in Bewegung kommen, wie der „Purple Path“ beweist: Kultur wird damit nicht nur in Theatern oder Museen zelebriert, sondern ebenso in Garagen, beim Sport oder mitten im Wohngebiet. „C the Unseen“, das Motto für Chemnitz und Region, wird spannend.
Sächsischer Jakobs- oder Lutherweg

Zu den Skulpturen des „Purple Path“ sollen Ausstellungen, Veranstaltungen und Aktionen mit Künstlern aus ganz Europa kommen – in Museen, Handwerksbetrieben oder Fabriken. Der Sächsische Jakobsweg wird zum Bestandteil des violetten Pfades, der auch historische Bergbaustädte wie Freiberg oder die Weihnachtsstadt des Erzgebirges, Annaberg-Buchholz, erschließt und schließlich den Weg nach Chemnitz ebnet. Wer also plant, Sachsen zu Fuß zu entdecken, an einer Pilgeroase zu rasten, Land und Leute zu erleben oder gar Göttlichem zu begegnen ist hier richtig.

Der Lutherweg bietet interessante Einblicke in das Leben von Martin Luther, die eine Auseinandersetzung mit dem bekannten Reformator ermöglichen. Mit seinen Klöstern, Kirchen und Pilgerwegen bietet die Region eine ganze Reihe von Orten, die schon seit Jahrhunderten für Einkehr, innere Ruhe und Selbstreflexion stehen.
Erinnerung an Arbeitskämpfe

Purple Path-Kurator Alexander Öchs steht vor der Skulptur Coin Stack des irischen Künstlers Sean Scully auf dem Kirchplatz in Schneeberg, knapp 50 Kilometer von Chemnitz entfernt. Der Münzstapel soll die legendäre Geschichte der erfolgreichen Arbeitskämpfe der Schneeberger Bergleute in den Jahren 1496 und 1498 verkörpern. Denn nach rund 25 Jahren intensivem Silberbergbaus wurden die Vorkommen weniger und es erforderte größere Anstrengungen, sie auszubeuten. Um die Profite zu halten, beabsichtigten die Unternehmer, den Arbeitern je einen Groschen vom Wochenlohn „zu brechen“. Die stolzen und gut organisierten Bergleute drängten das Vorhaben jedoch mit dem vermutlich ersten Arbeiterstreik der frühen Neuzeit erfolgreich zurück. An dieses historische Ereignis erinnert Scully mit seiner passenden Plastik.

Die St. Wolfgangskirche gleich nebenan, im Volksmund „Bergmannsdom“ genannt, ziert ein prachtvoller Altar von Lukas Cranach, dem Älteren. Außergewöhnlich ist, dass er eine Werktags- und eine Festtagsansicht hat. Kirchenführerin Sigrid Endruschat erinnert an den Luftangriff der Alliierten am 19. April 1945, wenige Tage vor Kriegsende: „Wegen der Sonne, die sich im Kirchturm spiegelte, dachten die Amerikaner, dass sie beschossen werden. Deshalb wurden die Stadt und ihre Kirche komplett zerbombt.“ Doch die gottesgläubigen Schneeberger räumten unermüdlich Schutt und Asche aus ihrem zerstörten Dom, so dass 1949 schon wieder der erste Weihnachtsgottesdienst stattfinden konnte.
Keine Arbeit für die Kirche

Weihnachtstraditionen waren den Bergleuten schon immer heilig. Ihre Bergparaden finden nicht nur im Dezember statt, sondern auch am 22. Juli jeden Jahres. Über 600 Mitglieder nehmen in ihren Trachten teil, es wird ein Berggottesdienst gefeiert und im Anschluss erklingen auf dem Marktplatz erzgebirgische Bergmärsche. Das Schnitzhandwerk war schon immer ein zentrales Motiv in der sakralen und weltlichen Kunst. Aus dem Bergbau heraus entwickelten sich somit die örtlichen Weihnachtstraditionen: Produkte wie Schwibbögen, Pyramiden und Räuchermännchen gehören bis heute zum weltweit einzigartigen Brauchtum dieser Region und finden sich als Souvenirstücke in vielen Teilen der Welt.

„Unsere Bergleute waren sehr fromm, sie ließen sich auch in der DDR-Zeit nicht unterdrücken. Die Christmette bedeutete für sie eine innere Verbundenheit“, sagt Endruschat. Handwerksbetriebe durften damals nicht für die Kirche arbeiten. „So bauten die Schneeberger ihren Dom gemeinsam nach Feierabend wieder auf.“ Jährlich singen am Ersten Weihnachtstag ab 4 Uhr morgens die Turmsänger, danach beginnt die Christmette. „Der Kurrende-Chor und die einzigartige Beleuchtung erzeugen dabei ein Gänsehautgefühl“, schwärmt die Kirchenführerin.
Klöppeln für das Zusatzeinkommen

Heute ist das Klöppelhandwerk wohl als traditionsreiches „Frauen-Hobby“ bekannt. Früher galt es in den Bergbauregionen Sachsens als ein wichtiger Zuverdienst, besonders dann, als es mit dem Bergbau in der Region zu Ende ging. Auch Männer saßen am sogenannten „Klöppelsack“. Monika Schmat aus Schneeberg hat zu DDR-Zeiten 20 Jahre lang in Heimarbeit für eine Genossenschaft geklöppelt. Sie lernte das Handwerk 1953 in der Schule. „Als junge Frau bin ich dann aber lieber tanzen gegangen als zuhause Handarbeit zu machen. Erst nach der Heirat wurde es zu meinem Beruf.“

Zum „Purple Path“ gehört auch die Werkstatt des Handschuhmachers Nils Bergauer mitten in der Schneeberger Innenstadt. Hinter seiner Werkbank hängt ein Foto, das Angela Merkel zeigt, die Bergauer Handschuhe trägt. Bergauer produziert maßgefertigte Handschuhe in allen Formen und Farben, „viele für Film und Theater, doch auch für Endkunden“. Handgenähte brauchen anders als die mit der Nähmaschine gefertigten rund sieben Arbeitsstunden. „Für 120 Euro bekommt man bei mir schon vernünftige Handschuhe“, sagt der Handwerker.
Kati Witts Autokennzeichen

Zurück in Chemnitz. Martin Maleschka ist Architekt, Fotograf und Künstler. Er hat in der gesamten Ex-DDR Garagen fotografiert. Im Museum für sächsische Fahrzeuge in Chemnitz stellt er eine typische DDR-Garage aus. Das Projekt ist eine Hommage an die rund 30.000 Garagen der Stadt. Die meisten wurden in der DDR-Zeit gemeinwirtschaftlich errichtet. Noch heute prägen sie das Stadtbild. Dazu gehören auch immer die persönlichen Lebensgeschichten und Erinnerungen vieler Bürger. Eiskunstläuferin Katarina Witt besuchte hier die Kinder- und Jugendsportschule (heute Sportgymnasium). Später fuhr sie einen Lada. Ihr damaliges Auto-Kennzeichen ist heute in der Ausstellungsgarage zu sehen.

Im Esche-Museum, einem Kleinod für alle Textil-Fans, im nahen Limbach-Oberfrohna dreht sich alles um die Stoffe, die aus Maschen gefertigt sind und die für die gesamte Region 300 Jahre lang eine herausragende Rolle gespielt haben. Gabriele Pabstmann, stellvertretende Leiterin des Museums, nimmt ihre Gäste gerne mit auf eine Zeitreise: Wie war das Strumpfwirkerleben vor 250 Jahren wirklich? Gezeigt wird die authentische Atmosphäre einer Fabrikhalle im 19. Jahrhundert mit der ratternden Transmission, die Rundstrickmaschinen antreibt oder einer Malimo, die in Gang gesetzt lautstark pro Minute zwei Meter Stoff produziert.
Sprechen zwischen den Stühlen

Eines ist jetzt schon klar für Sachsens reiche Kulturregion: Langweilig klingt anders! Glück auf! „Das Spannende ist, dass wir uns im Zuge der Kulturhauptstadt alle selbst neu erleben werden. Ein Projekt nennen wir Sprechen zwischen den Stühlen. Zielgruppe sind Menschen, die in der früheren DDR auf unterschiedlichen Seiten standen und nun erstmals miteinander reden“, betont Pfarrer Holger Bartsch.

Das Querschnittsthema sei dabei die Versöhnung. „Es gibt so viele Brüche und Veränderungen, die die Region erfahren hat.“ Heutige Rentnerinnen und Rentner zum Beispiel: Haben sie nicht alle einen Bruch in ihren Lebensgeschichten erlebt, damals in den 1990ern? Bartsch geht es dabei nicht nur um lokale Aufarbeitung. „Wir wollen europäische Versöhnungsinitiativen einladen.“ Im März 2025 wird in Chemnitz ein Nagelkreuzzentrum eröffnet. „Die Versöhnung Richtung Westen wird ein großes Thema sein.“
Informationen: www.chemnitz2025.de
Die Recherche fand auf Einladung / mit Unterstützung von Sachsen Tourismus und Chemnitz 2025 statt.

Sabine Ludwig
ist deutsche Journalistin und Reiseautorin. Sie hat mehrere Bücher veröffentlicht und war als Kriegsberichterstatterin in Afghanistan, Südsudan, Irak und Mali. In ihrer Freizeit widmet sie sich neben diversen Sportarten ihrem Blog sl4lifestyle.com und ihrem Hund Brad. - Foto: Nicola Mesken