Gelebte Holzfällerromantik im Val-Jalbert

Val-Jalbert
Das Val-Jalbert lädt zu einer faszinierenden Zeitreise ein. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Die Eisenbahnschienen sind fast komplett mit Gras überwuchert. Mitten aus den Gleisen schießen mächtige Birken hervor. Die Natur hat hier das Regiment übernommen und sich zurückgeholt, was einst ihr gehörte. Doch nicht nur entlang der früher so wichtigen Verkehrsader scheint im Val-Jalbert in der kanadischen Provinz Québec die Zeit still zu stehen. Schon die ersten Schritte auf der Rue St-Georges erinnern an eine Zeitreise in die 1920er Jahre. Linker Hand liegt der prächtige Holzbau der alten Klosterschule. Wenige Hundert Meter weiter befinden sich einige Mehrfamilienhäuser und der General Store. Ein historischer Bus tuckert mit gemächlichem Tempo die Straße entlang.

Val-Jalbert
Prachtvolle Holzhäuser finden sich im Val-Jalbert. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Tatsächlich war Val-Jalbert  in den 1920er Jahren der Inbegriff für eine perfekte Mischung aus modernem Wohnen und einem industriellen Musterbetrieb. Heute ist das pittoreske Museumsdorf, das nur wenige Hundert Meter Luftlinie vom Lac Saint-Jean, jenem fast 46 Kilometer langen Kratersee in den laurentinischen Bergen, liegt, mehr als ein offener Geheimtipp. Die Besiedlung des kleinen Tales am Ouiatchouan River reicht bis zum Jahre 1855 zurück. Zu diesem Zeitpunkt hieß die Ansiedlung noch Charlevoix Canton und gehörte zum Verwaltungsgebiet des benachbarten Roberval.

Pionierleistung des Damase Valbert

Durchaus beeindruckende ist die ehemalige Klosterschule. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Im Jahre 1870 wurde Damase Valbert, seines Zeichens Waldpächter, auf das Potenzial des Dorfes am Rande des Ouiatchouan Rivers mit seinem 72 Meter hohen Wasserfall und den umliegenden Waldgebieten aufmerksam. Mit Hilfe von Investoren sammelte er 150.000 Dollar und gründete ein Papierwerk, die Compagnie de pulpe de Ouiatchouan, das die freigesetzte Energie des Wasserfalls für die Papierherstellung nutzte.

Im Val-Jalbert lässt sich auf besondere Art und Weise in die Vergangenheit eintauchen. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Direkt unterhalb des Wasserfalls, der übrigens 20 Meter höher als die ungleich berühmteren Niagara Fälle ist, ließ Damase Valbert ab 1901 ein Papierwerk errichten, das 1902 den Betrieb aufnahm. Zudem sorgte er für den Bau einer Eisenbahnlinie, um das produzierte Papier zu den Häfen am rund 160 Kilometer entfernt liegenden Sankt-Lorenz-Strom bringen zu können, von wo sie in alle Welt – vornehmlich jedoch nach Europa und speziell nach Frankreich – verschifft wurden. Um Arbeiter in die entlegene Region zu lotsen, ließ er zeitgleich das Dorf um attraktive Wohnhäuser erweitern.

Ein kleines Paradies

Val-Jalbert
Val-Jalbert wartet mit einigen durchaus stattlichen Häusern auf. -Foto: Karsten-Thilo Raab

Für die Arbeiter und ihre Familie war die Rahmenbedingungen fast paradiesisch. Alles war für die damalige Zeit ultramodern. Es gab Strom, fließend Wasser, eine Schule, eine Kirche und Geschäfte. Das Gros der Familien lebte in Wohnhäuser entlang der Avenue Trembley und der Rue Labrecque und genoss die kurzen Wege ins kleine Zentrum von Val-Jalbert an der Rue St-Georges und zur Arbeit im nur einen Steinwurf entfernt liegenden Papierwerk.

Es fällt nicht schwer, sich ein Bild von den Lebensbedingungen in längst vergangenen Tagen zu machen. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Die Fabrikarbeiter verdienten 23 Dollar im Monat, mussten rund acht Dollar Miete zahlen und hatten (nur) sonntags frei . Einen besonders gefährlichen Job hatten neben den Holzfällern diejenigen, die die Holzstämme aus dem Fluss oberhalb des Papierwerks fischen mussten, bevor sie den Wasserfall runterstürzten. Je nach Strömung verwandelten sich die Bäume in lebensgefährliche Geschosse, die das oft vorherrschende romantische Bild vom kanadischen Holzfäller in ein ganz anderes Licht rücken.

Schieflage während der Wirtschaftskrise

Val-Jalbert
In der einstigen Papierfabrik können Maschinen und Gerätschaften in Augenschein genommen werden. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Nach dem Tode von Damase Valbert im Jahre 1904 ging das Unternehmen in amerikanische Hände. Unter Federführung von Julien-Edouard-Alfred Dubuc steigerte die Papierfabrik ihre Produktion auf 60 Tonnen pro Tag. Gleichzeitig wuchs das Dorf weiter. Neue Straßenzüge und Wohnhäuser wurden hochgezogen. Im Jahre 1913 wurde das Dorf schließlich in Val-Jalbert umbenannt. Die Bevölkerungszahl verdoppelte sich bis 1926 von 500 auf gut 950. Die Zahl der Wohnhäuser stieg auf fast 80.

Val-Jalbert
Auch der Transport von Papierprodukten wird anschaulich aufgezeigt. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Mit der Weltwirtschaftskrise in den 1920er Jahre geriet auch die Papiermühle zusehend in finanzielle Schieflage. Die Absatzmärkte schrumpften, die Zahlungsunfähigkeit drohte, so dass zwischen Mai 1924 und Dezember 1925 die Produktion eingestellt werden musste. Mit den Québec Pulp and Paper Mills als neuer Eigentümerin wurde der Betrieb 1926 wieder aufgenommen. Doch um Mitternacht am 13. August 1927 schloss die Papiermühle für immer ihre Pforten. 200 Arbeiter verloren ihren Job und verließen mit samt ihren Familien das kleine Tal. 1930 lebten gerade einmal noch 50 Personen im Val-Jalbert. Die Kirche wurde aufgegeben, die Kloster-Schule geschlossen. Val-Jalbert war dem Verfall Preis gegeben und verfiel in eine Art Dornröschenschlaf.

Wandel zum Museumsdorf

Val-Jalbert
Ein Straßenzüge im Val-Jalbert sind (fast) originalgetreu erhalten. – Foto: Karsten-Thilo Raab

1942 ging das Areal in den Besitz der Provinz Québec über. Doch es sollte noch bis zum Jahre 1976 dauern, ehe mit der schrittweisen Wiederherstellung des Dorfes als Museum begonnen wurde. Gleichwohl finden sich noch immer einige Häuserruinen. Was aber nichts an der Tatsache ändert, dass das Museumsdorf und das hier präsentierte Stück Industriegeschichte auch so eine überaus große Anziehungskraft versprüht. Wohl auch, weil sich die kleine Industrieanlage und das Dorf hervorragend in das üppig bewaldete Tal einschmiegen.

Val-Jalbert
Blick über die Papierfabrik auf Val-Jalbert. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Einen tollen Überblick über das Val-Jalbert können sich die Interessierte übrigens etwas oberhalb des Wasserfalls verschaffen. 751 Stufen führen von der Papiermühle hinauf bis an die Stelle, wo das tosende Wasser des Ouiatchouan Rivers aus über 70 Meter Höhe ins Tal stürzt. Für Lauffaule gibt es auch einen Lift. Diese verpassen allerdings die faszinierenden Blicke auf die rauschenden Kaskaden und die Fernsicht auf den Lac Saint-Jean. Weitere Informationen unter www.valjalbert.com

Val-Jalbert
Einfach nur hübsch anzusehen sind die zahlreichen Holzhäuser. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Lage: Val-Jalbert liegt rund 80 Kilometer von Jonquière und 100 Kilometer von Chicoutimi am Highway 169 zwischen Chambord and Roberval. Bis zum südlich gelegenen Québec-City sind es 255 Kilometer, bis Montréal 475 Kilometer.

An einigen Stellen hat die Natur das Areal zurückerobert. – Foto: Karsten-Thilo Raab

Buch- und Geschenktipp: Prahlhanswissen für Gelegenheitsreisende

Reisen erweitert den Horizont und schärft den Blick für andere Länder, Kulturen und Lebensweisen. Wer reist, entdeckt immer wieder Spannendes, Faszinierendes, Kurioses, Verrücktes und Amüsantes. Vor allem Superlative und Rekordverdächtiges werden allerorts gerne mit Stolz präsentiert. Das eine oder andere bleibt im Gedächtnis, anderes ist schnell wieder vergessen. So oder so ist Reisen immer ein Stück weit vergleichen. Mal stechen Gemeinsamkeiten ins Auge, dann sind es gravierende Unterschiede zu dem, was man im heimischen Sprengel vorfindet.

Vieles von dem, was sich unterwegs entdecken lässt, sorgt später für Gesprächsstoff. Dabei gibt es Zeitgenossen, die als wandelndes Lexikon durchgehen könnten, weil sie in der Lage sind, sich noch so kleine Details und Fakten zu merken. Gerade diese Dinge sind es, die für jede Menge Gesprächsstoff und Spaß, für Staunen, Kopfschütteln und Gelächter sorgen. Und so überrascht „Prahlhanswissen für Gelegenheitsreisende“ von Mortimer-Reisemagazin-Redakteur Karsten-Thilo Raab als ein Kompendium, das nicht unbedingt im Alltag benötigtes Wissen vermittelt, gleichzeitig jedoch jede Menge Spaß garantiert.

Erhältlich ist Prahlhanswissen für Gelegenheitsreisende (ISBN 978-3-939408-47-5) von Karsten-Thilo Raab als Hardback mit 160 Seiten für 23,99 Euro im Buchhandel oder versandkostenfrei direkt beim Westflügel Verlag oder bei Amazon.

Karsten-Thilo Raab

berichtet seit mehr als drei Jahrzehnten für eine Vielzahl von Zeitungen und Magazinen über Reiseziele weltweit. Zudem hat er sich einen Namen als Autor von mehr als 120 Reise-, Wander- und Radführern sowie Bildbänden gemacht.