
Die Eisenbahnschienen sind fast komplett mit Gras überwuchert. Mitten aus den Gleisen schießen mächtige Birken hervor. Die Natur hat hier das Regiment übernommen und sich zurückgeholt, was einst ihr gehörte. Doch nicht nur entlang der früher so wichtigen Verkehrsader scheint im Val-Jalbert in der kanadischen Provinz Québec die Zeit still zu stehen. Schon die ersten Schritte auf der Rue St-Georges erinnern an eine Zeitreise in die 1920er Jahre. Linker Hand liegt der prächtige Holzbau der alten Klosterschule. Wenige Hundert Meter weiter befinden sich einige Mehrfamilienhäuser und der General Store. Ein historischer Bus tuckert mit gemächlichem Tempo die Straße entlang.

Tatsächlich war Val-Jalbert in den 1920er Jahren der Inbegriff für eine perfekte Mischung aus modernem Wohnen und einem industriellen Musterbetrieb. Heute ist das pittoreske Museumsdorf, das nur wenige Hundert Meter Luftlinie vom Lac Saint-Jean, jenem fast 46 Kilometer langen Kratersee in den laurentinischen Bergen, liegt, mehr als ein offener Geheimtipp. Die Besiedlung des kleinen Tales am Ouiatchouan River reicht bis zum Jahre 1855 zurück. Zu diesem Zeitpunkt hieß die Ansiedlung noch Charlevoix Canton und gehörte zum Verwaltungsgebiet des benachbarten Roberval.
Pionierleistung des Damase Valbert

Im Jahre 1870 wurde Damase Valbert, seines Zeichens Waldpächter, auf das Potenzial des Dorfes am Rande des Ouiatchouan Rivers mit seinem 72 Meter hohen Wasserfall und den umliegenden Waldgebieten aufmerksam. Mit Hilfe von Investoren sammelte er 150.000 Dollar und gründete ein Papierwerk, die Compagnie de pulpe de Ouiatchouan, das die freigesetzte Energie des Wasserfalls für die Papierherstellung nutzte.

Direkt unterhalb des Wasserfalls, der übrigens 20 Meter höher als die ungleich berühmteren Niagara Fälle ist, ließ Damase Valbert ab 1901 ein Papierwerk errichten, das 1902 den Betrieb aufnahm. Zudem sorgte er für den Bau einer Eisenbahnlinie, um das produzierte Papier zu den Häfen am rund 160 Kilometer entfernt liegenden Sankt-Lorenz-Strom bringen zu können, von wo sie in alle Welt – vornehmlich jedoch nach Europa und speziell nach Frankreich – verschifft wurden. Um Arbeiter in die entlegene Region zu lotsen, ließ er zeitgleich das Dorf um attraktive Wohnhäuser erweitern.
Ein kleines Paradies

Für die Arbeiter und ihre Familie war die Rahmenbedingungen fast paradiesisch. Alles war für die damalige Zeit ultramodern. Es gab Strom, fließend Wasser, eine Schule, eine Kirche und Geschäfte. Das Gros der Familien lebte in Wohnhäuser entlang der Avenue Trembley und der Rue Labrecque und genoss die kurzen Wege ins kleine Zentrum von Val-Jalbert an der Rue St-Georges und zur Arbeit im nur einen Steinwurf entfernt liegenden Papierwerk.

Die Fabrikarbeiter verdienten 23 Dollar im Monat, mussten rund acht Dollar Miete zahlen und hatten (nur) sonntags frei . Einen besonders gefährlichen Job hatten neben den Holzfällern diejenigen, die die Holzstämme aus dem Fluss oberhalb des Papierwerks fischen mussten, bevor sie den Wasserfall runterstürzten. Je nach Strömung verwandelten sich die Bäume in lebensgefährliche Geschosse, die das oft vorherrschende romantische Bild vom kanadischen Holzfäller in ein ganz anderes Licht rücken.
Schieflage während der Wirtschaftskrise

Nach dem Tode von Damase Valbert im Jahre 1904 ging das Unternehmen in amerikanische Hände. Unter Federführung von Julien-Edouard-Alfred Dubuc steigerte die Papierfabrik ihre Produktion auf 60 Tonnen pro Tag. Gleichzeitig wuchs das Dorf weiter. Neue Straßenzüge und Wohnhäuser wurden hochgezogen. Im Jahre 1913 wurde das Dorf schließlich in Val-Jalbert umbenannt. Die Bevölkerungszahl verdoppelte sich bis 1926 von 500 auf gut 950. Die Zahl der Wohnhäuser stieg auf fast 80.

Mit der Weltwirtschaftskrise in den 1920er Jahre geriet auch die Papiermühle zusehend in finanzielle Schieflage. Die Absatzmärkte schrumpften, die Zahlungsunfähigkeit drohte, so dass zwischen Mai 1924 und Dezember 1925 die Produktion eingestellt werden musste. Mit den Québec Pulp and Paper Mills als neuer Eigentümerin wurde der Betrieb 1926 wieder aufgenommen. Doch um Mitternacht am 13. August 1927 schloss die Papiermühle für immer ihre Pforten. 200 Arbeiter verloren ihren Job und verließen mit samt ihren Familien das kleine Tal. 1930 lebten gerade einmal noch 50 Personen im Val-Jalbert. Die Kirche wurde aufgegeben, die Kloster-Schule geschlossen. Val-Jalbert war dem Verfall Preis gegeben und verfiel in eine Art Dornröschenschlaf.
Wandel zum Museumsdorf

1942 ging das Areal in den Besitz der Provinz Québec über. Doch es sollte noch bis zum Jahre 1976 dauern, ehe mit der schrittweisen Wiederherstellung des Dorfes als Museum begonnen wurde. Gleichwohl finden sich noch immer einige Häuserruinen. Was aber nichts an der Tatsache ändert, dass das Museumsdorf und das hier präsentierte Stück Industriegeschichte auch so eine überaus große Anziehungskraft versprüht. Wohl auch, weil sich die kleine Industrieanlage und das Dorf hervorragend in das üppig bewaldete Tal einschmiegen.

Einen tollen Überblick über das Val-Jalbert können sich die Interessierte übrigens etwas oberhalb des Wasserfalls verschaffen. 751 Stufen führen von der Papiermühle hinauf bis an die Stelle, wo das tosende Wasser des Ouiatchouan Rivers aus über 70 Meter Höhe ins Tal stürzt. Für Lauffaule gibt es auch einen Lift. Diese verpassen allerdings die faszinierenden Blicke auf die rauschenden Kaskaden und die Fernsicht auf den Lac Saint-Jean. Weitere Informationen unter www.valjalbert.com

Lage: Val-Jalbert liegt rund 80 Kilometer von Jonquière und 100 Kilometer von Chicoutimi am Highway 169 zwischen Chambord and Roberval. Bis zum südlich gelegenen Québec-City sind es 255 Kilometer, bis Montréal 475 Kilometer.

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Karsten-Thilo Raab
berichtet seit mehr als drei Jahrzehnten für eine Vielzahl von Zeitungen und Magazinen über Reiseziele weltweit. Zudem hat er sich einen Namen als Autor von mehr als 120 Reise-, Wander- und Radführern sowie Bildbänden gemacht.