Alsunga – Herzkammer der Suiti-Kultur

Alsunga
In Alsunga werden uralte Traditionen noch heute gelebt. – Foto: Jānis Romanovskis / Gribuvasaru.lv

In einem kleinen Dorf im Westen von Lettland trotzt eine Gemeinschaft dem Vergessen: die Suiti von Alsunga. Mit ihren farbenfrohen Trachten, archaischen Gesängen und tief verwurzelten katholischen Ritualen bewahren sie eine Kultur, die weltweit einzigartig ist – und doch vom Verschwinden bedroht.

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Viel und oft musizieren die Suiti gemeinsam. – Foto: Jānis Romanovskis / Gribuvasaru.lv

Im beschaulich großen Alsunga lassen ein wenig die Abenteuer von Asterix und Obelix grüßen. Das 600-Seelen-Nest ist quasi „das kleine gallische Dorf“ Lettlands, aber mit mehr Gesang, ohne Druide und ohne Zaubertrank. Alsunga ist das Herz der Suiti, einer katholischen Mikro-Minderheit in einem ansonsten protestantischen Umland. Das um das Jahr 1230 erstmals urkundlich erwähnte Dorf ist ein lebendiges Kulturdenkmal, das als immaterielles Weltkulturerbe unter dem Schutz der UNESCO steht und fast den Eindruck erweckt, als sei der Alltag hier von Theaterregisseuren inszeniert.

Jahrhundertealte Tradition

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Die Suiti-Kultur wird noch heute generationsübergreifend gelebt. – Foto: Jānis Romanovskis / Gribuvasaru.lv

Die Ursprünge Suiti-Kulur reichen bis in das 17. Jahrhundert zurück, als Graf Johann Ulrich von Schwerin ausgerechnet hier, in einer protestantischen Umgebung, seine kleine Gemeinde gründete. Aus dieser Mischung entwickelte sich ein eigener Mikrokosmos mit Dialekt, Liedern, Bräuchen und Trachten, der noch immer erstaunlich ungebrochen fortbesteht.

In Alsunga herrscht ein spürbares Wir-Gefühl. – Foto: Jānis Romanovskis / Gribuvasaru.lv

Und so bestimmen heute Damen in wuchtigen Wollröcken und mit kunstvoll gebundenen Kopftüchern das Bild. Diese Frauen singen. Gerne, fast immer und häufig mehrstimmig. Selbst das Klappern der Wäsche auf der Leine klingt hier nach polyphonem Volkslied. Jede Strophe kann zum Kommentarkanal werden: mal neckisch, mal melancholisch, aber immer mit einer Prise Selbstironie.

Singen gegen das Vergessen

Der Gesang ist ein wichtiger Bestandteil im Leben der Suiti. – Foto: Jānis Romanovskis / Gribuvasaru.lv

Auf einer Bank im Herzen von Alsunga sitzt eine hochbetagte Dame mit Kopftuch und gefalteten Händen. Ohne aufzusehen, spricht sie den entlarvenden Satz: „Du bist also einer von denen, die gucken kommen.“

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Mit viel Hingabe werden Trachten gefertigt. – Foto: Jānis Romanovskis / Gribuvasaru.lv

Ein wenig Verlegenheit, gepaart mit dem Gefühl, ertappt worden zu sein, macht sich breit, und sie klopft auf ein Stück Bank neben sich. „Setz dich. Ich sing dir was vor, damit du nicht vergisst, wo du warst.“

Ungewöhnliche Lebensgemeinschaft

Gemeinsames Nähen und Werkeln ist ebenfalls häufig an der Tagesordnung. – Foto: Jānis Romanovskis / Gribuvasaru.lv

Und dann tut sie es. Ohne weitere Vorwarnung, ohne Aufwärmen, stimmt sie kraftvoll einen Suiti-Liedgesang an. Quasi ein musikalischer Zauberspruch gegen das Vergessen. „Das singen wir, wenn einer heiratet. Oder wenn einer geht. Oder wenn der Schnaps alle ist“, lacht sie und zieht eine kleine Flasche aus ihrer Strickjacke. „Willst du kosten? Ist selbstgemacht – aus Johannisbeeren.“

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In der Küche werden traditionelle Rezepte verwendet. – Foto: Jānis Romanovskis / Gribuvasaru.lv

Ein Angebot, das schon aus Höflichkeit nicht ausgeschlagen werden kann. Einen kurzen Schluck später nimmt sie die Flasche zurück, steht auf, zieht ihren Rock glatt und geht ohne ein weiteres Wort davon – langsam, aber mit der Würde einer Dame, die weiß, dass ihr kleines Reich aus Liedern, einem gelegentlichen Schnäpschen und einer ganz besonderen Lebensgemeinschaft besteht.

Zukunft gesichert

Auch der Nachwuchs lebt die Suiti-Kultur und sichert so deren Fortbestand. – Foto: Jānis Romanovskis / Gribuvasaru.lv

Das Dorf selbst ist geprägt von traditionellen Holzhäusern, gepflegten Gärten und historischen Gebäuden wie der 1623 geweihten St.-Michael-Kirche oder dem Schloss Alswangen, einer Burg des Livländischen Ordens aus dem Jahr 1373.

Die weiten Röcke sind ein Markenzeichen der Suiti. – Foto: Jānis Romanovskis / Gribuvasaru.lv

Links und rechts der Hauptachsen finden sich geschotterte oder unbefestigte Straßenzüge. Und in all den Gassen und Wegverbindungen erklingen immer wieder Suiti-Lieder und unterstreichen, dass in dieser parallelen Welt, Vergangenheit und Gegenwart Arm in Arm durch Alsunga ziehen.

Traditionelle Musikinstrumente kommen gerne zum Einsatz. – Foto: Jānis Romanovskis / Gribuvasaru.lv

Informationen: www.latvia.travel/de, www.visitkuldiga.com und www.facebook.com/WelcomeToAlsunga

Der Besuch von Alsunga kommt einer faszinierenden Zeitreise gleich. – Foto: Jānis Romanovskis / Gribuvasaru.lv

Karsten-Thilo Raab

berichtet seit mehr als drei Jahrzehnten für eine Vielzahl von Zeitungen und Magazinen über Reiseziele weltweit. Zudem hat er sich einen Namen als Autor von mehr als 120 Reise-, Wander- und Radführern sowie Bildbänden gemacht.