
In einem kleinen Dorf im Westen von Lettland trotzt eine Gemeinschaft dem Vergessen: die Suiti von Alsunga. Mit ihren farbenfrohen Trachten, archaischen Gesängen und tief verwurzelten katholischen Ritualen bewahren sie eine Kultur, die weltweit einzigartig ist – und doch vom Verschwinden bedroht.

Im beschaulich großen Alsunga lassen ein wenig die Abenteuer von Asterix und Obelix grüßen. Das 600-Seelen-Nest ist quasi „das kleine gallische Dorf“ Lettlands, aber mit mehr Gesang, ohne Druide und ohne Zaubertrank. Alsunga ist das Herz der Suiti, einer katholischen Mikro-Minderheit in einem ansonsten protestantischen Umland. Das um das Jahr 1230 erstmals urkundlich erwähnte Dorf ist ein lebendiges Kulturdenkmal, das als immaterielles Weltkulturerbe unter dem Schutz der UNESCO steht und fast den Eindruck erweckt, als sei der Alltag hier von Theaterregisseuren inszeniert.
Jahrhundertealte Tradition

Die Ursprünge Suiti-Kulur reichen bis in das 17. Jahrhundert zurück, als Graf Johann Ulrich von Schwerin ausgerechnet hier, in einer protestantischen Umgebung, seine kleine Gemeinde gründete. Aus dieser Mischung entwickelte sich ein eigener Mikrokosmos mit Dialekt, Liedern, Bräuchen und Trachten, der noch immer erstaunlich ungebrochen fortbesteht.

Und so bestimmen heute Damen in wuchtigen Wollröcken und mit kunstvoll gebundenen Kopftüchern das Bild. Diese Frauen singen. Gerne, fast immer und häufig mehrstimmig. Selbst das Klappern der Wäsche auf der Leine klingt hier nach polyphonem Volkslied. Jede Strophe kann zum Kommentarkanal werden: mal neckisch, mal melancholisch, aber immer mit einer Prise Selbstironie.
Singen gegen das Vergessen

Auf einer Bank im Herzen von Alsunga sitzt eine hochbetagte Dame mit Kopftuch und gefalteten Händen. Ohne aufzusehen, spricht sie den entlarvenden Satz: „Du bist also einer von denen, die gucken kommen.“

Ein wenig Verlegenheit, gepaart mit dem Gefühl, ertappt worden zu sein, macht sich breit, und sie klopft auf ein Stück Bank neben sich. „Setz dich. Ich sing dir was vor, damit du nicht vergisst, wo du warst.“
Ungewöhnliche Lebensgemeinschaft

Und dann tut sie es. Ohne weitere Vorwarnung, ohne Aufwärmen, stimmt sie kraftvoll einen Suiti-Liedgesang an. Quasi ein musikalischer Zauberspruch gegen das Vergessen. „Das singen wir, wenn einer heiratet. Oder wenn einer geht. Oder wenn der Schnaps alle ist“, lacht sie und zieht eine kleine Flasche aus ihrer Strickjacke. „Willst du kosten? Ist selbstgemacht – aus Johannisbeeren.“

Ein Angebot, das schon aus Höflichkeit nicht ausgeschlagen werden kann. Einen kurzen Schluck später nimmt sie die Flasche zurück, steht auf, zieht ihren Rock glatt und geht ohne ein weiteres Wort davon – langsam, aber mit der Würde einer Dame, die weiß, dass ihr kleines Reich aus Liedern, einem gelegentlichen Schnäpschen und einer ganz besonderen Lebensgemeinschaft besteht.
Zukunft gesichert

Das Dorf selbst ist geprägt von traditionellen Holzhäusern, gepflegten Gärten und historischen Gebäuden wie der 1623 geweihten St.-Michael-Kirche oder dem Schloss Alswangen, einer Burg des Livländischen Ordens aus dem Jahr 1373.

Links und rechts der Hauptachsen finden sich geschotterte oder unbefestigte Straßenzüge. Und in all den Gassen und Wegverbindungen erklingen immer wieder Suiti-Lieder und unterstreichen, dass in dieser parallelen Welt, Vergangenheit und Gegenwart Arm in Arm durch Alsunga ziehen.

Informationen: www.latvia.travel/de, www.visitkuldiga.com und www.facebook.com/WelcomeToAlsunga

Karsten-Thilo Raab
berichtet seit mehr als drei Jahrzehnten für eine Vielzahl von Zeitungen und Magazinen über Reiseziele weltweit. Zudem hat er sich einen Namen als Autor von mehr als 120 Reise-, Wander- und Radführern sowie Bildbänden gemacht.