Es muss ja nicht unbedingt ein Sommertrip von Biarritz nach Brest sein – auch in der kalten Jahreszeit und auf kurzer Strecke hat die französische Atlantikküste viel zu bieten: Vom außergewöhnlichen Erlebnismuseum über Filmschauplätze bis hin zur Bäderarchitektur. Ganz zu schweigen von den herrlich leeren Stränden.
Fast hat man den Eindruck, als befände man sich tatsächlich auf dem Promenadendeck eines Ozeanriesen mitten auf dem Atlantik. Gegen die Reling gelehnt erlebt man einen spektakulären Sonnenaufgang, sieht Delfine rasant vorbeihuschen und Schiffe am Horizont verschwinden, bevor man sich mitten in einem heftigen Sturm mit meterhohen Wellen, Donner und Blitz befindet. Die Videoprojektion ist genial. Wie alles im Escal’Atlantic, wo man in die Welt der Transatlantikliner aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eintaucht und man mittels multimedialer Darstellungen in die Fußstapfen der Reisenden von damals tritt. Das Erlebnismuseum befindet sich ein einem überdimensionalen U-Boot-Bunker am Hafen, den die deutsche Kriegsmarine 1940/41 in Saint-Nazaire bauen ließ und der nach dem Zweiten Weltkrieg als Lost Place jahrzehntelang vor sich hindümpelte, bevor er Mitte der 1990er Jahre zu einem Standort für Kultur umgebaut wurde.
Dass in einem Teil des Bunkers ein Museum entstand, in dem sich alles um legendäre Ozeandampfer dreht, ist der Tatsache zu verdanken, dass in der nahen Werft Chantiers de l’Atlantique seit den 1860er Jahren Passagierschiffe gebaut werden. Bis heute gehört sie zu den größten Schiffbauunternehmen der Welt. Ihr Vorzeigeschiff schlechthin war der Luxusliner Normandie, der im Mai 1935 seine Jungfernfahrt von Le Havre nach New York antrat. Der Ozeanriese war damals das größte und eleganteste Passagierschiff der Welt, ein schwimmender Palast, auf dem sich die internationale Crème de la Crème tummelte. Auf drei Ebenen und 3.500 Quadratmetern lässt sich im Escal’Atlantic anhand von Rekonstruktionen und Originalgegenständen von der Normandie und anderen Ozeandampfern das damalige Reisen nachempfinden – von der luxuriösen ersten Klasse bis zum engen Zwischendeck der Emigranten. Hat man genug vom Leben an Bord, kann man sich in einem Rettungsboot vom Luxusliner Richtung Ausgang abseilen lassen und bekommt dabei eine leise Ahnung dafür wie es ist, auf einer Kreuzfahrt im Fall der Fälle tatsächlich in ein solches Boot evakuiert zu werden.
Legendärer Filmstrand an der Atlantikküste
Saint-Nazaire verfügt über 20 Strände. Einer davon liegt im Stadtteil Saint-Marc sur Mer und ist in die Filmgeschichte eingegangen. Der Regisseur und Komiker Jacques Tati wählte den Strand und das angrenzende Hotel de la Plage im Sommer 1951 als Kulisse für seinen Film „Les vacances de Monsiuer Hulot“ (Die Ferien des Monsieur Hulot), eine Slapstick-Komödie, die auf charmante Weise die Eigenheiten von Strandurlaubern persifliert.
Die Bemühungen des schlaksigen Junggesellen, unter den Hotelgästen Gesellschaft zu finden, rufen jede Menge Chaos und unbeabsichtigte Missgeschicke hervor. Die Rolle seines tollpatschigen Filmhelden übernahm Tati selbst. Als die Schwarzweißkomödie 1953 in die französischen und zwei Jahre später in die deutschen Kinos kam, avancierte sie binnen kurzer Zeit zum Kultfilm. Seit 1999 steht der zeitlos herrliche Monsieur Hulot in Bronze gegossen auf einer Aussichtsplattform über dem Strand, die dem Sonnendeck eines Ozeanliners nachempfunden ist.
Unverwechselbar mit Hut, Hochwasserhosen und die Hände in den Rücken gestemmt, schaut er leicht nach vorn gebeugt auf den winterlich leeren Sandstrand und die schwarzen Felsen, die ins Meer ragen, hinunter. Zwischen seinen Zähnen steckt das Überbleibsel seiner obligatorischen Pfeife, die Souvenirjägern zum Opfer fiel. Zeitgleich mit der Enthüllung der Statue wurde der Strand offiziell in „Plage de Monsieur Hulot“ umbenannt. Das Hotel de la Plage gibt es in leicht veränderter Form immer noch, wird vor dem Namen jedoch durch „Best Western“ ergänzt.
Juwel der Bäderarchitektur
Keine 20 Autominuten nordwestlich von Saint-Nazaire glänzt der Badeort La Baule mit zahlreichen architektonischen Highlights an der Atlantikküste. Art Déco, Belle Epoque, Regionalstil, hier und da baskische Einflüsse – der einzigartige bauliche Stilmix der mondänen Villen mit ihren aufwendigen Fassaden, Holzverzierungen, Giebeln und Türmchen in allen Farben und Schattierungen erinnert an die Zeit, in der Seebäder in Mode kamen und es für die Hautevolee zum guten Ton gehörte, die Sommerfrische in der eigenen Villa am Meer zu verbringen.
Wer sich den Bau einer Sommerresidenz nicht leisten konnte oder wollte, logierte in den pompösen Luxushotels Le Royal oder L’Hermitage entlang der Strandpromenade. Die Villen, die im Herbst und Winter unbewohnt sind, wetteifern mit Fantasie und Schönheit, kein Haus gleicht dem anderen, und bei einem Spaziergang durch das Städtchen gibt es viel zu gucken und zu staunen. Ende der 1850er Jahre gab es hier nicht viel mehr als Dünen, Pinien und eine Eisenbahnhaltestelle namens „La Bôle“. Als dort ab 1880 das Seebad entstand, wurde die Schreibweise zu „La Baule“ und der Ort neben Biarritz zum bekanntesten Badeort an der Atlantikküste. Der sieben Kilometer lange Sandstrand zählt zu den schönsten Stränden in Europa – noch schöner ist er im Spätherbst und Winter, wenn man ihn fast für sich alleine hat.
Fleur de Sel – weißes Gold
Zwischen den Stränden von La Baule und dem Naturschutzgebiet Grande Brière liegt acht Kilometer weiter Richtung Nordwesten die alte Salzstadt Guérande auf der gleichnamigen Halbinsel. Einst bretonisch, gehört sie heute zum Département Loire-Atlantique. Hingucker ist die mittelalterliche Stadtmauer, die sich über eine Länge von fast eineinhalb Kilometern erstreckt.
Ein Spaziergang auf den Festungsmauern in fünf Metern Höhe garantiert einen grandiosen Blick weit über die Altstadt mit ihren engen Gassen und kleinen Plätzen hinaus. Bei klarer Sicht bis zu den Salzgärten von Guérande, ein Labyrinth aus Kanälen und glitzernden Salzwasserbecken, das mehr als 2.000 Hektar der Halbinsel bedeckt. Seit rund 1.000 Jahren wird hier Salz gewonnen, was der Stadt einst großen Reichtum bescherte. Die Arbeit der Salzbauern hat sich bis heute kaum verändert. Im kleinen Ort Mesquer bestellt Nicolas Arnould seit 30 Jahren seine Salinenbecken. Der frühere Techniker, der mit einer Deutschen verheiratet ist und fast akzentfrei kurpfälzischen Dialekt spricht, lebte acht Jahre lang in Heidelberg, bevor es ihn Anfang der Neunziger nach Guérande verschlug, wo ihn die uralte Salinentechnik so faszinierte, dass er sich zum „Paludier“ (Salzbauer) ausbilden ließ.
Die Salinenfelder mit ihren schmalen Stegen und den Becken, in denen das Meerwasser mit Hilfe der Sonne verdunstet, sind aus empfindlichem Lehm gebaut. Durch die schrittweise Verdunstung erhöht sich der Salzgehalt des Wassers von 34 bis 36 Gramm pro Liter auf 300 Gramm pro Liter. Ab diesem Punkt kristallisiert das Salz und Arnould kann es als Fleur de Sel mit einem Holzschieber von der Wasseroberfläche abschöpfen oder als Meersalz vom lehmigen Boden schaben. Die „Salzblume“ Fleur de Sel gehört zu den edelsten und teuersten Salzsorten. Im Winter überfluten die Salzbauern ihre Salinen, um sie vor Witterungseinflüssen zu schützen. Von Mai bis Oktober führt Nicolas Arnould Neugierige durch seine Salinen und erklärt und demonstriert die Gewinnung von Meersalz.
Atlantik-Oase Île de Noirmoutier
Knapp 85 Kilometer südlich von Guérande führt bei Fromentine eine 600 Meter lange Brücke zur langgestreckten Insel Noirmoutier. Abenteuerlicher ist die Fahrt über die 4,2 Kilometer lange Passage du Gois bei Beauvoir-sur-Mer mitten durchs Wattenmeer. Sie kann allerdings nur bei Ebbe befahren werden, denn bei Flut steht sie vollkommen unter Wasser. Wie schnell die Flut heranrauscht, wird von vielen oft unterschätzt – ein Blick auf die Gezeitentabelle vor der Fahrt ist ein Muss. Fans der Autorin Nele Neuhaus kennen Noirmoutier aus dem spannenden Kriminalroman „In ewiger Freundschaft“, der mit den Worten „… ich bin verliebt! Verliebt in diese zauberhafte Insel!“ auf dem Eiland seinen Anfang nimmt.
Sich in die Insel zu verlieben ist nicht schwer, es genügt ein Spaziergang durch den Bois de la Chaise. In dem Wäldchen voller knorriger Steineichen, Strandkiefern, Erdbeerbäumen und Mimosen stehen Villen aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert, eine prächtiger als die andere. Dass wohlhabende Bürger aus Nantes, Tours und Paris die Insel für sich entdeckten, ist teilweise Auguste Renoir zu verdanken. Der Impressionist, schon zu Lebzeiten ein Malerstar, kam 1892 nach Noirmoutier, nannte den Ort „wunderschön wie der Süden mit einem Meer, das viel schöner als das Mittelmeer ist“ und verewigte den Bois de la Chaise auf zwei Gemälden. An das Wäldchen grenzt der feinsandige „Damenstrand“ Plage des Dames mit weißen Umkleidehäuschen aus der Frühzeit des Badetourismus. Versteckt vor neugierigen Blicken konnten sich vornehme Damen in den Kabinen ihrer langen Röcke entledigen und in Badekleider schlüpfen. Die Häuschen befinden sich in Privatbesitz und werden von Generation zu Generation weitervererbt – der beliebigen Strandbesucherin bleiben sie verschlossen.
Einen Katzensprung entfernt ragt an der kleinen Bucht l’Anse Rouge ein imposanter Holzpier weit ins Meer hinein. Nicht viel anders wird es hier zu Zeiten Renoirs ausgesehen haben.
Beliebter Filmschauplatz
Mit einem über 80 Kilometer langen Radwegenetz lässt sich die kleine Atlantikinsel zu jeder Jahreszeit hervorragend auf zwei Rädern erkunden. Das Auto kann getrost auf dem Parkplatz stehenbleiben, Rad- und E-Bike-Verleihe gibt es fast an jeder Ecke. Zehn Radelminuten von der Plage des Dames entfernt liegt das Dörfchen Le Vieil, das mit seinen schneeweißen Häusern mit den hellblauen Fensterläden einem Postkartenidyll ähnelt. Das Dorf samt Strand Plage de Mardi-Gras war 1972 einer der Drehorte für das Drama „César und Rosalie“ mit Romy Schneider.
In dem weiß getünchten Strandhaus neben den Booten soll die Schauspielerin während der Dreharbeiten gewohnt haben. Die 49 Quadratkilometer große Insel war in den vergangenen Jahren immer wieder Filmschauplatz. Zuletzt 2022 für das romantische Drama „La Passagère“ das im September 2023 unter dem Titel „Wild wie das Meer“ in die Kinos kam.
Informationen: www.saint-nazaire-tourisme.de und www.ile-noirmoutier.com
Übernachtungstipps: Saint Nazaire: Hôtel de la Plage, 37, rue du Commandant Charcot, Saint-Marc-sur-Mer, www.hotel-de-la-plage-44.com
Île de Noirmoutier: Hôtel/Résidence la Chaize, 23 Av. De la Victoire, Noirmoutier-en-l’Île, www.hotel-noirmoutier.com
Die Recherche fand auf Einladung/mit Unterstützung von Tourisme Loire-Atlantique statt.
Cornelia Lohs
Die Journalistin und Reisebuchautorin lebt und schreibt in ihrer Heimatstadt Heidelberg, wenn sie nicht gerade irgendwo in der Welt unterwegs ist. Und das ist sie an über 100 Tagen im Jahr. Besonders angetan haben es ihr die nordischen Länder, Irland, Nord- und Lateinamerika.