Es gibt Regionen und Städte, die trotz aller Reize nur wenig bekannt sind. Zu diesen weitgehend unbeachteten Stücken Europas zählt fraglos das Hennegau. Die französischsprachige Provinz im Südwesten Belgiens fristet ein wenig ein Mauerblümchendasein, obwohl dieser Teil der Wallonie fraglos anderes verdient hätte. Die einstige Montanregion hat vergleichbar dem Ruhrgebiet einen gewaltigen Strukturwandel durchlebt. Längst bestimmen weder Zechen noch qualmende Schornsteine das Landschaftsbild.
Stattdessen kann Hainut, so der französische Name für das Hennegau, mit ganz besonderen Pfunden wuchern: Nicht weniger als 20 Bauwerke, Einrichtungen und Landstriche sowie Traditionen und Gebräuche stehen als Welterbe unter dem Schutz der UNESCO. Dazu zählen etwa die Belfriede von Mons, Thuin und Tournai, das Feuerstein-Bergwerk in Spiennes, die Kathedrale von Tournai sowie die vier hydraulischen Schiffshebewerke am Canal du Centre.
Letzterer dient seit weit mehr als 200 Jahren als einer der wichtigsten europäischen Wasserwege und als Lebensader des Hennegaus. In Strépy-Thieu ragt direkt am Canal du Centre ein gigantischer Betonklotz gen Himmel. Wie ein gestrandetes Raumschiff wirkt das Schiffshebewerk unweit der Provinzhauptstadt Mons – und doch ist das monumentale Bauwerk der Stolz einer ganzen Region. Eine technische Meisterleistung, mit deren Hilfe Binnenschiffe auf der Fahrt durch die Wallonie nicht nur mehr als vier Stunden Zeit sparen, sondern auch binnen knapp sieben Minuten einen Höhenunterschied von sage und schreibe 73 Metern überwinden können. Die beiden Tröge an den Seiten des so genannten Senkrecht-Doppel-Hebewerkes wiegen jeweils 8.000 Tonnen, sind 112 Meter lang, zwölf Meter breit und acht Meter tief. Jeder Trog hängt an 144 Stahlseilen und kann Schiffe mit einem Volumen von bis zu 1.350 Tonnen heben.
Von Strépy-Thieu aus sollte unbedingt eine Bootsfahrt über den historischen und in Teilen parallel verlaufenden Canal du Centre historique unternommen werden. Allein das Abbiegen in die gerade einmal 5,20 Meter breite Verbindungsschleuse, die Ecluse de Thieu, kommt einem Miniabenteuer gleich. Mit dem 5,05 Meter breiten Schiff erfordert das Manövrieren Millimeterarbeit. Ohne ein ruhiges Händchen am Ruder und jeder Menge Zielwasser seitens des Kapitäns wäre dies ein unmögliches Unterfangen.
Gesäumt wird die Strecke über den historischen Teil der Wasserstraße von zwei Schiffshebewerke, die als wahre Technikwunder Teil des Weltkulturerbes sind. Die Hydraulikvorrichtung der beiden hoch aufragenden Eisenkonstruktionen ermöglicht den Schiffen jeweils einen Höhenunterschied von 17 Metern zu bewältigen. Dazu fahren die Schiffe in badenwannen-ähnliche Tröge ein. Mit Hilfe des Gegengewichts, das allein durch den Zu- beziehungsweise Abfluss des Kanalwassers gesteuert wird, senken sich die Schiffe ganz langsam in die tiefer bzw. je nach Fahrtrichtung höher liegende Ebene.
Längst wird das beeindruckende Weltkulturerbe ausschließlich für touristische Zwecke in Anspruch genommen. Dies liegt auch darin begründet, dass die Traglast der historischen Schiffshebewerke mit maximal 300 Tonnen pro Trog um mehr als das Vierfache geringer ist als im nahe gelegenen Strépy-Thieu.
Eine Schwierigkeit bestand in längst vergangenen Zeiten für die Kanalbauen darin, dass auf dem sieben Kilometern langen Abschnitt zwischen Thieu und Houdeng-Goegnies ein Höhenunterschied von rund 68 Metern überwunden werden musste, was mit der Errichtung einzelner Schleusen nicht zu bewältigen gewesen wäre. So wurde beschlossen, nach englischem Vorbild auf dem Streckenabschnitt gleich vier Schiffshebewerke zu errichten, die allein mit Wasserkraft betrieben werden konnten. Die eindrucksvollen Eisenkonstruktionen wurden in Houdeng-Goegnies, Houdeng-Aimeries, Bracquegnies und Thieu errichtet. Jede einzelne überwindet einen Höhenunterschied von rund 17 Metern, und so konnten die Schiffe den Höhenunterschied der Passage überwinden, wofür sie im Mittel gut fünf Stunden benötigten.
Nur wenige Kilometer vom Canal du Centre historique entfernt wartet die beschauliche Provinzhauptstadt Mons mit einem weiteren Teil des Weltkulturerbes auf. Der dortige Belfried wurde 1999 von der UNESCO in diesen Status erhoben. Mit seinen 87 Metern Höhe ist der 1669 fertig gestellte Turm weithin sichtbar und markiert zugleich den höchsten Punkt der Universitätsstadt. Neben seinen 49 Glocken kennzeichnet das Bauwerk die eher außergewöhnliche Form, die Schriftsteller Victor Hugo mit einer „enormen Kaffeekanne, die unterhalb des Bauches von vier kleineren Teekannen flankiert ist“ verglich.
Aber auch sonst lädt Mons, das seit 1967 Sitz des europäischen Hauptquartiers der NATO ist, mit einigen beeindruckenden Bauwerken, insbesondere rund um den historischen Marktplatz, den Grand Place, zu einer kurzweiligen Entdeckungsreise ein. So befindet sich an der Fassade des prächtigen gotischen Rathaus von 1458 ein kleiner, auf den ersten Blick eher unscheinbarer Affe. Das schmiedeeiserne Tier stammt aus dem Mittelalter und könnte als Kinderpranger gedient haben. Noch heute wird dem Affen magische Kraft nachgesagt. Wer seinen Kopf mit der linken Hand streichelt, dem ist, so der populäre Glaube, Glücksgöttin Fortuna gut gesonnen.
Noch größer ist die Verehrung für die Heilige Waltrudis. Die Schutzpatronin gründete im 7. Jahrhundert eine kleine Glaubensgemeinschaft. Diese Gemeinde war es auch, die 1449 entschied, der „Stifterin“ ein prächtiges Gotteshaus zu widmen. Noch im gleichen Jahr begannen die Bauarbeiten für die heutige Stiftskirche Sainte-Waudru, die sich insgesamt über 236 (!) Jahre hinzogen. Im Inneren des Wahrzeichens von Mons ist neben dem vergoldeten Reliquienschrein der Heiligen und herrlichen Arbeiten des Bildhauers Jacques du Broeucq (1505-1584) eine weitere Besonderheit zu finden: der Goldene Wagen.
Die reichhaltig verzierte Kutsche aus dem Jahre 1781 kommt noch immer einmal pro Jahr zum Einsatz, wenn zu Ehren der Schutzheiligen am Dreifaltigkeitssonntag der Reliquienschrein der Waltrudis in einer feierlichen Prozession auf dem vier Tonnen schweren „Cart d´or“ durch die Stadt gefahren wird. Der Legende nach muss die von sechs Pferden gezogene Kutsche am Ende des Festzuges die steile Auffahrt an der Stiftskirche in einem Schwung bewältigen, sonst widerfährt der Stadt ein Unglück. Tatkräftig sorgen die Bürger von Mons daher seit Urzeiten dafür, dass die Räder nicht ins Stocken geraten und schieben sicherheitshalber mit vereinten Kräften.
Nur wenige Kilometer außerhalb von Mons zieht mit Grand Hornu eine ehemaliger Kohleindustriekomplex aus der Zeit der Industriellen Revolution die Besucher in seinen Bann. Das zwischen 1810 und 1830 von Industriemagnat Henri Degorge errichtet Ensemble im neoklassischen Stil umfasst 450 Häuser, die sich um die 1945 stillgelegt Zeche gruppieren. Allerdings ist die Geschichte der Anlage auf den ersten Blick kaum zu erahnen. Denn das Betriebsgelände mit seinem ovalen Hauptgebäuden gemahnt eher an eine gigantische Sportarena oder ein Freilufttheater als an einen der wichtigsten Kohleförderplätze Belgiens. Hier wurde 1830 auch die erste private Eisenbahn des Landes in Betrieb genommen. Sie verband die Kohlengruben mit dem Canal du Centre. Fast müßig zu erwähnen, dass Grand Hornu ebenfalls auf der Liste des Welterbes steht. Denn damit ist das Henngau reich gesegnet.
Informationen: www.belgien-tourismus-wallonie.de;
Anreise: Das Hennegau liegt im westlichen Teil der Wallonie unweit der französischen Grenze und kann bequem mit dem Thalys erreicht werden. Der Schnellzug verbindet Köln, Düsseldorf, Duisburg, Essen und Dortmund mit Brüssel. Von Brüssel geht es dann mit dem Intercity nach Mons.
Essen & Trinken: Cantine des Italiens, Rue Tout-Y-Faut 90, 7110 Houdeng-Goegnies. Italienische Küche wird in den ehemaligen Behausungen der italienischen Gastarbeiter geboten.
Ces Belges & Vous, Grand Place 30, 7000 Mons. Neben klassischer belgischer Küche kommen auch belgische Bier (die Braukunst ist ebenfalls Welterbe) auf den Tisch.
Unterkunft: Martin’s Dream Hotel Mons, Rue de la Grande Triperie 17, 7000 Mons, www.martinshotels.com. Moderne Boutique-Hotel in einer umgebauten Kirche wenige Gehminuten vom Grand Place.
Karsten-Thilo Raab
berichtet seit mehr als drei Jahrzehnten für eine Vielzahl von Zeitungen und Magazinen über Reiseziele weltweit. Zudem hat er sich einen Namen als Autor von mehr als 120 Reise-, Wander- und Radführern sowie Bildbänden gemacht.