Schon wieder abgehoben. Für einen Bruchteil von Sekunden scheinen alle über der dünn gepolsterten Sitzbank auf der Ladefläche des Geländewagens zu schweben. Dann drückt sich der Rücken wieder in den dünnen Schaumstoff, bis die nächste Bodenwelle wieder für unfreiwilligen Schüttelspaß sorgt. Wie schnell der Pick-up durch die nächtliche Wüste saust, vermag niemand zu sagen. Die Geschwindigkeitsanzeige lässt sich durch die Scheibe hinter dem Fahrersitz partout nicht erkennen, zumal das Gefährt ohne Licht über die Sandpisten und Dünen rauscht.
Das Funkeln der Sterne und der satte Vollmond verleihen dabei den bizarren Gesteinsformationen des Wadi Rums etwas Gespenstiges. Und doch strahlt die riesige Wüste im Süden Jordaniens etwas Beruhigendes aus. Nach einer halben Ewigkeit taucht am Horizont ein mächtiger Felsen auf, an dessen Fuße ein Feuer flackert. Hier, in der Mitte vom Nichts, wartet das Nachtlager. Kreisförmig sind hier einige Beduinenzelte aufgeschlagen. Im Größten brennen ein paar Gaslampen, während ein Feuer für wohlige Wärme sorgt. Darum herum sind einladende Kissen gruppiert.
„Willkommen in Jordanisch-Sibirien“, flachsen Ahmed Hassein und Mohammed Ibrahim angesichts der schnell sinkenden Temperaturen. Tagsüber klettert die Quecksilbersäule im Wadi Rum selbst während der Wintermonate locker auf angenehme 20, 25 Grad. Nachts nähern sich die Temperaturen dann mit Riesenschritten der Nullgradgrenze. Als Willkommensgruß reichen Ahmed und Mohammed einen schwarzen Tee, in dem einige Pfefferminzblätter schwimmen.
An der Rückseite des Zeltes haben die beiden Wüstensöhne mit arabischer Gastfreundschaft ein üppiges Büffet aufgebaut. Traditionelle Vorspeisen, Mezze in der Landessprache, wie Hummus, jene legendäre Kichererbsenpaste, Manaqeesh, mit Olivenöl und Thymian bestreute Brotstücke, Moutabbal, ein Auberginen-Mus, oder Kubbe, frittierte Kugeln aus Fleisch und Zwiebeln, warten dort.
Doch der eigentliche kulinarische Höhepunkt ist noch versteckt – ein Sandlamm. Dieses brutzelt in Alufolie gewickelt seit Stunden in einem metertiefen Erdloch im Wüstensand vor sich hin. Mit einer Schüppe buddeln Ahmed und Mohammed das köstliche Mal aus. Das Lamm ist so zart, dass es schon bei der bloßen Berührung mit der Gabel auseinanderfällt. Wie bei den alten Römern werden die Speisen weitgehend im Liegen eingenommen, bevor im Kerzenschein die Schlafzelte zugeteilt werden.
Auf dem Fußboden des Zeltinnenraums umrahmen kleine handgefertigte Teppiche das provisorische Nachtlager auf einem Holzgestell. Derweil besteht die mit Sandsäcken beschwerte Außenhaut der Zelte aus gewebtem Ziegenhaar. „Das war über Jahrhunderte das beste Material, das wir Beduinen in der Wüste finden konnten“, erläutert Ahmed Hassein angesichts der skeptischen Blicke der Gäste. „Im Winter zieht sich das Ziegenhaar bei Feuchtigkeit zusammen und wird sehr dicht. Im Sommer ist die Außenhaut eher luftig“, versucht der junge Araber, die Vorteile der Beduinenunterkunft anzupreisen.
Doch irgendwie scheint all dies eher graue Theorie. Vielleicht ist es auch einfach nicht feucht genug in diesem Wüstenabschnitt. Auf jeden Fall ist die Zeltwand voller Nähte und Löcher, durch die ein eisiger Wind pfeift und hier und da die Sterne funkeln. Selbst mit der Decke bis an die Kinnkante gezogen, lässt sich die Dauergänsehaut nicht wirklich vertreiben. Das leichte Schnarchen aus einem der Nachbarzelte trägt ebenfalls dazu, dass es nicht schwer fällt, bereits um kurz nach Fünf aufzustehen, um den spektakulären Sonnenaufgang zu beobachten.
Zentimeter für Zentimeter taucht der rot glühende Feuerball am Horizont auf und schiebt sich gen Himmel. Und mit jedem Zentimeter steigt die Temperatur ein wenig. Nun zeigt das Wadi Rum sein schönstes Gesicht. Die Sandstein- und Granitformationen schillern je nach Sonnenstand in den verschiedensten Farben. Mal sind die Steine in Rot getaucht, mal in Gelb, Orange oder Pink. Dazwischen biegen sich einige Gräser und Sträucher im Wind.
„Hier gibt es viel, viel mehr als nur Sand und Steine“, verweist Mohammed auf die Tatsache, dass im Wadi Rum mehr als 2000 Pflanzenarten zuhause sind – von roten Anemonen über Mohnblumen und roten Windröschen bis hin zur schwarzen Iris, der jordanischen Nationalblume.
„Wadi bedeutet trockenes Tal. Rum heißt so viel wie Gebiet mit vielen Gazellen“, erzählt Mohammed, während er einen mit Kardamon gewürzten Kaffee verteilt. Rund 120 Vogelarten, darunter Gänsegeier, Borsten-Raben, Habichtsadler und Fahlkauze seien hier heimisch, lässt uns der ansteckend fröhliche Jordanier wissen. Außerdem sei die Wüste der Lebensraum von Antilopen, Streifenhyänen, Schakalen, Wüstenfüchsen, Sandkatzen und Steinböcken, die allerdings überaus scheu gegenüber Menschen seien. Dies gilt nicht für die Dromedare, die hin und wieder gemächlichen Schrittes durch das Ödland watscheln. Die Höckertiere, die auch als arabische Kamele bekannt sind, gelten seit Jahrhunderten als der beste Freund des Beduinen.
„Ein besseres Tier für das entbehrungsreiche Leben in der Wüste kann man sich kaum vorstellen“, schwärmt Ahmed von dem ebenso vielseitigen wie genügsamen Lasten- und Tragetier. Sein Fleisch ist überaus schmackhaft; die fettarme Milch besonders vitaminreich. Die Haut der Wüstenschiffe dient als Rohmaterial für Gürtel, Sandalen und Taschen. Sogar die Exkremente sind nutzbar. Der Dung dient als Brennstoff und das Urin als keimfreier Wundreiniger.
„Dromedare sind geniale Wüstenfahrzeuge. Bis zum fünf Stundenkilometer schnell und mit einer Traglast von gut 200 Kilogramm“, nennt Ahmed einige „technische Details“ der Kamelart, die über ein „Tankvolumen“ von rund 130 Litern Wasser verfügt und bis zu 30 Jahren alt werden kann.
Mit den Dromedaren, aber immer häufiger auch mit Jeeps, sind auch die Mitglieder des Desert Camel Corps unterwegs. Die Wüstenpolizei, die sich aus Beduinen rekrutiert, wurde in den 1930er Jahren vom damaligen britischen Oberbefehlshaber Glubb Pascha ins Leben gerufen und hat ihr Hauptquartier in Wadi Rum. Von hier aus durchkämmen die Männern in den kakifarbenen Uniformen und den rotweißkarierten Kopftüchern, den ledernen Patronengurten, dem silbernen Dolch und altertümlichen Gewehren täglich das 7.000 Quadratmeter große Areal – immer auf der Suche nach Schmugglern aus dem nahe gelegenen Saudi-Arabien oder nach verirrten Touristen.
In der Tat ist es nicht schwer, sich im Wadi Rum zu verirren. Ohne einen einheimischen Führer sollte die Tour nicht angetreten werden. Zudem kennen die Guides die spektakulärsten Stellen. So etwa die Abschnitte, wo Lawrence von Arabien Anfang des 20. Jahrhunderts mit seinen Beduinen gegen die Türken aufmarschierte und wo der gleichnamige Hollywood-Klassiker mit Peter O’Toole in der Hauptrolle gefilmt wurde. Nicht zu vergessen sind auch die Zwillingsbrücken von Khrazza.
Die Steinbögen sind ein beliebtes Fotomotiv, aber auch ein guter Startpunkt, um einfach mal die Sanddünen herunter zu rollen. Dabei ist ein kostenloses Peeling mit Schwindeleffekt und jeder Menge Spaß garantiert. Und dies mit Langzeitwirkung. Denn noch nach Tagen finden sich trotz intensiver Dusche überall am Körper kleine Sandkörner als kleine Erinnerungsstücke an eine der prächtigsten Wüsten der Welt.
Allgemeine Informationen: www.visitjordan.com
Allgemeines: Das Königreich Jordanien liegt in Vorderasien. Nachbarländer sind im Westen Israel und die Palästinensischen Autonomiegebiete, im Norden Syrien, im Osten bzw. Süden Irak und Saudi-Arabien.
Lage: Das 7.000 Quadratkilometer große Wadi Rum liegt rund 300 Kilometer oder viereinhalb Autostunden südlich der Hauptstadt Amman. Von dort ist das Naturschutzgebiet über den Desert Highway Richtung Aqaba zu erreichen. Informationen: www.wadirum.jo
Klima: Es herrscht trockenes Mittelmeerklima mit zumeist sonnigen, wolkenlosen Tagen und kühleren Nächten bei einer Durchschnittstemperatur von 23 Grad Celsius, wobei es von Juni bis August extrem heiß werden kann.
Sprache: Landessprache ist Arabisch, aber Englisch ist ebenfalls weit verbreitet.
Uhrzeit: Der Zeitunterschied zu Deutschland beträgt plus eine Stunde.
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Karsten-Thilo Raab
berichtet seit mehr als drei Jahrzehnten für eine Vielzahl von Zeitungen und Magazinen über Reiseziele weltweit. Zudem hat er sich einen Namen als Autor von mehr als 120 Reise-, Wander- und Radführern sowie Bildbänden gemacht.