Saltaire – famoses Welterbe mit Beigeschmack

Mit Saltaire schuf Titus Salt einer Mustersiedlung sowie einen der modernsten Industriebetriebe der Welt.

Für die einen war er ein Wohltäter, für andere nichts anderes als ein raffinierter Geschäftsmann mit Ausbeutermanieren. Die Rede ist von Sir Titus Salt. Der exzentrische Textilfabrikant und Parlamentsabgeordnete erfüllte sich Mitte des 19. Jahrhunderts einen Lebenstraum, als er sechs Kilometer vor den Toren der englischen Industriemetropole Bradfords nach Plänen der Architekten Henry Lockwood und Richard Mawson eine kleine Siedlung mit Fabrikanlage und Wohnhäusern im neoklassizistischen Stil aus hellen Sandstein zwischen Gärten und Grünflächen errichten ließ.

Bei der Namensgebung selber Pate gestanden

Titus Salt war ein Mann mit Visionen, aber auch mit Profitgier. (Foto Karsten-Thilo raab)

In aller Bescheidenheit taufte er diese Fleckchen Erde in Anlehnung an seinen Namen und die Lage am River Aire in „Saltaire“. Die Straßen benannte er nach sich, seiner Frau Caroline, den elf Kindern, Queen Victoria und den beiden Architekten. Und während die Fabrik seit rund zweieinhalb Jahrzehnten Geschichte ist und heute unter anderem eine grandiose Galerie mit den Werken des in Bradford geborenen David Hockney beheimatet, wurde Saltaire im Jahre 2001 nicht von ungefähr zum Weltkulturerbe der UNESCO erhoben.

In den viktorianischen Gassen des Welterbes scheint die Zeit still zu stehen. (Foto Visit Britain)

„Saltaire ist fraglos eines der prächtigsten Industriedenkmäler in Großbritannien, auch wenn sich an der Person von Titus Salt nach wie vor die Geister scheiden“, so Keith Mulhearn. Auch der Hobbyhistoriker, Buchautor und Fremdenführer aus York ist gleichermaßen fasziniert wie schockiert vom Lebenswerk des späteren Bürgermeisters von Bradford.

Perfekte Lage am Ufer des Aire

Die Straßen von Saltaire könnten – wenn die Autos weggestellt würden – problemlos als Kulisse für einen Historienfilm herhalten. (Foto Karsten-Thilo Raab)

„Entscheidend vorangetrieben wurde die Industrialisierung im England im frühen 19. Jahrhundert durch zwei Erfindungen, die Dampfmaschine und die Eisenbahn“, verweist Keith Mulhearn auf die Tatsache, dass die zunehmende Technisierung insbesondere für Bradford, dem einstmals weltweit größten Zentrum der Textilindustrie, ganz neue Perspektiven eröffnete. 1801 lebten hier gerade einmal 6.000 Menschen. Fünf Jahrzehnte später verarbeiten 104.000 Einwohner zwei Drittel der gesamten britischen Garnproduktion.

An der Größe der Häuser ließ sich die berufliche Stellung der Bewohner ablesen. (Foto Karsten-Thilo Raab)

„Die Stadt drohte im eigenen Mief und Müll zu ersticken“, betont Keith Mulhearn, dass die die Lebenserwartung der Industriearbeiter in jenen Jahren bei kaum mehr als 30 Jahren lag. Für Titus Salt war dies einer der Gründe dafür, seine Fabrik nebst der Arbeiterunterkünften ins Grüne zu verlegen. Mitte des 19. Jahrhunderts begann er vor den Toren von Bradford mit der Realisierung seines Lebenswerkes. Der gewählte Standort am Ufer des Aire war ideal. Zum einen konnte der Wasserbedarf für die Produktion mühelos gedeckt werden, zum anderen waren die Transportwege kurz.

3.000 Arbeiter an 1.200 Webstühlen

Bei der eröffnung standen in der Textilfabrik 3.000 Menschen in Lohn und Brot.

Bereits 1853 wurde Salts Mill, eine sechsstöckige Textilfabrik in der mehr als 3.000 Beschäftigte an 1.200 Webstühlen arbeiteten, eröffnet. 1868 konnte schließlich die „New Mill“, eine weitere Fabrik auf dem Gelände zwischen dem River Aire und dem Schiffskanal von Leeds nach Liverpool, seiner Bestimmung übergeben werden. Titus Salt hatte eine der gigantischsten Textilfabriken der Welt geschaffen. Äußerlich war das monumentale Bauwerk der Kirche Santa Maria Gloriosa in Venedig nachempfunden.

Das Welterbe verfügt sogar über einen eigenen Bahnanschluss. (Foto Karsten-Thilo Raab)

20 weitere Jahre sollten ins Land gehen, ehe das Dorf mit seinen kleinen Cottages, Schulen, einem Krankenhaus, einer Kirche, einem Badehaus, einer Polizeiwache, einem Freizeitzentrum, einer Bücherei, einem Seniorenwohnheim und Geschäften fertig gestellt wurde. Jede Arbeiterfamilie erhielt ein eigenes Häuschen mit Garten. Die Türbeschläge deuteten für die Besucher schon von außen die Position der Arbeiter an.

Radikaler Antialkoholiker

In aller bescheidenheit benannte Salt nicht nur die Stadt, sondern auch eine Starße nach sich. (Foto Karsten-Thilo Raab)

„Titus Salt war ein absoluter Kontrollfreak“, urteilt Keith Mulhearn im Rückblick. Denn die Häuser der Vorarbeiter in Saltaire verfügten über eigene kleine Türme, von denen aus das ganze Dorf beobachtet und überwacht werden konnte. Titus Salt sorgte unter dem Vorwand, dass der Genuss von Alkohol der Arbeitskraft schaden und zu Unfällen in der Produktion führen könnte, dafür, dass in „seiner Stadt“ kein Pub errichtet wurde.

ein wichtiges Merkmal der Häuser waren auch die kleinen Gärten. (Foto Karsten-Thilo Raab)

„Dies hatte nichts damit zu tun, dass Salt etwa Antialkoholiker gewesen wäre, sondern weil er schlicht nicht wollte, dass sich Leute trafen, um über ihn und die Arbeit zu lästern oder gar eine Revolte zu planen“, lautet die Überzeugung von Keith Mulhearn. In dieses Bild passen auch die Verhaltensregeln, die der Stadtgründer den Bewohnern von Saltaire auferlegte. So besagte ein Paragraph des Regelwerks, dass Menschenansammlungen von mehr als acht Personen auf der Straße strikt untersagt seien.

Totale Überwachung der Arbeiterschaft

Die Lage am Wasser war eines der hauptkriterien für die Wahl des Fabrikstandortes. (Foto Karsten-Thilo Raab)

Auch die Tierhaltung war nicht erlaubt und Titus Salt nahm sich das Recht heraus, die Häuser regelmäßig zu inspizieren. Außerdem empfahl er den Bewohner, sich allmorgendlich zu waschen, mindestens aber zweimal pro Woche. Und wer montags oder donnerstags morgens ungewaschen erwischt wurde, musste eine Geldstrafe an Salt entrichten. Zudem war es untersagt, Wäsche zum Trocknen nach draußen zu hängen. Gäste durften nur mit schriftlicher Erlaubnis von Salt im Dorf übernachten.

Saltaire war ein komplette kleine Stadt mit allen notwendigen Einrichtungen. (Foto Karsten-Thilo Raab)

„Schon zu Lebzeiten war Titus Salt umstritten. Einerseits sorgte er – gemessen an der damaligen Zeit – für erstklassiges Lebensbedingungen, andererseits versuchte er als profitgieriger Geschäftsmann das Geld in den eigenen Reihen zu halten“, geht Keith Mulhearn hart mit Titus Salt ins Gericht. Zumal die Arbeiterfamilien gezwungen waren, ausschließlich in den Geschäften von Saltaire zu kaufen. Zudem mussten sie in der Kantine von Titus Salt zu Mittag essen, Schulgeld an ihn entrichten und für die Häuser Miete an ihn zahlen.

Krise in der Textilindustrie

Obwohl hier heute keine Webstühle mehr stehen, ist die Salts Mill noch immer überaus imposant. (Foto Karsten-Thilo Raab)

1876 schließlich verstarb Titus Salt im Alter von 73 Jahren. Seine Fußstapfen waren für seine Erben zu groß. Die Krise in der Textilindustrie tat ein Übriges. Die Fabrik schloss schließlich nach mehreren Eigentümerwechseln 1986 endgültig ihre Pforten. Jonathan Silver übernahm 1987 die leer stehenden Gebäude und siedelte hier mit großem Erfolg High-Tech-Unternehmen, Geschäfte, Restaurants und Kunsthändler an; aber auch die viel beachtete 1853 Gallery, die sich vornehmlich dem Leben und Werk von David Hockney widmet.

Der Pub-Name ist eine augenzwinkernde Hommage an der Antialkoholiker Titus Salt. (Foto Karsten-Thilo Raab)

Heute arbeiten wieder gut 1.000 Menschen in den Gebäuden, in denen noch immer ein starkes Stück Industriegeschichte auf Schritt und Tritt lebendig ist, zumal die Sagen und Mythen um Titus Salt nicht enden wollen. Und ein bisschen mutet es wie die Ironie des Schicksals an, dass es in Saltaire heute sogar eine florierende Kneipe gibt, deren Name „Don’t tell Titus“ eine augenzwinkernde Anspielung an den umstrittenen Stadtgründer ist.

Die textilindustrie ist verschwunden, der stolze Löwe geblieben. (Foto Karsten-Thilo Raab)

Weitere Informationen unter www.saltairevillage.info und unter www.saltsmill.org.uk.

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