Pedalbetriebene Zeitreise: Montréal mit dem Rad

Eine der vielen prachtvollen Landmarken in Montreal: der Marché Bonsecours. (Foto Karsten-Thilo Raab)
Eine der vielen prachtvollen Landmarken in Montreal: der Marché Bonsecours. (Foto Karsten-Thilo Raab)

Bruno Lajeunesse tut es von März bis Oktober fast täglich, manchmal sogar zweimal täglich. Er tut es aus Leidenschaft und mit großer Hingabe. Das Funkeln in seinen blauen Augen und die Art und Weise, wie er immer wieder ins Schwärmen gerät, lassen keinen Zweifel daran: sein ganzes Herzblut hängt an dieser Stadt. Und er zeigt seinen Mitfahrern während der dreistündigen Radtour durch Montréal, warum seine Heimatstadt für ihn der schönste Platz der Welt ist.

Das Radfahren zwischen den Wolkenkratzern der Millionenmetropole lässt sich überraschend einfach stemmen. (Foto Karsten-Thilo Raab)
Das Radfahren zwischen den Wolkenkratzern der Millionenmetropole lässt sich überraschend einfach stemmen. (Foto Karsten-Thilo Raab)

Bei der ungemein kurzweiligen Tour durch die kanadische Millionenmetropole präsentiert er nicht nur die markantesten Bauwerke, sondern zeigt sein ganz persönliches Montréal, führt zu den Stätten seiner Jugend, zu Plätzen abseits der Touristenpfade. Die Tour de Montréal ist eine pedalbetriebene Zeitreise durch die Geschichte und eine Hommage an die Olympiastadt von 1976 zugleich. Eine Tour, die neben bekannten Sehenswürdigkeiten auch das andere, das weniger touristische Leben der zweitgrößten französischsprachigen Stadt der Welt umfasst.

Startpunkt ist die Avenue du Mont Royal im Osten von Montréal, das sich rühmen kann, über stolze 350 Kilometer ausgewiesener Radwege zu verfügen. Im Zickzack führt die Route über die so genannten Green Alleys. Dahinter verbirgt sich ein dichtes Netz namenloser kleiner Gassen. Gesäumt werden diese von Bäumen, Gärten und Hinterhöfen, in denen Kohle und Holz gestapelt sind und Wäsche trocknet. Vorbei geht es an zwei- und dreigeschossigen Stadthäusern mit ebenso auffälligen wie steilen Stahltreppen an der Vorderseite. Um Innen mehr Platz zu haben, wurden die Aufgänge von den findigen Bauherren einfach nach Außen verlegt. New Orleans lässt grüßen.

Am Boulevard Saint Laurent ist die unsichtbare Grenze der Stadt erreicht. Wie weiland die Mauer in Berlin teilt die viel befahrene Verkehrsachse die Stadt in den frankophonen Osten und den Englisch geprägten Westen.

Stopp an der alt-ehrwürdigen McGill University. (Foto Karsten-Thilo Raab)
Stopp an der alt-ehrwürdigen McGill University. (Foto Karsten-Thilo Raab)

„Als Kind kamen wir nie in Kontakt mit Jugendlichen aus dem Westen. Wir trafen uns nie, man überquerte die Straße nie“, erinnert sich Bruno Lajeunesse an längst vergangene Zeiten, als in Montréal die französischsprachige Bevölkerung streng getrennt von der englischsprachigen aufwuchs und lebte. Heute ist von der unsichtbaren kulturellen Demarkationslinie nichts mehr zu spüren.

„Wer einen drei bis vier Kilometer langen Trip um die Welt unternehmen möchte, braucht nur dem Boulevard Saint Laurent zu folgen“, verweist Bruno Lajeunesse auf die Tatsache, dass entlang der wichtigen Nord-Süd-Tangente heute Menschen aus 80 Nationen zu Hause sind. Polnische Metzger sind Tür an Tür mit ukrainischen Hutmachern, brasilianische Discotheken neben japanischen Sushi-Bars und türkischen Grills zu finden.

Am Musee du Chateau Ramezay wissen auch die Historischen Gärten zu faszinieren. (Foto Karsten-Thilo Raab)
Am Musee du Chateau Ramezay wissen auch die Historischen Gärten zu faszinieren. (Foto Karsten-Thilo Raab)

Über den Campus der renommierten McGill University rollt der kleine Tross mit Bruno Lajeunesse an der Spitze gen Geschäftszentrum. Hier mischen sich viktorianische Häuser und katholische Kirchen mit weitsichtbaren Wolkenkratzern sowie postmodernen Glas- und Marmortürmen. Aber auch neoklassische Kuppeln, mächtige Reklameschilder in französischer Sprache und die obligatorischen Feuertreppen an den Rückwänden der Häuser bestimmen das Straßenbild.

Rechte Hand fällt der Blick immer wieder auf den Mont Royal. Der 233 Meter hohe Hausberg, dessen 200 Hektar großes Areal wie der New Yorker Central Park und der Golden Gate Park in San Francisco von Landschaftsarchitekt Frederick Law Olmsted gestaltet wurde, ist die Geburtsstätte Montréals. Am Fuße des kleinen Berges, der wie ein ruhender Pol aus dem Häusermeer herausragt, wurde von den Franzosen im Jahre 1642 eine Siedlung namens Ville-Marie gegründet. Biber- und Bärenfelle wurden von hier zu Kürschnern im fernen Europa verschifft und ließen das Fleckchen Erde schnell zu einem der bedeutendsten Handelsplätze Nordamerikas aufsteigen. Einen Status, den die 3,5-Millionen-Stadt am mächtigen St. Lorenz-Strom noch heute innehat.

In einer Ruelle Verte genießen Radfahrer Priorität. (Foto Karsten-Thilo Raab)
In einer Ruelle Verte genießen Radfahrer Priorität. (Foto Karsten-Thilo Raab)

„Die Einwohner von Montréal nennen ihre Stadt liebevoll „La Belle“, die Schöne. Ich finde, Montréal ist eine Stadt mit Ecken und Kanten. Nicht immer schön. Aber ungemein abwechselungsreich“, gesteht Bruno Lajeunesse freimütig mit Blick auf einige runter gekommene Häuserzeilen entlang der Haupteinkaufsstraße Rue Sainte Catherine. Das einstige Rotlichtviertel wirkt mit seinen Designerläden, Konsumtempeln, Nachtclubs und Bars wie eine Mischung aus Reeperbahn und 5th Avenue.

Entlang der Rue Sainte Catherine und ihrer Nebenstraßen, besser gesagt, unter ihnen, befindet sich auch das „Ville Souterraine“. Auf einer Länge von 33 Kilometern erschließt sich in Montréals unterirdischer Stadt ein klimaunabhängiges Einkaufsparadies mit rund 2000 Geschäften und Gastronomiebetrieben. Hinzu kommen zehn Metrostationen, zwei Bahnhöfe, neun Hotels, zwei Universitäten, ein College, 13 Kinos, drei Ausstellungshallen sowie Wohn- und Geschäftsräume von nicht weniger als 66 Häuserkomplexen, die unterirdisch miteinander verbunden sind. Im Reich des Neonlichts und der Klimaanlagen gibt es nur eines nicht: Radwege.

Das moderne Gesicht Montreals zeigt sich beispielsweise am Place des Arts. (Foto Karsten-Thilo Raab)
Das moderne Gesicht Montreals zeigt sich beispielsweise am Place des Arts. (Foto Karsten-Thilo Raab)

„Glücklicherweise, denn sonst würden uns viele der schönen Seiten von Montréal verborgen bleiben“, so Bruno Lajeunesse mit Blick auf die mehr als 700 Parks, Grünanlagen und Spielflächen im Stadtgebiet.

Und schon wird wieder kräftig in die Pedale getreten, um mit Vieux-Montréal ein ganz anderes Stück der Millionenmetropole kennen zu lernen. Die historische Altstadt zwischen Rue McGill und Rue Berri mutet mit ihrem Kopfsteinpflaster und den verwinkelten Gassen wenig fahrradfreundlich an, lädt aber mit ihren Häuserzeilen aus dem 17. und 18. Jahrhundert zu einer kleinen Zeitreise in die Geschichte der Stadt ein.

Faszinierendes Spiel der Farben am Palais de congres de Montreal. (Foto Karsten-Thilo Raab)
Faszinierendes Spiel der Farben am Palais de congres de Montreal. (Foto Karsten-Thilo Raab)

„Mark Twain soll einmal gesagt haben, hier könne man keinen Stein werfen, ohne ein Kirchenfenster zu treffen“, berichtet Bruno Lajeunesse. Und ein erster Blick durch das historische Zentrum bestätigt die Einschätzung des geistigen Vaters der Abenteuer von Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Katholische Kirchen stehen einträchtig neben anglikanischen, alt-ehrwürdige Gotteshäuser neben hochmodernen. Der markanteste sakrale Bau ist jedoch die Basilique Notre-Dame. Die neogotische Kirche aus dem Jahre 1829 gilt mit ihren 70 Meter hohen Doppeltürmen als eines der schönsten Gotteshäuser Nordamerikas.

Einen weiteren Steinwurf entfernt treffen wir ausnahmsweise nicht auf eine Kirche, sondern auf eine ehemalige Markthalle. 1847 wurde der Marche Bonsécours eröffnet. Statt der Marktschreier dominieren heute Kunst- und Kunsthandwerk den Prachtbau mit der weithin sichtbaren Silberkuppel. Vorbei am Vieux-Port, dem alten Hafen, der einer modernen Freizeitanlage weichen musste, geht es zurück an die Avenue du Mont Royal, wo insbesondere in den vielen Restaurants und Cafés das gallische Erbe deutlich zu spüren ist.

Historische Prachtbauten finden in Montreal Platz neben Wolkenkratzern. (Foto Karsten-Thilo Raab)
Historische Prachtbauten finden in Montreal Platz neben Wolkenkratzern. (Foto Karsten-Thilo Raab)

Vor allem aber befindet sich hier das Kultrestaurant St. Viateur. „Hier gibt es die besten Bagel der Welt“, schwört Bruno Lajeunesse mit einem Griff zur Speisekarte. Ob es stimmt vermag noch keiner der hungrigen Radfahrer zu beurteilen. Doch nach drei Stunden strampeln, ist dies im Moment eher zweitrangig. Auf jeden Fall aber ein schöner Abschluss unter eine kurzweilige Tour, bei der erst der Wissensdurst und dann der Hunger gestillt wird.

Allgemeine Informationenwww.tourisme-monteal.org

Radtouren: Ab 68 Kanadische Dollar bietet Guidatour geführte Touren durch Montréal an.


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